Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006

Mehr Offenheit und Differenzierung

Interview mit Udo Steinbach, Leiter des Orient-Instituts in Hamburg, über das Verhältnis des Westens zum Islam
Seit 1976 leitet Udo Steinbach das "Deutsche Orient-Institut" in Hamburg. Der Islamwissenschaftler, der auch die Regierung berät, glaubt, dass der Westen mitverantwortlich ist für das Aufkommen des islamistischen Terrorismus. Seine Forderung: mehr Offenheit gegenüber dem Islam.

Das Parlament        Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind fünf Jahre vergangen. Können wir nachvollziehen, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte?

Udo Steinbach         Noch immer ist nicht kritisch und selbstkritisch reflektiert, was eigentlich geschehen ist. Sonst wären nicht danach im "Kampf gegen den Terrorismus" so viele Fehler gemacht worden. Der Terror zeigt sich heute keineswegs eingedämmt; er ist virulenter, bösartiger und verbreiteter als eh und je. Wir haben noch nicht verstanden, dass er nicht allein mit Waffen bekämpft werden kann.

Das Parlament        War es also nicht richtig, das Taliban-Regime in Afghanistan im Herbst 2001 anzugreifen?

Udo Steinbach         Diese Entscheidung war eine der wenigen richtigen Entscheidungen bei der Bekämpfung des Terrors. In Afghanistan hatte sich ein Regime etabliert, das sich außerhalb der internationalen Ordnung stellte und anti-westliche Terror-Organisationen unterstützte. Auch sollte man nicht vergessen, dass die Proteste in der islamischen Welt im Kontext des Krieges gegen die Taliban im Herbst 2001 nur marginal ausfielen.

Das Parlament        Wie hat sich das militärische Eingreifen der USA nach dem 11. September auf die internationale Politik in der Region ausgewirkt?

Udo Steinbach         Eindeutig negativ. Anstatt sich weiter militärisch auf Afghanistan zu konzentrieren und das Land zu befrieden, haben die USA den Irak angegriffen. Militärische Kapazitäten wurden so geschwächt. Zugleich hat man in der islamischen Welt den Eindruck entstehen lassen, es gehe gar nicht um den "Krieg gegen den Terrorismus", denn das irakische Regime unterstützte die Islamisten nicht. Mit dem Irak-Krieg wurde die Feindschaft der islamischen Welt gegen den Westen geschürt, weil die Wahrnehmung vorherrscht, es gehe Amerika nicht in erster Linie um den Kampf gegen den Terror, sondern um seine Öl-Interessen und um einen Kampf gegen den Islam insgesamt. Das hat dazu geführt, dass es zu Terroranschlägen nicht nur in Afghanistan, im Irak oder in Ägypten kam, sondern auch in Madrid, London und Bali.

Das Parlament        Animiert der Krieg im Irak Muslime, Bomben zu legen, die dies sonst nicht getan hätten?

Udo Steinbach         In der Tat haben wir Menschen zu Terroristen werden lassen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unter anderen Umständen nicht zu Bomben gegriffen hätten. Eine falsche Politik hat dazu beigetragen, den Selbstmord-Terrorismus modisch zu machen, wie das nie in der Geschichte der islamischen Welt der Fall gewesen ist. Natürlich hat es früher im Libanon und in Palästina einen Selbstmord-Terrorismus gegeben und es gibt ihn auch noch heute. Aber nicht in dem Maße, wie wir ihn jetzt erleben. Terroristen reisen sogar aus Europa in den Irak, um sich dort in die Luft zu sprengen. Das ist ein Novum in der Geschichte des Terrorismus im Mittleren Osten.

Das Parlament        Wie kann der islamistisch motivierte Terrorismus gestoppt werden?

Udo Steinbach         Der Irak kann auf absehbare Zeit nicht befriedet werden. Also wird dort weiter mit terroristischen Mitteln gekämpft werden. Gleichzeitig erleben wir die Ausbreitung des Terrorismus in weiten Teilen der islamischen Welt. Auch das wird anhalten. Um dem Terror Einhalt zu gebieten, müssten die Weichen im Kampf gegen den Terrorismus zwischen dem Westen und der islamischen Welt neu gestellt werden. Das würde eine Änderung vor allem der Politik der USA voraussetzen. Unter der jetzigen Administration vermag ich dies im Augenblick jedoch nicht zu erkennen. Die als unangemessen empfundene Gewalttätigkeit der Israelis als Antwort auf die Entführung von Soldaten seitens radikaler Elemente der Hamas und der Hisbollah haben Hass und Gewaltbereitschaft vertieft. Dies wird weiteren Terror erzeugen.

