Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 45 / 07.11.2005
Florian Hartleb

Der Stachel im Fleisch des politischen Establishments

In schwierigen Situationen findet der Populismus einen Nährboden
Der Populismus ist in aller Munde. Gerne wird er mit dem Streben nach Popularität oder mit Demagogie verwechselt, auf die kein Politiker, keine Partei verzichten kann. Als Schimpfwort meint der schillernde Begriff den Vorwurf, der andere oder die andere Partei betreibe keine sachliche Politik. Populismus ist demnach nichts anderes als Schaumschlägerei mit billigen, nicht einzulösenden Versprechungen. Doch greift diese Betrachtung, die dem Populismus den Geschmack der Geschmacklosigkeit attestiert, zu kurz.

Der Populismus-Rüffel kann selbst populistisch sein, ein Ersatz für rationale Argumente. Und er verstellt den Blick darauf, dass europaweit tatsächlich neuartige "populistische" Parteientypen aufgekommen sind, welche die Parteiensysteme teilweise ins Rotieren bringen. Der Rechtspopulismus hat sich etabliert, wie sich jüngst in Norwegen bei den Parlamentswahlen und gerade auch in dem wenig festgefügten Parteiensystem von Polen gezeigt hat. Andererseits durchläuft er in den Ländern eine Schwächephase, wo Populisten nach einem kometenhaften Aufstieg den Sprung an die Regierung geschafft haben und gerade als Juniorpartner zur Verantwortung gezogen werden. Mit wenig Raum für eigene Entfaltung müssen sie plötzlich Taten folgen lassen und die Fähigkeit zum Kompromiss lernen. Ob dieser Spagat gelingt und die Partei weiterhin ihr Image als rebellische Außenseiterpartei kultivieren kann, ist zumindest zweifelhaft.

Der einst als "Prototyp" und Modell für Europa bezeichnete Jörg Haider musste gerade bei den Wahlen in der Steiermark und in Wien Pleiten seiner neu gegründeten FPÖ-Abspaltung (BZÖ) erleben. Die Liste Pim Fortuyn in den Niederlanden hatte ohne ihren ermordeten Parteigründer keine Überlebenschance. Der italienische Ministerpräsident und Medienmogul Silvio Berlusconi hat an der Macht mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. In Deutschland wiederum, wo der Rechtspopulismus in einem vorbelasteten Klima agieren muss und die Medien erhebliche Berührungsängste zeigen, sind ad-hoc-Phänomene wie die Hamburger Schill-Partei von "Richter Gnadenlos" Ronald Barnabas Schill längst in Vergessenheit geraten. Gleichwohl weist das vor der Bundestagswahl 2005 aus der Taufe gehobene Linksbündnis um Gregor Gysi und Oskar Lafontaine erstaunliche strukturelle und inhaltliche Parallelen zu den Rechtspopulisten auf. Es fand Medienresonanz, trat kopfzentriert auf und hantierte mit dem Einsatz gezielter Tabubrüche (zum Beispiel Lafontaines umstrittene und viel kritisierte "Fremdarbeiter"-Äußerung). Wesentliche Erfolgsursache war jedoch der aggressive Sozialprotest gegen "Hartz IV", als "Beharrungspopulismus" gepaart mit dem Propagieren sozialer Wohltaten nach dem Gießkannenprinzip. So wundert es nicht, dass seither erstmalig das Schlagwort des Linkspopulismus - meist diskreditierend verstanden - durch die deutsche Politik und Öffentlichkeit geistert.

Die Sprecher des kleinen Mannes

Doch zurück zu den Rechtspopulisten. Sind sie die klassischen Rechten im neuen Gewand, die sich lediglich den aktuellen Gegebenheiten angepasst haben? Nein, der Populismus kann an sich durchaus vereinbar sein mit dem demokratischen Verfassungsstaat und dessen Werten. Populistische Parteien warten in der Regel nicht mit rückwärtsgewandten Tönen auf. Nicht unbedingt arbeiten sie auf die Abschaffung der in der Verfassung niedergelegten demokratischen Spielregeln hin. Populismus und Extremismus können wie im Fall des französischen Front National Hand in Hand gehen, müssen es aber keineswegs. Mit anderen Worten: Der Rechtspopulismus verfügt über kein historisch fundiertes Feindbild.

