Hintergrund der Einschätzung als gescheiterter Staat ist vor allem die Tatsache, dass in Kolumbien der älteste innerstaatliche Krieg Lateinamerikas stattfindet, in dessen Rahmen sich verschiedene Guerillagruppen, zahlreiche paramilitärische Verbände und die staatlichen Sicherheitskräfte seit über 40 Jahren bekämpfen. Der Krieg, der sich durch Phasen wechselnder Intensität und regionaler Verbreitung auszeichnet und den bisher keine Seite militärisch entscheiden konnte, zeigt, dass dem Land ein grundlegendes Charakteristikum moderner Staatlichkeit fehlt - ein staatliches Gewaltmonopol. Aber trotzdem greift die Einordnung als gescheiterter Staat zu kurz, weil die Schwäche des kolumbianischen Staats lange Zeit sehr funktional für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo war.
Obwohl Kolumbien seit der Unabhängigkeit von Spanien und dem Zerfall Großkolumbiens - das auch Venezuela und Ecuador einschloss - immer wieder mit sich selbst im Krieg lag, handelt es sich nicht um eine an und für sich gewaltsame Gesellschaft. Gewalt wurde allerdings von der kolumbianischen Oligarchie immer wieder zur klientelistischen Integration der Bevölkerung funktionalisiert und instrumentalisiert. Während in vielen anderen Ländern Kriege - vor allem wenn sie nach außen geführt und gewonnen wurden - der Entstehung eines nationalen Bewusstseins dienten, bewirkten die internen Kriege in Kolumbien die Entstehung von zwei Subkulturen entlang der parteipolitischen Organisation in Liberale und Konservative. Die Einbeziehung breiter Bevölkerungsgruppen in die inneroligarchischen Auseinandersetzungen und der Zwang zur Parteinahme - im abstrakten und konkreten Sinn des Wortes - spaltete das Land und verstärkte die Einbindung der Bevölkerung entlang der vertikalen, hierarchischen Sozialstrukturen. Ein Teil der aktuellen Krise Kolumbiens besteht darin, dass sozialer Wandel, der Zusammenbruch des Entwicklungsmodells und auch die anhaltende Gewalt die Funktionalität dieser Struktur in den letzten Jahrzehnten untergraben und aufgelöst haben.
Oligarchische Ordnung
Während die Schwäche des kolumbianischen Zentralstaats im Kontext der oligarchischen Ordnung einerseits funktional war, konnte der Staat der Gewalt nicht-staatlicher Gruppen andererseits wenig entgegensetzen. In einer Art Teufelskreis begünstigte dies wiederum die private Ausübung der Gewalt - sei es für politische Ziele, sei es aus kriminellen Motiven, sei es zur "Selbstverteidigung".
In den 1980er-Jahren wurde die Krise dann im Kontext der Ausbreitung von Drogenhandel und -produktion, von denen beinahe alle gesellschaftlichen Gruppen in der einen oder anderen Form profitierten, vollends sichtbar. Die symbiotische Verbindung zwischen politischer, krimineller und sozialer Gewalt machte Kolumbien zum weltweiten Spitzenreiter bei den Homicidraten (Morde pro 100.000 Einwohner) und den Entführungen. Versuche, die Krise über eine Modernisierung des politischen Systems (zum Beispiel die Direktwahl der Bürgermeister seit 1985) oder über Friedensgespräche zu lösen, verstärkten die Gewalt und trugen zur Vervielfältigung der Gewaltakteure.
Die paramilitärischen Gruppen, deren zentrales Selbstverständnis das des "Staatsersatzes" und der "Selbstverteidigung" gegen die bewaffnete Systemopposition der Guerilla ist, haben seither die Dynamik der Gewalt maßgeblich bestimmt. Sie haben den Friedensprozess der Regierung von Andrés Pastrana (1998 bis 2002) mit der größten und ältesten Guerillagruppe FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) durch eine gewaltsame Säuberung ganzer Regionen von der Guerilla und deren vermeintlichen Sympathisanten konterkariert. Auch der Widerstand der traditionellen politischen und wirtschaftlichen Elite gegen grundlegende Reformen und die Verkennung der politischen Realitäten im Land auf Seiten der Guerilla trugen zum Scheitern der Gespräche bei. Das Ergebnis war eine neuerliche Eskalation der Gewalt, die die kolumbianische wie auch die internationale Öffentlichkeit zunehmend als Anarchie wahrnahmen. Hier hat die Rede vom Scheitern des kolumbianischen Staats ihren aktuellen Bezug.
