Noch wirkt es nur wie ein Alptraum, den man sich morgens leicht von den Augen wischt: Irgendwann, in 20, 30 oder 40 Jahren, werden Öl und Gas verbraucht sein. Und dann? Im Wohnzimmer bleibt es dunkel und kalt. Zur Arbeit gehen wir zu Fuß, denn Benzin und Diesel gibt es nicht mehr. Die industrielle Produktion und vieles andere, was lange zu unserem Leben gehörte, hat sich langsam aus unserem Alltag verabschiedet. Der Tagesablauf hat sich verändert. Oder nicht?
Die fossilen Brennstoffe Öl und Gas werden in den nächsten Jahrzehnten zur Neige gehen. Aber vielleicht kommt es im Zuge dessen trotzdem nicht zu den gesellschaftlichen Umwälzungen und internationalen Verteilungskämpfen, die uns manche Forscher voraussagen. Denn möglicherweise findet die Wissenschaft Alternativen zu den knappen Rohstoffen, von denen wir noch so abhängig sind. Einer der großen Hoffnungsträger ist dabei die Graue Gentechnik.
Dieser Bereich der Technologie, der manchmal auch als Weiße Gentechnik bezeichnet wird, setzt die gentechnischen Verfahren in der Mikrobiologie ein. Der Verbraucher kennt schon seit langem Produkte, die mit Hilfe von Grauer Gentechnik hergestellt werden, und verwendet sie oftmals ohne es zu wissen. Die Hersteller von Waschmitteln beispielsweise setzen dem Seifenpulver Enzyme bei, um die Wäsche auch mit geringen Temperaturen besser von Blut-, Eis- oder Eiweißflecken befreien zu können. Diese Enzyme sind Produkte der Grauen Gentechnik, genauso wie viele andere Hilfsmittel in der pharmazeutischen und chemischen Industrie. Laut der Unternehmensberater von McKinsey entstehen fast fünf Prozent aller chemischen Produkte weltweit bereits mit Hilfe biotechnologischer Verfahren.
Forscher hoffen nun, mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen umweltfreundliche Brennstoffe und andere Rohstoffe erzeugen zu können und dabei vielleicht sogar gleichzeitig Umweltgifte zu beseitigen. Die Bakterien, die so etwas vollbringen können, existieren bereits in der Natur. So gibt es verschiedene Kleinstlebewesen, die das Treibhausgas Methan zu Wasser und Kohlendioxid oxidieren. Ihre Kollegen absorbieren Kohlendioxid und verbinden es mit Wasserstoff zu organischen Kohlenstoffverbindungen. Und eine weitere Gruppe von Bakterien und Algen ist sogar seit Milliarden von Jahren in der Lage, mit Hilfe spezieller Eiweiße, der so genannten Hydrogenase, den Energieträger Wasserstoff zu produzieren.
An diesen Mikroorganismen sind die Forscher besonders interessiert. Denn Wasserstoff gilt als Energieträger der Zukunft.
Wenn man Wasserstoff verbrennt, entstehen, anders als bei Öl, Gas, Holz und anderen fossilen Brennstoffen, keine Treibhausgase oder schädlichen Rückstände. Wasserstoff verwandelt sich in sauberes Wasser und setzt dabei Energie frei. Darüber hinaus ist der Vorrat dieses Energieträgers theoretisch nicht begrenzt, denn er lässt sich immer wieder aufs Neue herstellen. Zum Beispiel, indem man Wasser wieder in Sauerstoff und Wasserstoff spaltet. Dazu braucht man allerdings Energie, und genau das ist das Problem. Der Brennstoffkreislauf erzeugt keine zusätzliche Energie, sondern funktioniert eher wie eine Batterie: Auf der einen Seite fließen die Joule hinein, auf der anderen Seite entladen sie sich wieder. Der einzige Vorteil des Sys-tems bestünde darin, dass Wasserstoff transportabel ist und genug Energie mit sich führen kann, um beispielsweise ein Auto anzutreiben. Erzeugt werden müsste der Verbrauch aber auf herkömmlichem, also umweltschädlichem und ressourcenabhängigem Weg wie durch Atomkraft oder durch die alternativen Energieträger Wind, Wasser, Sonne.
Die Mikroorganismen können mehr. Manche von ihnen nutzen die Sonne zwar ebenfalls als Energieträger. Aber anders als die vom Menschen hergestellten Solarzellen müssen sie weder produziert noch gewartet werden. Sie vermehren und regenerieren sich selbst, und das bereits seit Milliarden von Jahren. Das einzige, was sie dazu brauchen, sind günstige Lebensbedingungen und genügend Nahrung - also der Stoff, den sie umwandeln sollen. Zumindest theoretisch. Denn noch wissen die Forscher zu wenig über die kleinen Lebewesen, um mit Gewissheit sagen zu können, wie sie funktionieren. Das herauszufinden ist eine Aufgabe, die sich die Graue Gentechnik gestellt hat.
Das Unternehmen ist nicht leicht. Forscher aus aller Welt bereisen seit einigen Jahren die Ozeane, bohren mit großem Aufwand tief auf dem Meeresgrund oder in stinkenden Schwefelquellen, reisen bis ins ewige Eis oder zapfen schwermetallverseuchte Bodenschichten an, um an Proben der geheimnisumwitterten Lebewesen zu gelangen. Insgesamt gibt es schätzungsweise zwischen zehn und 100 Millionen verschiedene Mikroorganismen, von denen erst rund 5.700 erforscht sind. Viele von ihnen leben an Orten, die uns Menschen vollkommen unwirtlich vorkommen. Selbst erdölverunreinigtes Wasser und radioaktiv verseuchte Abfälle schrecken manche nicht ab - im Gegenteil, sie lieben und genießen es. Schadstoffe gehören für sie zur Nahrung, und genau das macht sie so interessant. Neben der Energieknappheit hoffen die Forscher, mit der Grauen Gentechnik in Zukunft auch die Umweltverschmutzung beseitigen zu können.
Im Labor angekommen, machen sich die Wissenschaftler zunächst daran, das Erbgut der Mikroben zu entschlüsseln. Craig Venter, der mit seiner Firma Celera entscheidend an der Sequenzierung des menschlichen Genoms beteiligt war, ist übrigens heute einer derjenigen, der über die Weltmeere reist, um das Potenzial der Grauen Gentechnik zu erforschen. Am Ende will er eine Weltkarte der Gene präsentieren. Die Apparaturen, die er dazu braucht, stehen in einem neuen, nach ihm benannten Institut in Rockville im US-Bundesstaat Maryland. Es ist eines der größten Genlabore der Welt und mit Sicherheit nicht eines der erfolglosesten. Im Sommer 2002 unternahm Venter eine Expedition in der Nähe der Bermuda-Inseln. In den mitgebrachten Proben entdeckten seine Mikrobiologen 1,2 Millionen neue Gene. 50.000 von ihnen verarbeiten Wasserstoff. Das bedeutet allerdings weder, dass die Wissenschaftler sämtliche Geheimnisse der Mikroorganismen gelüftet hätten, noch dass Craig Venter mit Hilfe der winzigen Lebewesen indus-triell Wasserstoff produzieren könnte. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
In der Zwischenzeit arbeiten ehrgeizige Wissenschaftler weltweit daran, die Mikroorganismen genetisch zu verändern. Eines der Ziele ist es dabei, die Lebewesen so zu manipulieren, dass sie unter Labor- oder industriellen Bedingungen das gleiche tun wie in der Natur, nur noch effektiver: Schadstoffe abbauen und dabei Energie erzeugen. Von den überwältigend vielen verschiedenen Organismen lässt sich derzeit schätzungsweise nur ein Prozent im Labor kultivieren. Um die extremen Lebewesen zu domestizieren, tauschen die Forscher beispielsweise genetische Informationen zwischen verschiedenen Arten aus oder schleusen die entscheidenden Gene einer Art in Zellen einer anderen Art, die aufgrund ihrer natürlichen Lebensbedingungen einfacher handzuhaben sind.
Auch die Natur selbst kennt den Austausch genetischer Informationen zwischen verschiedenen Zellen. Doch das, was die Wissenschaftler im Labor mit Nachdruck zu erreichen versuchen, würde die Evolution normalerweise wesentlich vorsichtiger und langsamer angehen: Die genetischen Veränderungen, die die Forscher anstreben, würden vermutlich tausende von Jahren dauern, wenn sie überhaupt stattfinden würden. Obwohl es also auch bei der Grauen Gentechnik noch unbeantwortete ethische Fragen gibt, ist es wohl die Richtung, die in der Öffentlichkeit am unstrittigsten ist. Und das hängt einerseits mit den großen Chancen zusammen, die sie zu bieten hat, und andererseits mit einem relativ hohen Sicherheitsgefühl, das sie derzeit noch zu vermitteln vermag.
Bislang gilt die Graue Gentechnik als besonders risikoarm, weil die veränderten Mikroorganismen, anders als gentechnisch verändertes Saatgut beispielsweise, in geschlossenen Behältern erzeugt und gehalten werden können. Bei der Entnahme werden sie kontrolliert getötet.