Dass es dabei immer wieder zu schwerwiegenden, erheblichen Rückschlägen kommt, verwundert nicht. Feindbilder und eigene Überlegenheitsvorstellungen spielen stets eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung individueller und institutioneller Identität. An der Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden während des Nationalsozialismus waren nicht nur hunderttausende einzelner Christen unterschiedlicher Konfessionen, sondern auch die Kirchen als Institutionen mitbeteiligt. Diese Erfahrung spielte eine wesentliche Rolle in einem Prozess, der zu einer Revision der theologischen Grundlagen führte. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass schon in den Jahren 1933 bis 1945 viele einzelne Christen (Katholiken, Protestanten, aber auch Mitglieder orthodoxer Kirchen) für Juden eintraten und sie retteten. Es waren nicht zuletzt die moralischen und theologischen Überzeugungen jener, die sich gegen den Judenmord stellten, die der christlichen Religion den Weg dorthin wiesen, wo sie entstand: an die Seite des Judentums. Nichts anderes wollte Johannes Paul II ausdrücken, als er das Judentum als "älteres Geschwisterteil" des Christentums bezeichnete. Freilich nahm die theologische Entwicklung auf katholischer und protestantischer Seite ganz unterschiedliche Wege.
Wie schwierig die theologische Neuorientierung war, zeigt etwa das sogenannte "Darmstädter Wort" des Bruderrats der Evangelischen Kirche in Deutschland, eines Kreises der Bekennenden Kirche vom April 1948. Diese Erklärung spricht zwar davon , dass "uns vergolten wird, was wir an den Juden verschuldet haben." Ansonsten heißt es aber in ungebrochen antijudaistischer Tradition auch nach dem Massenmord: Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, und zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht. Von dort bis zum Beschluss der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland vom Januar 1980 war es ein weiter Weg. In diesem Beschluss wird unter Berufung auf den Apostel Paulus und seine Ausführungen im Brief an die Römer, Kapitel 9- 11 die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes bekannt und damit auch der Missionierung der Juden eine Absage erteilt. Damit begann ein Teil der Evangelischen Kirchen mit dem, was der diesjährige Träger der Buber-Rosenzweig Medaille, der Berliner Professor Peter von der Osten- Sacken einmal als "christologischen Besitzverzicht" bezeichnet hat.
Die katholische Kirche revidierte ihre Haltung zum Judentum auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 in der Erklärung "Nostra aetate". Darin geht es um die Haltung der Kirche zu den "nichtchristlichen Religionen". Die Erklärung weist jeden Antisemitismus und auch jeden Antijudaismus zurück und bekennt, dass Gottes Gnadengabe an die Juden unwiderruflich ist. Die Missionierung der Juden ist daher theologisch sinnlos. Dieser Haltung haben sich seither die meisten katholischen Bischöfe in Deutschland angeschlossen. Im April 1986 besuchte nach Jahrhunderten zum ersten Mal ein katholischer Papst eine Synagoge. In seiner Ansprache in der römischen Synagoge bekannte sich Johannes Paul II nicht nur zum Judentum als dem "Inneren" des Christentums, sondern wiederholte, dass die Juden "weiterhin von Gott geliebt werden, als jene, die er mit einer unwiderruflichen Berufung erwählt hat."
Auf diese Entwicklungen in katholischen und protestantischen Kirchen reagierten seit den 60er-Jahren jüdische Einzelpersonen und Repräsentanten großer, vor allem US-amerikanischer jüdischer Organisationen. Von besonderem Gewicht ist jedoch die im Jahr 2000 von mehr als 200 jüdischen Gelehrten und Rabbinern unterzeichnete Erklärung "Dabru emet" ("Sprecht Wahrheit"). Darin heißt es, "dass es für Juden an der Zeit ist, die christlichen Bemühungen um eine Würdigung des Judentums zur Kenntnis zu nehmen." Die Erklärung hält fest, dass Christen und Juden Gott unterschiedlich kennen und dienen: hier durch den Glauben an Jesus, dort durch die Tora. Beide Wege sind zu respektieren und zu würdigen. "Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird", so die Erklärung, "nicht eher ausgeräumt, bis Gott die ganze Welt erlösen wird ..."
Theologisch-exegetisch korrespondiert das mit der Einsicht, dass Jesus Jude und nur Jude war und als Messias auch nur deshalb bekannt werden konnte, weil er Jude war - im Leben und im Tod. Wenn aber Jesus nur deshalb zum Messias werden konnte, weil er Jude war, dann verbietet sich nicht nur jeder Antijudaismus, sondern wird zugleich klar, dass der jüdische und der christliche Weg in ihren jüdischen Grundlagen einander näher sind, als es gemeinhin erscheint. Das hat der Apostel Paulus, ein hellenistischer Jude, nicht anders gesehen. Daraus folgt schließlich, dass der Sinn der christlichen Religion letztlich darin besteht, die Völkerwelt durch den Glauben an Jesus zum Gott Israels zu führen - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Freilich rufen diese Einsichten Ängste, Abschließungen und Aggressionen hervor. Als Beispiel für einen solchen Rückfall kann etwa die erst kürzlich, im Jahr 2003 von der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Vorsitz von Eberhard Jüngel und Dorothea Wendebourg verabschiedete Erklärung "Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen" gelten, die schon im Titel unbelehrbaren christlichen Triumphalismus zu erkennen gibt. Warum wird hier der "Glaube" nur dem Christentum zugeschrieben, während alle anderen nur "Religion" sind? Hier wird das Judentum ohne Rücksicht der ausführlichen Arbeiten gerade der EKD zum Verhältnis von "Kirche und Judentum" als eine unter anderen "nichtchristlichen Religionen" dargestellt - Religionen, die, so die Erklärung, einen Gegensatz zum Christentum darstellen, da sie "Jesus Christus nicht als Ereignis der Wahrheit" anerkennen. "Die bleibend schmerzende Urform", so fährt die Erklärung fort "dieses Gegensatzes ist die Ablehnung Jesu Christi als entscheidendes, Menschen errettendes Ereignis der Wahrheit im Judentum." Also doch: die Juden als Verhinderer des Heils? Welche Schmerzen - so möchte man fragen - gibt es hier zu beklagen, wenn doch gilt, dass der Gott Jesu dem jüdischen Volk ohnehin die Treue hält? Anstatt über die Treue Gottes zum Volk der Tora sowie über die Chance, über den Glauben an Jesus zum Gott Israels gekommen zu sein, Freude auszudrücken, wird hier, jetzt allerdings in der Sprache des Schmerzes, ein weiteres Mal christlicher Triumphalismus, jetzt allerdings in einer melancholischen Verfallsform beschworen.
Gemessen an 2.000 Jahren der Verkennung und der Missverständnisse sind in den vergangenen 50 Jahren Fortschritte erzielt worden, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Die Zukunft einer durch Globalisierung und Immigration nun auch kulturell verunsicherten deutschen Nation wird zeigen, ob sie das im jüdisch-christlichen Dialog Erreichte auch zu bewahren versteht.
Micha Brumlik leitet das Fritz-Bauer-Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocausts und seiner Wirkung, und lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main.