Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 15 / 11.04.2005
Igal Avidan

"Auch die dunkelste Nacht endet mit einer Morgendämmerung"

Die Feuerprobe der deutschen Demokratie

Am 12. Mai 1965 erwarteten Hunderte von Journalisten aus aller Welt auf einer Pressekonferenz in Bonn eine wichtige Mitteilung. Regierungssprecher Karl-Günther von Hase verlas eine kurze Erklärung, die in die Geschichte einging: "Die deutsche Regierung und die israelische Regierung haben sich darauf verständigt, diplomatische Beziehungen aufzunehmen." Zwei Jahrzehnte nachdem im Holocaust sechs Millionen Juden durch Deutsche ermordet wurden, war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel keineswegs selbstverständlich. Seit dem Reparationsabkommen von 1953 versuchte die Adenauer-Regierung zwar, die Bundesrepublik als einen gewandelten Staat zu präsentieren, als einen Staat, der mit dem nationalsozialistischen "Dritten Reich" nicht mehr vergleichbar war. Dabei kam der deutschen Israel-Politik eine besondere Bedeutung zu. Einige Jahre zuvor hatte der amerikanische Hochkommissar für Deutschland, John McCloy, gesagt, die Art, wie die Deutschen sich den Juden gegenüber verhalten würden, sei die Feuerprobe der deutschen Demokratie. Dieser Satz galt in Bonn in der Zeit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zum Judenstaat weiterhin. Doch es gab immer wieder Zeiten, in denen das Verhältnis zwischen den beiden Staaten angespannt war. Im Winter 1964 beispielsweise sanken die deutsch-israelischen Beziehungen auf solch ein beispielloses Tief.

Geheimdienstchef Isar Har'el legte Dokumente vor, dass deutsche Wissenschaftler bei der Entwicklung zweier neuer ägyptischer Raketen beteiligt waren, die Israel treffen konnten. Weil die Bundesregierung Israels Bitten, die Wissenschaftler nach Deutschland zurückzuholen, nicht nachging, wurde der Mossad eingeschaltet. Zwei Wissenschaftler verschwanden, andere wurden durch Bombenbriefe verletzt, einige erhielten Drohungen. Gleichzeitig war die Lage in Jerusalem angespannt, weil sich der Zeitpunkt der Verjährung von NS-Schwerverbrechen näherte. Die Morde, die in der NS-Zeit begangen worden waren, sollten laut Bundestagsbeschluss am 8. Mai 1965 verjähren. Dies löste im israelischen Parlament zahlreiche Proteste aus. (Am 25. März 1965 wurde die Verjährung zunächst auf Ende 1969 verschoben, dann auf 1979 und erst danach gänzlich aufgehoben.) Schließlich enthüllte die Presse geheime deutsche Waffenlieferungen an Israel, was sowohl in Deutschland als auch in der arabischen Welt für großen politischen Wirbel sorgte. Die Bundesregierung musste reagieren. Sie bot Ägypten, dem größten und wichtigsten arabischen Staat, an, die Lieferungen an Jerusalem einzustellen. Doch dieses Angebot, das dann auch umgesetzt wurde, konnte nicht verhindern, dass Ägyptens Präsident Nasser Ende Februar 1965 als Rache für die Waffenlieferungen an Israel den DDR-Staatschef Walter Ulbricht offiziell nach Kairo einlud. In Bonn, wo man die diplomatische Anerkennung der DDR jahrelang zu verhindern versucht hatte, war man empört und beschloss daraufhin im März 1965, Israel für die Einstellung der Waffenlieferungen finanziell zu entschädigen. Darüber hinaus bot Bundeskanzler Erhard, auch angesichts des zunehmenden politischen Drucks der USA, Israel die Aufnahme diplomatischer Beziehungen an. Nun musste Israel rasch entscheiden. Am 14. März stimmte das Kabinett nach einer vierstündigen Sitzung für die Annahme von Erhards Angebot.