In ihrer Selbstdarstellung behaupten Populisten vollmundig, Stachel im Fleisch des politischen und medialen Establishments zu sein. Die Vorgabe einer anti-elitären Haltung charakterisiert auch populistische Parteien, an deren Spitze zwangsläufig eine charismatische Führungspersönlichkeit stehen muss. Das Schicksal der Partei ist mit dem des Parteiführers verbunden, die Identität der Partei verschmilzt mit derjenigen des Führers nahezu vollständig. Der "Kopf" der Partei pflegt das Bild des "Anti-Politikers", der sich seine Sporen anderswo erworben hat. Er gibt vor, wie Silvio Berlusconi oder Christoph Blocher, aus Uneigennützigkeit und edlen Motiven getrieben zum Politiker wider Willen geworden zu sein. Als selbst ernannter Sprecher des "kleinen Mannes" und der "schweigenden Mehrheit" handelt der Populist gemäß einer "umgekehrten Psychoanalyse". Er nähert sich seinem Publikum mit der genau gegenteiligen Intention, mit welcher der Analytiker auf die zu therapierende Person zugeht. Der Populist greift die individuellen Ängste auf und verstärkt sie gezielt mit dem Zweck, den Patienten nicht mündig werden zu lassen. Ronald Barnabas Schill verabschiedete sich im erfolgreichen Bürgerschaftswahlkampf 2001 bei seinen Veranstaltungen mit den Worten: "Kommen Sie gut nach Hause und lassen sie sich bloß nicht überfallen!" Die Akzeptanz des Führercharismas seitens der Anhänger richtet sich dabei stark nach dem Erfolg: Das Charisma hängt unmittelbar mit dem Siegerimage zusammen, geht dieses verloren, ist die Existenzberechtigung des Anführers gefährdet.

Nach populistischer Unterstellung vernachlässigen Repräsentationsorgane wie die Parlamente die tatsächlichen Bedürfnisse des "Volkes". Der gordische Knoten moderner Politik wird mit dem Schwert holzschnittartiger Lösungsvorschläge zerschlagen. Es kommt häufig zum Phänomen, politische Sachverhalte auf ein leicht nachvollziehbares Ergebnis zu übertragen. Als populistische Grundposition dient die Beschwörung einer Wir-Identität, die es abzugrenzen gilt. Die von Populisten geschürten, latent vorhandenen Vorteile des "Volkes" richten sich vertikal gegen "die-da-oben" und horizontal "die-da-draußen". Feindbilder sind neben der politischen Klasse, den "Altparteien" die Gruppen der Immigranten, Kriminellen und "Sozialschmarotzer". Der Populismus knüpft am Alltagsverstand an und mobilisiert dadurch versteckte Wünsche und verdeckte Widersprüche. In Zeiten eines raschen Strukturwandels, leerer öffentlicher Kassen und hoher Arbeitslosigkeit fällt es leicht, die in Europa geführte Zuwandererdiskussion zu instrumentalisieren. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen finden populistische Argumente gegen die Zuwanderung einen aufnahmebereiten Nährboden. Generell erscheint die Globalisierung als etwas Böses, das "von außen" kommt. Die Schwächung der staatlichen Interventionsmöglichkeiten soll die politische Klasse ihrer Machtbasis berauben und sie damit nach dem Motto "weniger Macht für die Funktionäre, mehr Macht für die Bürger" schwächen.

Häufig fungieren die etablierten Parteien als Wegbereiter der Populisten. Ein Blick auf Deutschland im Jahr 2005 bestätigt diese Beobachtung, denkt man an Edmund Stoibers Schuldzuweisung ("Gerhard Schröder ist schuld am Wahlerfolg der NPD in Sachsen") oder Franz Münteferings Kapitalismuskritik ("Heuschrecken"). Eine Agitation gegen die EU ist nicht den rechtspopulistischen Parteien vorbehalten. Gerade die euroskeptischen und -feindlichen Stimmungen greifen markige Politiker jeder Couleur gerne auf. Das gängige Vorurteil gegen die vermeintlich unverhältnismäßige EU bleibt unwidersprochen, auch wenn die Politiker wissen, dass die bürokratische Durchdringung in den Mitgliedstaaten nicht geringer ausfällt. Rechts-populistische Parteien haben hier leichtes Spiel: Sie müssen nur einen Schritt weitergehen und vor allem simple Lösungen anbieten. Die großen Parteien stehen vor einer Herausforderung. Sie müssen die Vereinfachung vermeiden und doch die Komplexität der Dinge verständlich machen. Der grassierende Talkshow-Charakter von Politikvermittlung zwischen Phrasen und Fachsprache erweist sich dabei nicht als förderlich.


Der Autor ist Lehrbeauftragter im Fachbereich Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.