Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Karl Feldmeyer

An zwei von der Stasi gekauften Stimmen gescheitert

Zum Tod von Bundestagspräsident a. D. Rainer Barzel
Rainer Barzel - das ist ein Mann, mit dem ein Großteil der heute Lebenden keine persönliche Begegnung mehr hatte und an den sie keine konkrete Erinnerung besitzt. Das hat einen einfachen Grund: Die Zeiten, in denen er die Politik, die Nachrichten und die Schlagzeilen dominierte, liegen weit mehr als 20 Jahre zurück. Am 26. August ist er im Alter von 82 Jahren in München gestorben.

Grund genug sich seiner zu erinnern, denn Barzel war eine der herausragenden Persönlichkeiten in der politischen Entwicklung der jungen Bundesrepublik: Faszinierend in seinem steilen Aufstieg wie in seinem lange rätselhaften politischen Scheitern. Heute kennt man den Grund: Er wurde genau in dem Augenblick politisch gemeuchelt, als er das Amt des Bundeskanzlers schon in seinen Händen wähnte: Das MfS, der Staatssicherheitsdienst der DDR, schlug zu. Der damalige Chef seiner Spionageabteilung, Markus Wolff, hat es selbst zugegeben. Aber zunächst einmal der Reihe nach.

Barzel kam am 20. Juni 1924 im ostpreußischen Braunsberg am Frischen Haff zur Welt, wo sein Vater Oberstudienrat war. Kurz danach zog die Familie nach Berlin. Sie war katholisch, Barzel, eines von sieben Kindern, ging dort ins Jesuitengymnasium, machte 1941 Abitur, um danach zur Luftwaffe eingezogen zu werden. 1943 war er Leutnant, 1945 hatte er alle Untergänge überlebt. Von nun an fällt das ungewöhnliche und sich steigernde Tempo seines beruflichen und politischen Aufstiegs auf.

Noch 1945 beginnt er in Köln mit dem Jura-Studium, das er 1949 mit der Promotions-Note "sehr gut" und der Referendarsexamens - Note "gut" - abschließt. Da hatte er sein erstes Buch: "Die geistigen Grundlagen der politischen Parteien" bereits veröffentlicht (1947). Schon zwei Monate bevor er sein Examen abgelegt hatte, war dem politisch in der CDU aktiven Barzel der Einstieg in die nordrhein-westfälische Verwaltung gelungen. Zunächst als Referent der NRW-Vertretung beim Bi-Zonenrat in Frankfurt, dann als Vertreter des damaligen NRW-Ministers für Bundesangelegenheiten, Carl Spieker, der zu seinem politischen Mentor werden sollte, arbeitet sich Barzel rasch nach oben. Nach nur sechs Jahren ist er Ministerialrat und Berater des Ministerpräsidenten Arnold. Als im Oktober 1956 Arnold stürzt, wechselt er völlig in die Politik und wird für wenige Monate geschäftsführendes Mitglied im Landespräsidium, um zwölf Monate später als Abgeordneter in den Bundestag einzuziehen - und 30 Jahre lang zu bleiben.

Auch hier sichert ihm seine Dynamik und sein politischer Instinkt rasch Aufmerksamkeit, sei es für sein antikommunistisches Komitee "Rettet die Freiheit", sei es durch seine emsige Fraktionsarbeit. 1960 - also noch in seiner ersten Legislaturperiode wird er in den Fraktionsvorstand gewählt, kurz darauf erregt seine Studie ("Barzel-Studie") über die strukturellen Probleme der CDU Aufsehen. Da ist er 38 Jahre jung, fünf Jahre im Parlament und schon Minister. Adenauer macht den Hoffnungsträger noch zu seinem Minister für gesamtdeutsche Fragen. Aber das ist er nur für zehn Monate, dann bietet ihm die Erkrankung des Fraktionsvorsitzenden von Brentano die Chance an dessen Stelle zu treten: zunächst kommissarisch, dann nach dessen Tod im November 1964 offiziell. Da ist Barzel gerade 40 Jahre.

Scharfzüngiger Redner

Was ist das Erfolgsgeheimnis dieses Mannes, der an seinen Mitbewerbern um Macht und Einfluss vorbeizieht? Es sind vor allem seine Fähigkeit unterschiedliche Positionen zusammen zu führen und seine blendenden Fähigkeiten als Redner. Barzel nutzt seinen juristisch geschulten Verstand zu schneidend scharfer Argumentation. Er kann seine Zuhörer überzeugen, ja wenn nötig in Hoffnung einhüllen, sodass ihnen ihre eigenen Wünsche mit ihm erreichbar erscheinen. Das ist zu einer Zeit, in der es um die Ostpolitik, und um die Anerkennung der für viele verhassten DDR sowie um das Beharren auf dem "Recht auf Heimat" auch jenseits von Oder und Neiße geht, von kaum zu überschätzender Bedeutung. Barzel weiß Brandt und später auch Helmut Schmidt Paroli zu bieten. Dass er die Farben seiner Reden häufig übertrieben dick aufträgt, wirkt manieriert und schadet seiner Glaubwürdigkeit. Wehners bissige Bemerkung, er ziehe eine Ölspur hinter sich her, kam damals nicht von ungefähr.