Allerdings waren die Wogen im deutsch-israelischen Verhältnis damit noch längst nicht geglättet. Israel stellte Bedingungen. Die deutschen Waffenlieferungen sollten fortgesetzt werden. Bonn sollte selbst gegen die deutschen Raketenexperten in Ägypten vorgehen. Die Verjährungsfrist für NS-Kriegsverbrechen sollte endgültig aufgehoben werden, und schließlich sollte die deutsche Botschaft in Jerusalem, nicht in Tel Aviv entstehen. Deutschland lehnte die israelischen Forderungen ab, und mit der Wahl von Rolf Pauls zum ersten deutschen Botschafter verärgerte das Auswärtige Amt die Israelis noch mehr. Israel wünschte sich eine Persönlichkeit mit antifaschistischer Vergangenheit und nicht einen ehemaligen Generalstabsoffizier und Träger des Ritterkreuzes, der im Zweiten Weltkrieg einen Arm verloren hatte. "Man zwingt die Israelis, ihn zu akzeptieren - womit man nicht so sehr Bosheit dokumentiert als eine Weltfremdheit, einen Mangel an Fingerspitzengefühl und politischer Intelligenz", schrieb Amos Elon, damals einziger israelischer Korrespondent in Bonn, in seinem Buch "In einem heimgesuchten Land - Berichte aus beiden Deutschland."

Rolf Pauls war nie Mitglied der NSDAP gewesen und er war ein Berufsdiplomat mit Erfahrung in israelischen Angelegenheiten. Dennoch wusste er, wie heikel seine Israel-Mission war und er traf entsprechende Entscheidungen: "Ich habe damals mit allem Möglichen gerechnet und, um meine Familie zu sichern, eine sehr hohe Lebensversicherung abgeschlossen", erzählte er Jahre später. Seine Angst war nicht übertrieben. In einem Leitartikel hatte die liberale Tageszeitung "Haaretz" einige Jahre zuvor gefordert, keine vollwertigen diplomatischen Beziehungen mit Deutschland aufzunehmen. In einem Absatz hieß es, man könne die Sicherheit deutscher Diplomaten in Israel nicht gewährleisten. Der Chefredakteur entfernte diese Passage vor der Veröffentlichung, schickte sie an den damaligen Außenminister Moshe Sharet.

Nun aber war Golda Meir Außenministerin und musste zusammen mit Staatspräsident Zalman Shazar der Akkreditierungszeremonie für Pauls beiwohnen. "Meir war sehr emotional und konnte den emotionslosen Pragmatismus Ben Gurions bezüglich der Deutschland-Politik nicht übernehmen", schrieb Tom Segev in seinem Buch "Die Siebte Million". An jenem 19. August war die Stimmung in der Jerusalemer Residenz des Staatspräsidenten sehr angespannt. Mit ernster Miene sprach Pauls von seiner schwierigen Aufgabe. "Wenn ich bei meinen Bemühungen um die Gestaltung unserer beiderseitigen Beziehungen auf die wohlwollende Unterstützung Eurer Exzellenz und Ihrer Mitarbeiter rechnen darf, so würde dies für mich eine sehr große Ermutigung sein." Zum Schluss überreichte er seiner "Exzellenz und dem israelischen Volk" die besten Wünsche für eine glückliche und erfreuliche Zukunft. Israels Staatsoberhaupt Shazar, um Fassung ringend, blickte in die Zukunft als er sagte: "Auch die dunkelste Nacht endet mit einer Morgendämmerung."

Kurz danach trat Pauls aus dem Vorgarten der Residenz des Staatspräsidenten heraus, während eine Polizeikapelle die israelische Nationalhymne Hatikwa anstimmte. Die Klänge der Blasinstrumente wurden jedoch immer wieder von Demonstranten übertönt: "Schande!", schrien sie. "Schande!" 1.500 Demonstranten durchbrachen den Sperrring der 400 Polizisten und kamen bis an den Rand des Präsidentensitzes heran. Im Handgemenge mit der berittenen Polizei wurden Dutzende von Menschen, darunter KZ-Überlebende, zu Boden getrampelt, andere mit Schlagstöcken traktiert. Die aufgebrachte Menge schlug auf das Dach der Botschafterlimousine, Steine flogen und 16 Menschen wurden verletzt.

