Wie streng dürfen die Maßstäbe sein, die man an den Demokratisierungsprozess in einem Land wie dem Irak anlegt? Das Land ist ein Newcomer in Sachen Demokratie. Saddam Hussein bereitete den wenigen Ansätzen ein gründliches, blutiges Ende. Es existiert keine demokratische Tradition, an die sich anknüpfen ließe. Zudem befindet sich der Irak in einem Zustand der Gewalt, der kaum ein politisches Leben zulässt. Und dennoch: Nach einem noch von der US-Regierung konzipierten Fahrplan wollte sich der Irak nach den ersten freien Wahlen im Januar dieses Jahres eine neue Verfassung geben. Gedacht war an einen nationalen Dialog unter Einschluss aller gesellschaftlichen Gruppen, in der die Identität des neuen Iraks definiert werden sollte. Das Vorhaben schlug gründlich fehl.
Die Sunniten, die die Parlamentswahlen im Januar aus Protest gegen die amerikanische Besatzung boykottiert hatten, standen dem Vorhaben von Anfang misstrauisch bis ablehnend gegenüber. Mit großen Anstrengungen wurde um ihre Mitarbeit geworben und als dann einige sunnitische Vertreter mit am Tisch saßen, stellten sie fest, dass Schiiten und Kurden wenig bereit waren, in den zentralen Punkten auf ihre Einwände Rücksicht zu nehmen.
Der Prozess entwickelte sich zu einem schwierigen Kuhhandel, bei dem keine der beteiligten Gruppen zu großen Zugeständnisse bereit war.
Um im Fahrplan zu bleiben, präsentierte das Parlament, das den Verfassungsentwurf zu verabschieden hatte, schließlich ein Dokument, das die meisten der umstrittenen Fragen ausklammert. Die Liste reicht von der Rolle des Islams im zukünftigen Rechtssystem über die Festlegung der genauen Grenzen des kurdischen Gebietes bis hin zur Aufteilung der Öleinnahmen. Die Austragung der Konflikte wurde auf später vertagt, eine weitere Etappe auf dem Weg zur Demokratie abgehakt.
Nachdem die enttäuschten Vertreter der Sunniten ankündigten, sie würden versuchen, eine Minoritäten-Klausel im Abstimmungsverfahren dazu zu nutzen, die Verfassung zu Fall zu bringen, wurde hinter den Kulissen unter der Regie des amerikanischen Botschafters weiter verhandelt.
Zwei Tage vor der Abstimmung einigte man sich schließlich darauf, die mühsam erarbeitete Verfassung nicht als endgültig anzusehen. Im nächsten Parlament soll erneut ein Ausschuss eingerichtet werden, der Änderungen beraten soll. So wurde den Wählern am 15. Oktober eine vorläufige Fassung vorgelegt, die wenig Eindeutiges darüber enthält, wie sich Schiiten, Sunniten und Kurden in Zukunft miteinander arrangieren wollen, und die zudem morgen schon nicht mehr gelten kann.
Im Vergleich zur Parlamentswahl im Januar war die Begeisterung, praktische Demokratie üben zu können, allemal nicht mehr so hoch. Die wenigsten wussten, wozu sie da eigentlich ihre Meinung abgeben sollten. Die öffentliche Aufklärung fiel recht armselig aus, mit der Verteilung der Kopien haperte es und eine Verfassung ist nicht unbedingt eine Bettlektüre, die einen in ihren Bann schlägt.
So überrascht es, dass die Beteiligung mit 63 Prozent der Abstimmungsberechtigten höher ausgefallen sein soll als noch im Januar. Mag sein, dass die Sunniten, die sich nun erstmals beteiligten, das rechnerische Plus ergeben, obwohl sie gerade ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen.
Völlig verblüffend aber ist die Feststellung der Wahlkommission, man habe bei der Abstimmung keine Unregelmäßigkeiten feststellen können. Ich selbst und viele meiner Kollegen haben vor Ort sehen können, wie mehrfach abgestimmt wurde, augenscheinlich Minderjährige Abstimmungszettel in die Urnen warfen und einzelne Personen gleich für die ganze Verwandtschaft abstimmten.
Die Vereinten Nationen, die im Hintergrund die Abstimmung mit organisiert hatten, war nicht mit Beobachtern vor Ort. Die UN-Mitarbeiter bildeten sich ihr Urteil vom benachbarten Amman aus. Vertreter der unterschiedlichen Gruppen und Parteien sollten den korrekten Ablauf überwachen. De facto kontrollierten sie sich damit selbst.
Sunnitische Vertreter waren noch am Abstimmungsabend die ersten, die den Vorwurf der Wahlfälschung erhoben. Es gibt andere, die diesen Eindruck teilen. Auf jeden Fall dürfte nicht das Vertrauen gestärkt worden sein, dass jeder an der Abstimmungsurne die gleiche Chance hat, seine Meinung zu äußern.
Von daher scheint die Erwartung, dass es immerhin gelungen sei, die Sunniten in den politischen Prozess mit einzubeziehen, etwas hochgesteckt. Zudem basiert sie auf der Annahme, dass die Sunniten, die erstmals ein Stück Demokratie geprobt und dabei verloren haben, nun die Rolle des fairen Verlierers akzeptieren werden. Einige ihrer politischen Repräsentanten mögen beim Treiben in der vom Lebensalltag des Landes isolierten "Green Zone" in Bagdad auf den Geschmack gekommen sein, aber die Mehrheit ist von diesem Politzirkus, der Demokratie genannt wird, enttäuscht.
Vielen Schiiten und Kurden geht es nicht anders. Ihnen bedeutet das Gerangel um Einfluss und Macht wenig. Sie messen die Vor- und Nachteile von Demokratie an einem schlichten Kriterium.
Im Januar haben sie mit großer Euphorie ihr erstes demokratisches Parlament gewählt. Es dauerte fast drei Monate, bis sich dieses Parlament auf eine Regierung einigen konnte, und diese Regierung stellte sich dann als große Enttäuschung heraus. Die Sicherheitslage hat sich eher verschlechtert als verbessert. Es gibt weder mehr Strom noch mehr Benzin, von bezahlter Arbeit ganz zu schweigen. Wen mag es wundern, dass unter den Irakern, die nicht Opfer seiner Herrschaft zu beklagen haben, nostalgische Gefühle für Saddam Hussein wieder populärer werden?
Selbst im kurdischen Teil, wo die beiden großen Parteien ihre Wähler immer fest im Griff hatten, wird nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand über die wachsende Unzufriedenheit mit der politischen Führung, Korruption und schamlose Bereicherung einiger weniger gesprochen.
Derweilen eilt der Demokratisierungsprozess im Sauseschritt voran. Verfassungsreferendum - abgehakt. Einen Tag nach der Abstimmung verkündigte Präsident Jalal Talabani die nächste Etappe: Wahl eines neuen Parlamentes am 15. Dezember. So sieht es der amerikanische Fahrplan vor.
Hinter sich lässt die neue politische Klasse, die nun beginnt, Wahlbündnisse zu schmieden und über das Fell des Bären zu streiten, den man im Dezember erlegen will, eine verwirrte Bevölkerung. Das soll Demokratie sein?
Nein, ist es nicht - nach welchem Maßstab auch immer.