Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005
Conrad Schetter

Zwischen Stamm und Staat

Afghanistan: Das Land am Hindukusch sucht seine Identität
Afghanistan gilt als Paradebeispiel für einen gescheiterten Staat. So lautet das Urteil vielfach, dass es Afghanistan nicht allein an rudimentären staatlichen Strukturen, sondern auch an einer nationalen Identität fehlt und das Staatsprojekt Afghanistan fehlgeschlagen sei. Dennoch lässt sich in Afghanistan eine Paradoxie beobachten: So bewirkte gerade der über 25 Jahre andauernde Krieg, der zu einer völligen Erodierung staatlicher Funktionen führte, dass sich erstmals eine nationale Identität ausprägte.

Betrachtet man die gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan, kann bereits in der Vielfalt der kulturellen Identitäten ein Hindernis für die Ausbildung einer nationalen Identität erblickt werden. Die kulturelle Mannigfaltigkeit ist enorm: So wurden über 30 verschiedene Sprachen nachgewiesen. Die Zahl der ethnischen Gruppen variiert je nach Betrachtungsweise zwischen 30 und 200. Die wichtigsten ethnischen Gruppen - Paschtunen, Tadschiken, Hazaras und Usbeken - sind zudem aufgrund tribaler und regionaler Differenzen in sich stark fragmentiert. Selbst der Islam, dem ungefähr 99 Prozent der 25 bis 30 Millionen Afghanen angehören, stellt keine einigende Klammer dar, sondern ist durch eine Vielzahl an Strömungen und Eigenheiten gekennzeichnet. Neben Sunniten, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, gibt es Schiiten und Ismailiten. Gerade in ländlichen Gebieten durchmischen sich religiöse Vorstellungen mit vorislamischen oder animistischen Auffassungen, die einer orthodoxen Islamauslegung entgegenstehen.

Neben dieser kulturellen Diversität wird als ein weiteres Kriterium, das einem Nation-Building-Prozess im Weg steht, die Künstlichkeit betont, mit der der afghanische Staat im so genannten "Great Game" aus der Taufe gehoben wurde: So legten die Kolonialmächte Britisch Indien und Russland nach zähem Ringen Ende des 19. Jahrhunderts ein afghanisches Territorium fest, das als Puffer zwischen ihren Einflussbereichen dienen sollte. Der Staat Afghanistan wurde demnach in erster Linie über seine territoriale Fixierung hervorgerufen.

In der Folgezeit konnten sich staatliche Strukturen nur punktuell ausprägen. So war das gesamte 20. Jahrhundert durch den Gegensatz zwischen "Staat und Stamm" geprägt: Während sich in den Städten ein nach Modernisierung strebender Verwaltungsapparat mit zentralstaatlicher Ausrichtung verfestigte, konnten sich in den ländlichen Regionen die lokalen und tribalen Eliten, die jegliche äußere Einflussnahmen ablehnten, behaupten. Zudem nahm das Gros der afghanischen Bevölkerung den Staat als fremd oder gar feindlich wahr. Allein eine schmale urbane, bürgerliche Elite identifizierte sich mit dem Staat.

Parallel zum Staatsaufbau experimentierten die afghanischen Herrscher mit unterschiedlichen Nationalstaatskonzepten. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung dominierte, dass der Staat der Hüter einer islamischen Ordnung sei, verstanden die afghanischen Herrscher seit den 30er-Jahren den Staat als einen explizit paschtunischen, zumal die Paschtunen mit circa 35 bis 70 Prozent die größte ethnische Gruppe im Lande bildeten. Demotische Nationsvorstellungen blitzten immer wieder auf - etwa bei der Einrichtung der konstitutionellen Monarchie 1964 -, konnten sich aber nicht durchsetzen.

