"Kattwinkel, ich will mit 55 in Rente", sagt einer. "Wenn Du mir aus Griechenland Ouzo mitbringst", sagt Kattwinkel. Beide lachen. Der Kattwinkel ist einer von ihnen, war er schon immer. Auch wenn er den blauen Overall gegen Hemd und Kragen getauscht hat und in seinen Händen inzwischen öfter das Betriebsverfassungsgesetz hält als den Schweißkolben. 20 Jahre stand der Kattwinkel hinter den Maschinen, bevor er 2002 hauptamtlicher Betriebsrat der GKN Walterscheid GmbH in Lohmar wurde.
Wenn er heute mit den Herren im Anzug aus England verhandelt, wird ein kleines Unternehmen im Rheinland zum Mikrokosmos der Republik: Kattwinkel kämpft dagegen, dass die englischen Eigentümer Teile des Betriebs ins Ausland verlagern oder aus der Tarifbindung ausscheren. Er streitet für Ausbildungsplätze und Mitbestimmung.
Dollarzeichen in den Augen
Walterscheid in Lohmar, eine Stadt mit 32.000 Einwohnern bei Köln, das ist eine lange Geschichte. 1919 wurde das Unternehmen von Jean Walterscheid gegründet. Erst produzierte es Fahrradteile, dann Achswellen, zu Kriegszeiten Rüstungsgüter und seitdem Gelenkwellen für die Landwirtschaft. Sie dienen dazu, Kraft und Lenkbewegungen zu übertragen, etwa von einem Traktor auf einen Pflug. In den Fünfzigern blühte das Unternehmen auf. 1951, so steht auf der Internetseite, übernahm es erstmals die Kosten für die Ferienfahrten der Mitarbeiter. "Aber irgendwann blinkten Dollarzeichen in den Augen der Inhaber, und der Betrieb wurde verkauft", sagt Kattwinkel. 1964 trat der Betrieb einem deutschen Unternehmensverbund bei. Zwei Jahre später, kurz nachdem für die damals 1.600 Walterscheider die 40-Stunden-Woche eingeführt worden war, beteiligte sich das britische Unternehmen GKN am deutschen Verbund. Ein paar Jahre später übernahm es ihn und den Lohmarer Betrieb komplett.
Der Weltkonzern GKN plc. erzielt einen Jahresumsatz von 6,7 Milliarden Euro und beschäftigt in mehr als 40 Ländern fast 50.000 Mitarbeiter. An der Hauptstraße in Lohmar sind es noch etwa 650. "Und es werden schleichend weniger", sagt Frank Kattwinkel, "15 bis 20 Stellen gehen jedes Jahr verloren."
In der kleinen Eingangshalle stehen zwei Männer in Anzügen mit ernstem Blick und Aktentasche. Sie mus-tern eine Vitrine, in der Gelenkwellen und Kupplungen mit Walterscheid-Aufdruck liegen. Sie sprechen Englisch. "Wissen Sie", flüstert Frank Kattwinkel, "früher konnten wir unseren Geschäftsführern und Personalern in die Augen sehen und uns auf das gesprochene Wort verlassen. Aber heute haben die doch gar nichts mehr zu sagen. Die bekommen ihre Weisungen aus England. Und da gilt: Je weniger Mitarbeiter, umso höher der Aktienkurs."
Es hat sich eben einiges geändert, seitdem Kattwinkel 1982 seine Lehre als Dreher bei Walterscheid begann. 35 Lehrlinge waren es damals - wer wollte, konnte nach der Lehre bleiben. Sechs Azubis gibt es bei Walterscheid heute - bleiben kann, wer Glück hat. Aus festen Schichten wurden flexible Arbeitszeiten. "Die Mitarbeiter sind ihrem Unternehmen gegenüber durchaus verantwortungsbewusst", sagt Kattwinkel, den es aufregt, wenn die FDP fordert, die paritätische Mitbestimmung abzuschaffen. "Wir sind schon viel flexibler geworden. Einzelne Arbeitsgruppen können ohne weiteres 25 bis 45 Stunden Wochenarbeitszeit vereinbaren. Und wenn der Laden brummt, stimmen wir ohne große Diskussionen einer weiteren Zusatzschicht zu."
Aus Einzelakkord wurde Gruppenakkord. Im "GabelCenter" in der großen Halle etwa. Dort werden Stahlgabeln für die Gelenke der Antriebswellen hergestellt. Mannshohe Prägemaschinen fräsen den Stahl millimetergenau. Die Arbeiter tragen Schutzbrillen und gelbe Ohrstöpsel. An der Wand hängen bunte Papiere in Klarsichthüllen. Sie zeigen, wie das Gabel-Center-Team gearbeitet hat. Über einer Kurve steht "Qualitätsdiagramm". Über einer anderen: "Krankenstatistik - Ziel: weniger als drei Prozent". Die wichtig-ste Kurve ist die Prämienkurve. 580 Euro bekommen die Männer im Monat -- wenn sie genug herstellen. "Ein Viertel des Gehalts hängt von der Leistung ab", sagt Kattwinkel, "eine ganze Menge für die Jungs."
Frank Kattwinkel ist kein betonköpfiger "Besitzstandswahrer", mit dem man nicht über Arbeitszeitmodelle und Zielvereinbarungen reden könnte. Zwar steht er bei Warnstreiks der IG Metall mit dem Megaphon vor dem Betriebstor. Den Morgenkaffee trinkt er aus der roten IG-Metall-Tasse, und an seiner Bürotür klebt ein Aufkleber, auf dem eine lachende Sonne und die Überschrift "35-Stunden-Woche" abgebildet sind. Aber er weiß genau, wie wichtig die "vertrauensvolle Zusammenarbeit" mit der Geschäftsleitung ist. "Den Interessenkonflikt zwischen Existenzsicherung des Unternehmens und dem Wohl der Mitarbeiter, den spüren wir täglich", sagt Kattwinkel. Als Betriebsrat muss er zwischen beidem abwägen. Er muss vermitteln - zwischen Beschäftigten, die sich in die Wolle kriegen; zwischen Personalern und Mitarbeitern, wenn es Streit um eine Versetzung gibt; zwischen der Unternehmensleitung und der Belegschaft. Er verkauft seinen Kollegen, warum Überstunden nötig sind, wenn die Auftragsbücher voll sind. Er überzeugt die Geschäftsleitung, dass sie im Sommerloch eine Abbauphase für die Überstunden einplant. Er muss nach Kompromissen suchen und Mehrheiten finden.
Das musste er erst mal lernen. Kurz nachdem er 1994 in den Betriebsrat gewählt wurde, kündigte die Unternehmensleitung eine Betriebsvereinbarung über das Weihnachtsgeld. "Ich habe gleich gedacht: Das zahlen wir denen mit gleicher Münze zurück, wir lehnen jeden Antrag auf Mehrarbeit ab", erinnert sich Kattwinkel. "Aber ich wurde im Betriebsrat überstimmt. Heute kann ich das nachvollziehen. Mit der Brechstange und dem Betriebsverfassungsgesetz unterm Arm - das geht nicht."
Frank Kattwinkels Einsatz für die Arbeitnehmer begann kurz nach seiner Lehre. So, wie sie bei Betriebsräten meistens beginnt: Er wurde Vertrauensmann der IG Metall. Vertrauensleute halten den Kontakt zur Belegschaft. "Die sind das Pflaster auf dem Finger, das Mädchen für alles", sagt Kattwinkel. Im Tarifvertrag kommen die Vertrauensleute nicht vor, müssen heimlich, während der Arbeit oder in den Pausen agieren. "Trotzdem sind sie unverzichtbar", sagt Frank Kattwinkel. Für den Kontakt zur Basis, als Stimmungsbarometer. Wer sonst kann Kattwinkel sagen, ob die Belegschaft rauskommt, wenn er ruft?
Nach seiner Wahl in den Betriebsrat 1994 standen erst mal Seminare der Gewerkschaft auf dem Plan. "Ohne die geht es nicht - da muss man Freizeit opfern." Das sagt er auch dem Kollegen, der das Wochenende lieber nicht in den Seminarräumen der IG Metall zubringen will. Aber das neue Entgelt-Rahmen-Abkommen, über das Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände seit Jahren verhandelt haben, "ist eine völlig neue Materie, in die wir uns einarbeiten müssen", sagt Kattwinkel. "Da kannst du nicht fehlen."
Die wichtigsten Lektionen hat Kattwinkel nicht in Seminaren gelernt. Sondern in der Realität. 1999, als die Herren aus England eine Idee aus dem Aktenkoffer zogen, die für einen Weltkonzern heutzutage keineswegs untypisch ist: Um Produktionseinheiten zusammenzuziehen, verlagerten sie die Herstellung von Antriebswellen nach Italien. "Stress hoch drei. Aber wir wollten die Arbeitsplätze retten", erinnert sich Kattwinkel. Am Ende fand man für die meisten der 140 betroffenen Mitarbeiter eine Regelung. "Richtig rausgeworfen wurde niemand." Ohne den Betriebsrat und die Unterstützung durch die IG Metall wäre das nicht drin gewesen, glaubt er.
Die Verlagerung konnte er nicht aufhalten. Auch ein neues Getriebe, das in Lohmar entwickelt wurde und das einen Millionenumsatz einspielen soll, soll nicht in Lohmar, sondern in Sachsen produziert werden. "Dort werden Investitionen vom Land bezuschusst", sagt Kattwinkel. "Wir können hier noch so gut sein: Dagegen können wir doch gar nicht gewinnen."
Jeden Tag sitzt Kattwinkel ab sieben Uhr früh in seinem Büro. Der erste Kollege, der heute an seine Tür klopft, wirkt nervös. Er ist in Geldnöten. "Das Auto ist kaputt. Und ich brauch das ja", sagt er und vergräbt seine Hände in den Taschen des Overalls. "Könnten die mir nicht einen Vorschuss für die Überstunden zahlen?" fragt er. "Eigentlich geht das nicht, aber ich werde mal mit der Personalabteilung reden", sagt Kattwinkel. Später kommt ein anderer Kollege vorbei. "Mein Vorgesetzter hat mich einfach in ein anderes Team versetzt", sagt er aufgeregt. "Der Arbeitgeber hat Direktionsrecht und kann Dich für maximal vier Wochen ohne Weiteres versetzen", erklärt Kattwinkel, ohne ins Gesetzbuch schauen zu müssen, "aber ich setze mich mit Deinem Vorgesetzen in Verbindung." Der Dritte, der anklopft, will den Betrieb verlassen und hofft auf eine Abfindung. Kattwinkel: "Da muss ich geschickt bei den Personalern argumentieren: Er könnte einen anderen Arbeitsplatz retten, er war lange im Betrieb. Vielleicht klappt das dann."
An der Wand in Kattwinkels Büro hängt ein großer Kalender voller bunter Punkte. Grüne Punkte zeigen informelle Informationsrunden an, schwarze stehen für den "Entlohnungssausschuss". Blaue Punkte für den "Konzernbetriebsrat". Wenn es nach den Engländern geht, kann Kattwinkel die blauen Punkte bald vom Kalender abknibbeln. Durch einen Beherrschungsvertrag zwischen dem britischen Mutterkonzern GKN und dem Verbund der deutschen Tochtergesellschaften soll der Konzernbetriebsrat der deutschen Gruppe entfallen. Auch der Aufsichtsrat des Verbunds soll gestrichen werden. "Für uns ist das eine Möglichkeit der Mitbestimmung", sagt Kattwinkel, "aber denen ist das lästig, dafür dreimal im Jahr nach Deutschland zu kommen. Manchmal klimpern die im Laptop herum, während wir diskutieren. Das sagt doch alles."
Der Organisationsgrad nimmt ab
"Wenn man Verantwortung übernimmt, bekommt man eben die Gegner gleich mit dazu", sagt Kattwinkel. Aber er hat gelernt, ihnen Paroli zu bieten. Als der Betrieb plante, in einem Jahr keine neuen Auszubildenden einzustellen, drohte Kattwinkel kurzerhand mit Streik. Und als man in England auf die Idee kam, mit der Lohmarer Tochter, die einst die Ferienfahrten ihrer Mitarbeiter zahlte, aus dem Arbeitgeberverband "mit Tarifbindung" in einen Verband "ohne Tarifbindung" zu wechseln, ging er aufs Ganze. "Das war ein Tabubruch. Wir haben klar gemacht: An dem Tag, an dem ihr austretet, ist es mit der guten Zusammenarbeit vorbei. Wir hätten den Betrieb völlig lahm gelegt."
Die Belegschaft sah es genauso, die Gewerkschaft unterstützte die Aktion. "Seitdem ist wieder Ruhe auf dem Schiff", sagt Kattwinkel. Außerdem traten 40 Kollegen in die Gewerkschaft ein.
Im Moment sind noch zwei Drittel der 650 Walterscheider Mitglieder in der IG Metall. Aber der Organisationsgrad nimmt wie in den meisten Betrieben ab. Immer mehr Mitarbeiter treten aus oder gar nicht erst ein, immer mehr Leiharbeiter stehen in den Fertigungshallen. Frank Kattwinkel ist 40 Jahre alt - und damit schon einer der jüngsten im 13-köpfigen Walterscheider Betriebsrat. "Er verkörpert die junge Generation", sagt Kollege Manuel da Silva, der jeden Tag zuverlässig auf eine Tasse Kaffee bei Kattwinkel vorbei kommt. Da Silva ist seit 40 Jahren bei Walterscheid und seit 1975 Mitglied des Betriebsrats. "Manchmal muss ich den Kattwinkel zur Geduld mahnen. Aber oft ermahnt er auch mich: Du alter Knacker musst dich umstellen." Beide lachen. Kattwinkel nimmt noch einen Schluck aus der IG-Metall-Tasse. "Es ist schwerer geworden für uns Betriebsräte. Die Diskussionen um Globalisierung haben Spuren hinterlassen, die Leute haben Angst um ihren Arbeitsplatz", sagt er nachdenklich. "Dabei dient das Thema den Arbeitgebern auch als Vorwand. Flexibilität, Forschergeist, Motivation - das haben wir hier doch alles. Nur chinesische Löhne halt nicht."
Jens Tönnesmann arbeitet als freier Journalist in
Köln.