An seiner taktischen Überlegenheit gegenüber den meisten Konkurrenten ändert das nichts. Sie wächst in den nun folgenden Jahren der Großen Koalition. Die steht formaliter unter der Ägide von Bundeskanzler Kiesinger und Vizekanzler Brandt, realiter aber hauchen ihr die beiden Fraktionsvorsitzenden Kraft und die Fähigkeit zum Handeln ein. Die beiden aber sind Rainer Barzel und Helmut Schmidt. Damals entsteht zwischen den beiden grundverschiedenen Männern Respekt, Wertschätzung und eine Freundschaft, die bis zum Ende von Barzels Leben hält.

"So nicht!"

Die Bundestagswahl 1969 führt erstmals zu einer Koalition von SPD und FDP. Brandts neue Ostpolitik stößt nicht nur auf starke Ablehnung in den eigenen Reihen. Sie führt auch zu so vielen Übertritten aus beiden Koalitionsfraktionen in die der CDU/CSU, dass Barzel eine Mehrheit für sich sieht und Brandt durch ein "Konstruktives Misstrauensvotum" ablösen will. Er glaubt, sich der Kanzlermehrheit von 249 Stimmen sicher. Wehner, der SPD-Fraktionsvorsitzende, und Karl Wienand, sein Erster Parlamentarischer Geschäftsführer, setzen alle Hebel in Bewegung, um dies zu verhindern. Das MfS hilft und kauft dem korrupten CDU-Abgeordneten Julius Steiner für 50.000 Mark sowie einem zweiten, bis heute unbekannten Abgeordneten, deren Stimme ab.

Mit diesem Scheitern hatte die politische Laufbahn Barzels ihren Zenit überschritten. Auch die Tatsache, dass er ein Jahr zuvor zum Parteivorsitzenden gewählt worden war und damit die beiden Spitzenämter Partei- und Fraktionsvorsitz in seiner Hand vereinte, konnte daran nichts ändern. Die Fraktion, auf die es letztlich ankommt, zweifelte an seinem Erfolg und an seinem Kurs, denn Barzel versuchte die Union aus ihrer kategorischen Ablehnung der Ostverträge zu lösen Statt des glatten "Nein" formulierte er sein "So nicht!" Auch setzte er in der parlamentarischen Beratung der mit Polen und der Sowjetunion ausgehandelten Verträge Änderungen durch, um sie seiner Fraktion zustimmungsfähig zu machen. Damit scheiterte er. Zu mehr als zur Stimmenthaltung war die nicht zu bewegen. Das zehrte an seiner Führungsautorität. Durch die verlorene Bundestagswahl vom November 1972 nahm sie zusätzlich Schaden. Die Mehrheit der Fraktion konnte er nicht überzeugen. Als sich im Mai 1973 die Mehrheit der Fraktion bei der Abstimmung im Bundestag über den Beitritt der Bundesrepublik zur UNO weigerte, Barzels Empfehlung zu folgen und zuzustimmen, waren die Würfel gefallen. Barzel legte den Fraktionsvorsitz nieder und verzichtete auf eine Wiederwahl zum CDU-Vorsitzenden. Der Weg an die Macht war für Helmut Kohl frei.

Damit war der politische Höhenflug von Rainer Barzel beendet, auch wenn er sein Bundestagsmandat bis 1987 beibehielt. Was folgte, waren politische Trostpflaster, die ihm sein Nachfolger Kohl gewährte. An der persönlichen Antipathie und der politischen Distanz, die das Verhältnis zwischen beiden prägte, änderte das allerdings nichts. Nachdem Kohl am 1. Oktober 1982 Bundeskanzler geworden war, ernannte er Barzel zum Minister für innerdeutsche Beziehengen. Und nach der im Mai 1983 gewonnenen Wahl, wurde Barzel Bundestagspräsident. Doch auch in diesem Amt blieb er nur kurze Zeit. Die Flick-Affäre wurde ihm zum Verhängnis, weil der Verdacht aufgekommen war, Zahlungen über 1,7 Millionen Mark von Flick an die Frankfurter Anwaltskanzlei, in der Barzel nach seinem Rücktritt vom Fraktionsvorsitz nebenberuflich mitgearbeitet hatte, seien in Wirklichkeit für ihn bestimmt gewesen. Barzel bestritt alle Verdächtigungen, trat aber im Oktober 1984 vom Amt des Bundestagspräsidenten zurück und schied mit dem Ende der Legislaturperiode aus dem Bundestag aus. Die Wiedervereinigung, an die er geglaubt und für die er sich über Jahrzehnte eingesetzt hatte, durfte er nicht mehr als aktiver Politiker erleben.

Was an ihm letztlich stärker beeindruckt hat, als die Bravour seines politischen Aufstiegs, das ist die menschliche Qualität, die er im Umgang mit diesen Schicksalsschlägen ebenso bewiesen hat, wie mit denen, die er in seinem Privatleben erdulden musste. Seine Tochter beging 1977 Selbstmord, seine erste Frau starb zwei Jahre danach an Krebs, seine zweite kam 1995 durch einen Autounfall ums Leben. Seine feste Verwurzelung in seiner Kirche half ihm, dies ebenso wie alle anderen Schicksalsschläge an denen sein Leben reich war, zu ertragen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.