Auch der Afghanistankrieg nahm seinen Ausgang im Spannungsverhältnis zwischen Staat und Stamm. So provozierte ein übereifrig und rücksichtslos durchgeführtes Reformprogramm der 1978 an die Macht geputschten kommunistischen Partei den Widerstand der traditionellen, ländlichen Eliten. Der Afghanistankrieg zeitigte verheerende Folgen. Das Land wurde in Schutt und Asche gebombt, schätzungsweise zwei Millionen Menschen verloren ihr Leben, es flüchteten mehrere Millionen Afghanen nach Pakistan und Iran und das Land war zeitweise mit über zehn Millionen Anti-Personen-Minen verseucht. Bezüglich des gegenwärtigen Nation-BuildingProzesses, hatte der Afghanistankrieg zwei zentrale Ergebnisse: Erstens zerfiel die zaghaft etablierte Staatlichkeit auf allen Ebenen. Der Krieg bedingte die völlige Abtragung der staatlichen Infrastruktur und setzte die Funktionsfähigkeit des afghanischen Staats außer Kraft. Kriegsfürsten und Milizen lösten das staatliche Gewaltmonopol ab, und grenzübergreifende Wirtschafts- und Schmuggelaktivitäten - vor allem Drogenhandel - ebneten die Bedeutung der Staatsgrenzen ein. Staatliche Ämter wurden von den Mudschahedin, die von 1992 bis 1996 Kabul beherrschten, wie von den Taliban, die von 1996 bis 2001 fast 90 Prozent des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hatten, an Gefolgsleute als Pfründe für besondere Loyalität oder herausragende kriegerische Leistungen vergeben.

Zweitens veränderten sich die Identitätsbezüge der Bevölkerung. Während in den 80er-Jahren der Islam als Gegenpol zum "heidnischen" Kommunisten dominierte, bedingte die Politisierung kultureller Muster während der 90er-Jahre eine gesellschaftliche Fragmentierung. So waren alle Kriegsparteien bemüht, über die Propaganda religiöser, ethnischer und regionaler Identitäten Anhänger zu gewinnen und hierüber ihre politische Existenz zu legitimieren.

Jedoch bewirkten Krieg, Vertreibung und Flüchtlingsdasein auch eine Verschiebung des Wahrnehmungshorizonts vom Dorf, Talschaft und Stamm auf die nationale Ebene. So erblickten viele Afghanen in den anhaltenden Kämpfen, in der Einmischung ausländischer Mächte und in der fortschreitenden Fragmentierung des Landes eine Bedrohung der eigenen Existenz. Dem wurde eine nationale Identität entgegengesetzt, die vor allem an der Integrität des afghanischen Territoriums festgemacht wurde. Zudem wurde der in den Auseinandersetzungen des "Great Game" geborene Mythos der afghanischen Freiheitsliebe gegen ausländische Einmischungsversuche akzentuiert; und die "Loya Jirga" - die im Idealbild im Konsens entscheidende Nationalversammlung - wurde der Zerstrittenheit der Kriegsparteien gegenübergestellt.

Diese Werte spielten auch für das Vorgehen der internationalen Gemeinschaft bei dem Sturz der Taliban und dem anschließenden Friedensprozess eine wichtige Rolle. So vermied es die "Coalition against Terrorism" zunächst, in Afghanistan mit Bodentruppen gegen die Taliban vorzugehen, um die Freiheitsliebe der Afghanen nicht gegen sich aufzubringen. Auch nahm die "Loya Jirga" im Friedensprozess eine herausragende Rolle ein, um die Übergangsregierung zu legitimieren und eine Verfassung zu verabschieden.

Dennoch steckt der Nation-Building-Prozess in Afghanistan noch in seinen Anfängen. Wesentlich hierfür ist, dass Staatlichkeit in den ersten Jahren nach dem Fall der Taliban kaum aufgebaut werden konnte. So regierten Warlords und lokale Potentaten das Land, hatte der afghanische Staat beträchtliche Mühe, seine Entscheidungen durchzusetzen, und wurde Hamid Karzai als der "Bürgermeister Kabuls" verspottet. Aufgrund der fehlenden Kapazitäten im afghanischen Staatsapparat konzentrierte sich der von der internationalen Gemeinschaft angeschobene Wideraufbauprozess auf Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Internationale Organisationen warben zudem die wenigen qualifizierten Staatsangestellten ab, was den afghanischen Staat weiter schwächte. Die Folge war, dass NGOs und internationale Organisationen in den Provinzen die bestimmenden Akteure waren, während der Staatsapparat hier zum Spielball rivalisierender Kriegsfürsten verkam.

