Es sollten heitere Spiele werden. Hans-Jochen Vogel schaut nachdenklich und nimmt seine Brille ab, bevor er ansetzt. "Sie müssen das verstehen: es ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis intensiver Zusammenarbeit gewesen, die die Vergabe der Spiele für 1972 nach München ermöglichte." Vogel, 1960 mit 34 Jahren in München zum jüngsten Oberbürgermeister einer deutschen Millionenstadt gewählt, hatte in dieser Funktion maßgeblichen Anteil daran. Jetzt, 33 Jahre nach dem Terrorangriff auf die israelische Mannschaft, sitzen wir, drei Generationen, zusammen in einem Raum und erinnern uns. Hans-Jochen Vogel, der als Akteur die dramatischen Tage miterlebte, der Interviewer, der als Kind gebannt vor dem Schwarz-Weiß Fernseher die Bilder in sich aufnahm, und die Kollegin, die damals noch gar nicht geboren war und für die diese Ereignisse zur Geschichte gehören, wie das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger.
Die Spiele selbst erlebte Hans-Jochen Vogel nicht mehr als Oberbürgermeister, sondern als Vizepräsident des Organisationskomitees. Erstmals war in München auch die DDR mit ihren Emblemen, also Fahne, Hymne und Wappen vertreten und demonstrierte damit die neue deutsche Ostpolitik unter Willy Brandt. Vielleicht waren diese Spiele die letzten, die ohne den dominierenden Einfluss der Massenmedien und sonstiger kommerzieller Erwägungen durchgeführt werden konnten. Es war, wie sich Vogel erinnert "beeindruckende, farbige und mannigfaltige Spiele, ohne Superlative oder auch nur einen Anflug von Gigantismus, aber voll herzlicher Lebensfreude und guter Kameradschaft unter den Teilnehmern."
Dann kam der 5. September 1972. Kurz nach 4:30 Uhr hörte der Münchner Fernsehreporter Dagobert Lindlau einen Schuss. Ein Terrorkommando, das sich "Schwarzer September" nannte, hatte die Unterkunft der israelischen Mannschaft gestürmt und die Sportler als Geiseln genommen. Bei dem Überfall wurde der israelische Ringertrainer Moshe Weinberg erschossen. Die Geiselnehmer forderten die Freilassung von mindestens 200 in Israel inhaftierten Landsleuten. Für die Vertreter der deutschen Bundesregierung, unter Leitung des damaligen Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher, begannen lange, schwere Stunden der Verhandlungen mit den Geiselnehmern.
Wenn sich Hans-Jochen Vogel an diesen Tag erinnert, so ist das erste Bild das von dem "Geiselnehmer mit der schwarzen Maske, wie er da auf dem Balkon stand und die Verhandlungen führte". "Genscher selbst", so Vogel, "ist sogar in der Wohnung der Mannschaft gewesen und hat das Blut und die Toten dort gesehen. Das ist mir erspart geblieben."
Die Verhandlungen zogen sich hin. Israel weigerte sich standhaft, auf die Forderungen der Terroristen einzugehen, doch die Terroristen, die an ihrer brutalen Entschlossenheit keine Zweifel ließen, stellten neue Forderungen, diesmal direkt an die Bundesregierung. Nunmehr verlangten sie, dass sie und die Geiseln ausgeflogen und ihnen drei Flugzeuge zur Verfügung gestellt werden sollten. Den Deutschen gelang es, die Terroristen davon zu überzeugen, dass nur ein Flugzeug zur Verfügung gestellt werden könne. Sie flogen Geiselnehmer und Geiseln nach Fürstenfeldbruck. Dort sollten, so der geheime Plan der Sicherheitskräfte, die Geiselnehmer überwältigt, verhaftet und die Geiseln befreit werden. Tatsächlich lautete auch eine erste Meldung alle Geiseln seien "sicher und befreit".
Golda Meir, die damalige Ministerpräsidentin Israels, so Hans-Jochen Vogel, ging am Abend des 5. Septembers mit dieser Nachricht "alles sei in Ordnung" schlafen. Willy Brandt weigerte sich, vor die internationale Presse zu treten, bis ihn nicht der Bundesinnenminister persönlich über den Ausgang des Befreiungsversuchs informiert habe. "Als dieser sich", so Vogel, "nach geraumer Zeit aus Fürstenfeldbruck meldete, musste er das genaue Gegenteil, nämlich den Tod aller Geiseln berichten". Es hat, so Vogel heute im Rückblick, "immer wieder Stimmen gegeben, die fragten, ob die Sicherheitsvorkehrungen ausreichend gewesen seien. Sie waren aber mit allen Beteiligten, auch den Israelis, abgestimmt gewesen." Und, das dürfe man in der heutigen Wertung nicht vergessen, "es war die erste Herausforderung dieser Art. Wir waren ja", so Vogel weiter, "in keiner Weise auf so etwas vorbereitet gewesen." Die Konzipierung und Schaffung der GSG 9, die dann später bei der erfolgreichen Befreiung der Geiseln aus der Lufthansa Maschine "Landshut" in Mogadischu zum Einsatz kam, war, so Vogel, "eine der Konsequenzen aus dem gescheiterten Befreiungsversuch von Fürstenfeldbruck."