Vor dem Hintergrund der gravierenden Probleme der öffentlichen (Un-)Sicherheit entstand aber auch eine Gegenbewegung, die sich - ganz entgegen dem lateinamerikanischen Trend - die Stärkung des Staats zum Ziel setzte. 2002 wurde Álvaro Uribe bereits im ersten Wahlgang mit einem Programm der Politik der "harten Hand" gegenüber den bewaffneten Gruppen zum Präsidenten gewählt. Kern seiner Strategie war die - bereits von Präsident Pastrana begonnene und von den USA, Spanien und Großbritannien unterstützte - Stärkung der staatlichen Sicherheitskräfte. Er erklärte bereits in der ersten Woche nach seinem Amtsantritt am 7. August 2002 den Zustand "innerer Unruhe", ein Ersatz für den 1991 in der Verfassungsreform abgeschafften Ausnahmezustand, in dessen Rahmen Exekutive und Militär Sonderrechte eingeräumt sowie Teile der Bürger- und Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt werden. Darüber hinaus verstärkte die Regierung vor allem die sichtbare Präsenz von Polizei und Militär im ganzen Land. Uribe kann sich hierbei auf eine große Popularität vor allem in den Städten, bei den Eliten und der Mittelschicht stützen. Die Bilanz dieser Politik nach drei Regierungsjahren ist ambivalent: Zwar haben die staatlichen Sicherheitskräfte in der militärischen Auseinandersetzung gegen die Guerilla einige Erfolge erzielt, ob dies aber einen historischen Wendepunkt darstellt oder eher eine konjunkturelle Entwick-lung ist, lässt sich derzeit noch nicht beurteilen.
Erste Gespräche zur Demobilisierung
Mit den paramilitärischen Gruppen nahm die Regierung Uribe erstmals Gespräche zur Demobilisierung auf und unterzeichnete verschiedene Abkommen. Der Prozess spiegelt allerdings sowohl die Schwäche des kolumbianischen Staates gegenüber diesen Gruppen, als auch den nur begrenzten Willen der Eliten, mit den verbündeten Paramilitärs offen zu brechen. Vor allem die fehlende strafrechtliche Verfolgung für die von ihnen begangenen gravierenden Menschenrechtsverletzungen bietet Anlass zu nationaler und internationaler Kritik. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, sie nütze den Prozess lediglich zur Legalisierung der von diesen Gruppen gewaltsam erreichten politischen und wirtschaftlichen Machtstellung. Neben diesen grundlegenden Defiziten weist die Strategie der Regierung aber auch gravierende Probleme in Bezug auf ihre Nachhaltigkeit auf: Sie ist in hohem Maße personalistisch auf die Popularität des derzeitigen Präsidenten gegründet und hängt finanziell bisher von der weiteren externen Unterstützung vor allem durch die USA ab.
Präsident Uribe versucht deshalb seine Politik durch eine Verfassungsänderung zugunsten einer zweiten Amtszeit zu verstetigen. Unabhängig von der Frage, ob das kolumbianische Verfassungsgericht die vom Parlament verabschiedete Aufhebung des Verbots der Wiederwahl absegnet, bleibt aber offen, ob Uribes Politik ein Intermezzo oder einen Wendepunkt darstellt.
Für einen qualitativen Sprung des Nation-Building bedarf es in Kolumbien nicht nur der Stärkung der staatlichen Sicherheitskräfte, sondern insbesondere der integrativen Fähigkeiten des Staates sowohl in seiner rechtsstaatlichen wie auch in seiner sozialpolitischen Dimension. Kolumbien verfügt über zahlreiche natürliche Ressourcen - Kohle, Öl, Gold, Edelsteine -, die aber bisher immer nur einer Minderheit zugute gekommen sind. Nur wenn sich hier etwas ändert und der Staat seine Verpflichtung auf das Allgemeinwohl ernst nimmt, kann eine Basis für einen tragfähigen Prozess des Nation-Building entstehen.
Dr. Sabine Kurtenbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg.