Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 28 - 29 / 10.07.2006
Marina Mai

Ein Getreide auf dem Rückzug

Industrieboom in China und Agrarsubventionen in den USA führen zum Rückgang des Reisanbaus in Asien und Lateinamerika

Reis, das Hauptnahrungsmittel der Menschheit, könnte weltweit bald zu einem knappen Gut werden. Eine Studie des US-Agrarministeriums vom Februar sagt bereits für die nahe Zukunft einen globalen Reismangel voraus und macht dafür den Rückgang der Agrarflächen im Hauptanbauland China verantwortlich. Industrieboom, Straßenbau und Umweltsünden verschlingen dort landwirtschaftliche Nutzflächen. In diesem Jahr muss das 1,3 Milliarden Einwohner zählende Land laut US-Agrarministerium erstmals seit Jahrzehnten Reis in Größenordnungen auf dem Weltmarkt einkaufen. Die Studie geht von 720.000 Tonnen aus. Auch ein zweites bevölkerungsreiches Land in Asien, die Philippinen, haben für 2006 erstmals einen Bedarf an Reisimporten angemeldet. Das Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung des Inselstaates orderte 1,87 Millionen Tonnen Reis aus Thailand, Vietnam, Pakistan, Australien und den USA.

Lagerbestände werden knapp

Hinzu kommt: Die weltweiten Lagerbestände an Reis waren nach Angaben des US-Agrarministeriums noch nie so gering im Verhältnis zur Weltbevölkerung wie heute. Allein in den vergangenen 12 Monaten sollen sie von 74 auf 66 Millionen Tonnen geschrumpft sein, hauptsächlich in China.

"Der Rückgang der Reisproduktion in China ist eine Tatsache," bestätigt Dagmar Yü-Dembski vom Konfuzius-Institut der Freien Universität Berlin. "In der chinesischen Öffentlichkeit wird darüber diskutiert, dass den Bauern die materiellen Anreize zum Reisanbau fehlen. Sie verdingen sich lieber als Wanderarbeiter in den boomenden Städten. Und die verbliebenen Bauern verdienen besser, wenn sie hochwertiges Gemüse für die Luxushotels an der Ostküste anbauen."

Ein ähnliches Bild beginnt sich bereits im Nachbarland Vietnam abzuzeichnen, das der zweitgrößte Reisexporteur der Welt nach Thailand ist. Noch vor fünf Jahren war das Delta des Roten Flusses rund um Hanoi eine einzige Reisanbaufläche, unterbrochen lediglich von einzelnen Wohnhäusern, Pagoden oder Friedhöfen. Selbst in Außenbezirken der Hauptstadt gab es Reisfelder. Heute muss man mindestens 50 Kilometer aus der Stadt hinaus fahren, um ein Reisfeld zu sehen. In den Hanoier Außenbezirken sind dringend benötigte neue Wohnviertel auf ehemaligen Reisfeldern entstanden. Und rund um die Stadt herum boomen die Industrieanlagen. Hanoier Bauern bevorzugen inzwischen Obst und Gemüse, das sie selbst auf die Märkte der Stadt fahren. Damit verdienen sie mehr. Zudem wurden im Zuge der Industrialisierung die sozialen Beziehungen zerstört, die für Reisbau erforderlich sind. Die schwere körperliche Arbeit - beim Setzen der Sprösslinge stehen die Landwirte knietief im Wasser und Blutegel machen sich an ihren Beinen zu schaffen - erfordert ein hohes Maß an Arbeitsteilung in funktionierenden Großfamilien und Dorfgemeinschaften. Wenn die jüngeren Dorfbewohner in der Industrie arbeiten, brechen diese Strukturen zusammen.

Reis liefert mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung und mehr als 80 Prozent der Asiaten den Hauptanteil an Kalorien. Die Weltproduktion liegt nach Angaben des amerikanischen Agrarministeriums im laufenden Jahr bei 410 Millionen Tonnen. Das ist gegenüber dem Vorjahr zwar eine Zunahme um fast acht Millionen Tonnen. Doch die Nachfrage steigt schneller.

Das Internationale Reisforschungsinstitut IRRI auf den Philippinen, ein mit internationalen Entwick-lungshilfegeldern finanziertes Non-Profit-Institut, macht seit Jahren auf die steigende Nachfrage aufmerksam: Reis ist in Staaten mit einem raschen Bevölkerungswachstum Hauptnahrungsmittel. Jedes Jahr müssten 80 bis 100 Millionen zusätzliche Menschen mit dem weißen Getreide ernährt werden. In den nächsten 35 Jahren müsse die globale Reisproduktion um 70 Prozent steigen, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren und den Hunger zu beseitigen, hat das IRRI errechnet.

Doch: Das Bevölkerungswachstum bedeutet auch ein Wachstum der Städte, die Reisland verschlingen. Zudem führen Klimaveränderung und Erosion dazu, dass gutes Reisland rar wird. "In Asien sind arme Bauern und Landlose gezwungen, äußerst erosionsgefährdetes oder marginales Land zu bearbeiten", konstatiert das IRRI. Die Lösung seien ertragreichere Reissorten. "Bis 2025 muss der Durchschnittsertrag auf acht Tonnen pro Hektar künstlich bewässerter Reisfläche und 3,6 pro Hektar regenbewässserter Reisfläche ansteigen", so ein IRRI-Bericht. Heute liege er bei fünf Tonnen oder 1,9 Tonnen.

Die britische Entwicklungshilfeorganisation Oxfam macht die Politik der reichen Industriestaaten, insbesondere der USA, dafür verantwortlich, dass in Entwicklungsstaaten zunehmend die Anreize fehlen, Grundnahrungsmittel anzubauen. Die Industriestaaaten missbrauchen Oxfam zufolge internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation WTO, den Internationalen Währungsfond und die Weltbank, um ihre hoch subventionierten Agrarüberschüsse in Entwicklungsländern abzusetzen. Das vernichte bäuerliche Existenzen in den ärmsten Regionen. So subventionierten die USA 2003 ihre Reisernte mit 1,3 Milliarden Dollar. Es ermöglichte ihnen, Reis zu einem Preis von 34 Prozent unter den Produktionskosten auf den Weltmarkt zu werfen. Dadurch schadeten sie armen Ländern in Afrika und Lateinamerika.

Wollen Entwicklungsländer Kredite aufnehmen, müssen sie ihre Landwirtschaft auf exportorientierte Produkte umstellen, damit die Schulden an die Industriestaaten zurückgezahlt werden können. Die Reduktion des Anbaus von Reis wird dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern begrüßt. Während Schwellenländer wie Thailand oder Südafrika von der Umstellung profitieren, müssen die ärmsten Entwicklungsländer mehr Geld für den Import von Grundnahrungsmitteln verwenden, als sie durch ihre Exporte einnehmen. Wenn etwa ein Entwicklungsland von den Vorteilen der Welthandelsorganisation profitieren will, fordern die Industriestaaten eine Öffnung des nationalen Marktes für Importe, beklagt Oxfam.

Beispiel Haiti: Unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds wurde das zentralamerikanische Land 1995 gezwungen, die Importzölle für Reis von 35 Prozent auf nur drei Prozent zu senken. Als Ergebnis stieg der Reisimport in neun Jahren um 150 Prozent. Heute kommen drei von vier Portionen Reis, die in Haiti gegessen werden, aus den USA. Die rund 50.000 einheimischen Reisbauern sind die Verlierer. Sie gehören nunmehr zu den Ärmsten in diesem ohnehin ärmsten Land Lateinamerikas.

"Reiche Länder fordern von armen Ländern, ihre Handelsbarrieren zu beseitigen und zugleich fahren sie fort, eigene Überproduktion und Dumping zu fördern. Ihre eigennützigen Motive könnten nicht offensichtlicher sein", so Phil Bloomer von Oxfam.

Erstmals seit Jahren steigt 2006 der Reispreis global an. Der zweitgrößte Exporteur Vietnam gibt den Preisanstieg seit Jahresbeginn mit 13 Prozent an. Auch in europäischen Supermärkten ist Reis nun teurer. Der Berliner Goßhändler Le Luong Can, der Reis aus Thailand und Vietnam bezieht, sagt: "Meine Lieferanten sagen mir, die Chinesen kaufen ihnen riesige Bestände ab und sind bereit, dafür jeden Preis zu zahlen."

Und die Exportstaaten reagieren auf die neue Situation. Thailand, der größte Reisexporteur weltweit, plant, gemeinsam mit Vietnam, Indien und Pakistan seine Exportstrategien nach Nahost und Afrika abzustimmen. Rachane Potjanasutom vom Thailändischen Handelsministerium sagte im April gegenüber Medien, in der Vergangenheit hätten die Reisanbieter oft die Preise reduziert, um miteinander konkurrieren zu können. Doch der Markt der Zukunft würde es ihnen erlauben, anders aufzutreten. Eine neue Hungersnot dürfte da nur noch eine Frage der Zeit sein.

Das US-Agrarministerium prognostiziert schon, dass die weltweiten Reisvorräte bald nicht mehr reichen und freut sich, seinen Weizenüberschuss gewinnbringend abzusetzen. Wohlhabende Asiaten sollen nach dem Wunsch der amerikanischen Agrarlobby auf den Geschmack amerikanischer Fastfoodprodukte auf Weizenbasis kommen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.