Ein Erstarken des Staats lässt sich erst seit dem letzten Jahr beobachten, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die internationale Gemeinschaft der Bedeutung eines Mindestmaßes an Staatlichkeit gewahr wurde. Ausschlaggebend für dessen Bedeutungszuwachs war der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte. So konnte die Armee 2004 in verschiedenen Krisenherden im Land eingesetzt werden, wodurch die Kriegsfürsten an Macht einbüßten. Prominentestes Beispiel ist Ismail Khan, der noch 2003 nahezu uneingeschränkt als "Emir von Herat" über Westafghanistan herrschte. Nach Kämpfen mit konkurrierenden Warlords vermochte es Hamid Karzai, Ismail Khan im September 2004 als Gouverneur von Herat abzusetzen und ihn als Minister für Wasser und Energie nach Kabul zu beordern. Trotz dieses staatlichen Bedeutungsgewinns muss eingeräumt werden, dass der Staatsapparat nach wie vor nur äußerst rudimentär funktioniert.

Wenngleich eine recht verschwommene nationale Identität heutzutage in Afghanistan auszumachen ist, gibt es unter den Afghanen kaum einen Konsens über die Zukunft ihres Landes. So prallen Gesellschaftsvorstellungen frontal aufeinander, die kaum miteinander zu vereinbaren sind: Moderne Auffassungen, die eine hauchdünne Zivilgesellschaft propagieren, kollidieren mit traditionellen Vorstellungen, die in der Regel unter Rückgriff auf den Islam begründet werden und nicht nur von den Taliban vertreten werden, die nach wie vor die afghanische Regierung bekämpfen. Der Spagat, den Afghanistan vollbringen muss, um einen nationalen Konsens zu erzielen, wurde besonders bei der Verabschiedung der afghanischen Verfassung am 4. Januar 2004 deutlich: Afghanistan wurde zu einer Islamischen Republik, in der alle Gesetze mit dem Islam in Einklang stehen müssen, aber gleichzeitig Frauen vor dem Gesetz den Männern gleichgestellt sind. Während ethnischen Minderheiten wie den Usbeken und Belutschen auf Provinzebene Sprachsonderregelungen zugestanden wurden und festgelegt wurde, dass die Nationalhymne in Paschtu gesungen wird, ist Parteien eine ethnische Propaganda untersagt. Inwiefern dieser Balanceakt im politischen Alltag bestand haben wird, muss sich in der Praxis erst noch beweisen.

Besonders ethnische Identitäten erschweren den Aufbau einer afghanischen Nation. So dominierten Tadschiken aus dem Pandschirtal vom Fall der Taliban bis zu den Präsidentschaftswahlen im September 2004 den Regierungsapparat und kontrollierten Schlüsselministerien wie Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium; dies rief Ressentiments innerhalb der anderen ethnischen Gruppen, vor allem der Paschtunen, hervor. Demnach waren auch die Präsidentschaftswahlen von Ethnizität geprägt: Hamid Karzai (55 Prozent) gewann seine Stimmen überwiegend in den paschtunischen Provinzen Süd- und Südostafghanistans, Yunus Qanuni (16,3) im tadschikischen Nordosten, Rashid Dostum (10) im usbekischen Norden und Mohammad Mohaqeq (11,7) bei den zentralafghanischen Hazaras.

Das Problem des extremen Partikularismus spiegelte sich auch in den Parlamentswahlen im September dieses Jahres. Die Tatsache, dass über 2.500 Kandidaten antraten, verdeutlicht die Zerrissenheit des Landes. Den meisten Kandidaten ist kaum bewusst, welche Anforderungen an einen Parlamentarier gestellt werden. So werden Parlamentssitze als persönliches Gut und Statussymbol wahrgenommen, dagegen die damit verbundenen Pflichten nicht gesehen. Vor diesem Hintergrund droht das Parlament im schlimmsten Fall ein Hemmschuh der demokratischen Entwicklung und im besten Fall bedeutungslos zu werden. Dennoch setzen die Parlamentswahlen ein wichtiges Zeichen, da sie demonstrieren, dass Afghanistan auf dem Wege in die politische Normalität ist.

Die Politik des neuen Afghanistans unter Hamid Karzais Führung baut darauf auf, die verschiedenen Interessengruppen zu integrieren. Wie einst der afghanische König Zahir Schah in den 1960er-Jahren bindet daher Hamid Karzai Vertreter der wichtigsten ethnischen, regionalen und religiösen Gemeinschaften in seine Regierung ein. Wenn Hamid Karzai mit dieser Politik Erfolg haben sollte, dürfte er zum Symbol eines geglückten Nationenbildungsprozess avancieren.


Conrad Schetter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.