Per Telefonrundruf wurde Hans-Jochen Vogel gebeten, die schwierige Mission zu übernehmen, die Särge nach Tel Aviv zu begleiten. Für ihn gehören diese Reise und die Trauerfeier auf dem Flughafen in Tel Aviv auch 33 Jahre danach zu den bewegendsten Erfahrungen seines politischen Lebens. "Wir landeten am späten Nachmittag in Tel Aviv. Die Särge der toten Sportler waren ja mit auf der Maschine und - so meine ich mich zu erinnern - auch zwei oder drei Angehörige. Nach der Landung musste die Trauerfeier direkt am Flughafen stattfinden, da nach jüdischem Ritus, der 7. September war ein Freitag, die Toten noch vor Beginn des Shabbats beerdigt sein und einige von ihnen noch weit in den Norden gebracht werden mussten. Die Rede des Rabbis und das Blasen des jüdischen Shofars klingen Vogel bis heute noch in den Ohren. Auch die Rede Yigal Allons, der Golda Meir vertrat, ist mir unvergessen, vor allem, weil er die sehr würdige Rede Gustav Heinemanns von der Trauerfeier in München am Vortage zitierte. Für mich war es erschütternd, in Tel Aviv an den Särgen von jüdischen Menschen zu stehen, die in Deutschland ermordet worden waren. Und doch war es ein wesentlicher Unterschied: im Dritten Reich waren Juden systematisch verfolgt und ermordet worden, mit dem Ziel der völligen Ausrottung. Jetzt waren sie von einem palästinensischen Terrorkommando als Folge des Nahostkonfliktes ermordet worden. Diese Tat hätte überall auf der Welt stattfinden können, und doch ausgerechnet München…!"
Im Rückblick findet Vogel es bemerkenswert, dass von israelischer Seite nie ein Vorwurf gekommen oder auch nur eine Äußerung gefallen sei, die einen wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen diesem Terroranschlag und der deutschen Geschichte hergestellt habe. "Es hat auch glücklicherweise keine politisch negativen Auswirkungen auf das deutsch-israelische Verhältnis gegeben." Willy Brandt selbst rief am Morgen des 6. Septembers bei Golda Meir an, um sie persönlich über den tragischen Ausgang der missglückten Geiselbefreiung zu informieren und seine Anteilnahme auszudrücken. "Es war für Deutschland ein wirklich einschneidendes Ereignis." Hans-Jochen Vogel fragt, wie die heutige Generation über dieses Ereignis denkt, und erfährt, dass die nach 1972 Geborenen, für die dies bereits Geschichte ist, darüber nichts in der Schule erfahren. Nur aufgrund privaten Interesses weiß man etwas darüber. "Das", so Vogel nachdenklich, "muss man mit bedenken."
Der ehemalige Oberbürgermeister steht auf, geht zum Fenster und schaut in den grauen Himmel. "Was mich vor allem auch sehr beeindruckt hat war die Reaktion des IOC-Präsidenten Brundage, der ausgerufen hat: the Games must go on!" Vogel fährt fort: "Ich war mir zunächst unsicher, ob er Recht hatte, aber schon eine halbe Stunde später war mir klar, wären die Spiele abgebrochen worden, hätten wir die Entscheidung über die Durchführung solcher Weltereignisse in die Hand der Terroristen gelegt. Brundage hatte mit seiner Entscheidung Recht."
Vogel schaut wieder aus dem Fenster. "40 Jahre diplomatische Beziehungen mit Israel. Ich sehe noch Bundeskanzler Ludwig Erhard vor mir. Zufällig saß ich in einiger Entfernung von ihm in einem Nebenraum des Hotels Regina, wo wir mit anderen auf den Beginn einer Veranstaltung der Internationalen Handwerksmesse warteten. Offenbar hatte er gerade erfahren, dass die arabischen Länder wegen der Anerkennung Israels die diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik abbrechen wollten. Das bedrückte ihn; aber er hielt an seinem Entschluss fest."
Auch heute engagiert sich Hans-Jochen Vogel politisch. In der von ihm gegründeten Stiftung "Gegen Vergessen für Demokratie" werden vielfältige Initiativen zur Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus gefördert. Politisch hat dies nichts mit München 1972 zu tun, sagt er, aber "wenn Sie mich als Person fragen, dann spielt die Erinnerung an diese dramatischen Tage immer mit."
Thomas R. Henschel ist Direktor der European School of Governance und hat einen Lehrauftrag an der Hebrew University Jerusalem.