Einer der Demonstranten war Raul Teitelbaum, Überlebender des Konzentrationslagers Bergen-Belsen und Jahrzehnte später israelischer Korrespondent in Bonn. Für ihn war die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen "eine riesengroße Provokation" gewesen, "als ob man einen Juden dazu zwingen würde, Schweinefleisch zu essen und dabei seinen Genuss zu demonstrieren. Diese Beziehungen waren zu früh, denn sie waren eine Art 'Kosher-Stempel' für Deutschland und für dessen Aufnahme in die Weltgemeinschaft. Bis heute ist es für mich unangenehm, die deutsche Hymne zu hören, die für mich all den Schrecken des Krieges symbolisiert." Nach diesen blutigen Szenen kam kein Gast mehr zum Empfang des neuen deutschen Botschafters in einem Tel Aviver Hotel. "Ich habe daher alle Sicherheitsleute und Fahrer hineingebeten", erzählte Pauls.

In Bonn reagierte man mit Erstaunen auf die Demonstration "von weinenden ehemaligen KZ-Insassen, denen die deutsche Nationalhymne zum letzten Mal in Auschwitz ans Ohr schlug". Vizekanzler Erich Mende sprach sogar von "faschistisch-bolschewistischen Methoden". Bundespräsident Heinrich Lübke unterbrach nicht einmal seinen Urlaub, um das Beglaubigungsschreiben des ersten israelischen Botschafters in Bonn, Asher Ben Nathan, entgegen zu nehmen. Ihn vertrat Bundesratspräsident Georg August Zinn. Als sich Lübke und Ben Nathan einige Wochen später zum ersten Mal auf einer Messe in Bonn trafen, wartete die Presse gespannt auf den historischen Augenblick. "Lübke kam auf mich zu, gab mir die Hand und sagte: Warum haben sie unseren Botschafter in Jerusalem beschimpft und mit Steinen beworfen?"

Von Nathan, einem gebürtigen Wiener, waren einige in Bonn wenig begeistert. Zum einen war er in die geheimen Waffenlieferungen verwickelt. Zum anderen war er nach dem Krieg als Nazi-Jäger tätig. Nun muss-te er Alt-Nazis begegnen. "Wenn wir von jemandem wussten, dass er irgendwie mit Nazi-Verbrechen in Verbindung gestanden hatte, bin ich ihm ausgewichen", erzählte Ben Nathan später. "Ich habe zum Beispiel Hans Globke nie getroffen." Adenauers Staatssekretär und enger Vertrauter verfasste als Ministerialrat im Reichsinnenministerium die antisemitischen Kommentare zu den Nürnberger Rassengesetzen.

Bald jedoch entspannten sich die deutsch-israelischen Beziehungen. Die Verjährungsfrist für NS-Kriegsverbrechen wurde verlängert und irgendwann völlig abgeschafft. Die militärische Zusammenarbeit mit Israel wurde fortgesetzt. Die deutsche Botschaft wurde in Tel Aviv errichtet und diente als Pilgerstätte für Jeckes, deutschstämmige Juden. Tausende von Israelis nahmen am Jugendaustauschprogramm teil und besuchten Deutschland. 40 Jahre nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen bleiben die Worte von Rolf Pauls, der "mit Steinen empfangen und mit Rosen verabschiedet wurde" (Avi Primor) Vermächtnis: "Aus der deutsch-jüdischen Vergangenheit tragen wir Verantwortung für das Schicksal Israels, ob wir oder die Israelis das wollen oder nicht. Wir Deutschen neigen zur Gefühlsseligkeit. Dafür ist in den deutsch-israelischen Beziehungen kein Platz. Sie erfordern, was uns sehr viel schwerer fällt, ein Höchstmaß an Sensibilität. Schuld kann nicht vererbt werden, die geschichtliche Verantwortung bleibt und geht mit den Generationen."


Igal Avidan ist Deutschland-Korrespondent des israelischen Nachrichtenmagazins "Jerusalem Report".


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