Das Parlament        Wieso protestiert die islamische Welt nicht stärker gegen den Missbrauch des Korans durch die Prediger des Terrors?

Udo Steinbach         Wir hören nicht aufmerksam genug hin, wenn es um die Stimmen in der islamischen Welt geht. Gehen Sie in Kairo oder Bagdad auf die Straße und fragen Sie einen normalen Araber, was er von den Terroranschlägen hält. Er wird sagen, die Täter seien keine Muslime. Die Menschen sind geschockt, denn sie sind vom Terror betroffen. Wir tun immer so, als seien wir in erster Linie die Opfer des Terrorismus. Tatsächlich richtet sich der islamistische Terror vor allem gegen die gesellschaftlichen Strukturen und gegen die Machthaber in der Region selbst. Die islamische Welt muss sich dazu nicht artikulieren, da die Masse der Muslime es für selbstverständlich hält, dass diese Art von Terrorismus keine Wurzeln in der islamischen Religion hat. Im Übrigen hat Ende Juni in Istanbul eine Konferenz höchstrangiger Theologen aus allen Teilen der islamischen Welt stattgefunden, die ihren Abscheu über das "Krebsgeschwür des Terrorismus" zum Ausdruck brachten und die gewalttätigen Aktionen als "Verdrehung der Lehre des Islams" verurteilten. Schade, dass bei uns darüber kaum berichtet wurde.

Das Parlament        Warum fordert man dann im Westen Proteste aus der islamischen Welt gegen den Terrorismus?

Udo Steinbach         Wir haben eine negative Wahrnehmung des Islams und der islamischen Welt. Wir verspüren ein grundlegendes Unbehagen darüber, dass der Islam als eine gesellschaftliche Kraft in den letzten Jahren zurückgekommen ist und weiter zunimmt. Es ist noch nicht lange her, da war man in Europa der Überzeugung, der Islam gehöre der Vergangenheit an. Nicht nur der Islam übrigens, sondern die Religion als politischer und gesellschaftlicher Faktor insgesamt. Mit der zunehmenden Gewalt wurde die Wahrnehmung des Islams immer negativer. Plötzlich erscheint uns die Behauptung plausibel, die Muslime gingen nicht nachhaltiger gegen den Terror vor, weil er seine Wurzeln im Islam habe. Der Terror scheint das Vorurteil von der düsteren, entwicklungsunfähigen und potenziell gewalttätigen islamischen Religion noch zu unterstreichen.

Das Parlament        Was können wir dagegen tun?

Udo Steinbach         Wir sollten uns mehr Offenheit gegenüber dem Islam und den Muslimen zulegen. Die Auseinandersetzung um die Moderne, die von Europa kommt, wird zwischen Marokko und Indonesien intensiv geführt. Es ist unser Problem, dass wir unser Bild vom Islam nur an der Gewalt festmachen und nicht das Ganze sehen. Dass sich die Menschen, die Gesellschaften vor dem Hintergrund ihrer Religion tatsächlich mit dem Westen auseinandersetzen. Sicherlich hat die Art und Weise, wie der Kampf gegen den Terror geführt wird, dazu beigetragen, dass den militanten Elementen Wind in die Segel geblasen wird. Dagegen sind jene Elemente geschwächt worden, die weiter auf den Westen zugehen wollten, um eine gemeinsame Moderne zu finden, in der westliches Gedankengut und islamische Religion in eine Synthese gebracht werden. Ihre Legitimität haben wir unterminiert, indem wir selektiv nur auf die Militanten schauen und den Islam an diesen Militanten festmachen.

Das Parlament        Eine der Ursachen des islamistischen Terrorismus liegt im ungelösten Palästina-Problem.

Udo Steinbach         Auch hier kann man angesichts der jüngsten Ereignisse nicht erkennen, dass es zur einer vernünftigen Lösung kommt. Mit der Wahl der Hamas wurden die Weichen eher in Richtung Eskalation gestellt. Die Palästinenser haben die Hamas nicht gewählt, um den Konflikt zu eskalieren, aber es ist praktisch darauf hinausgelaufen. In Israel ist eine Regierung an der Macht, die bis 2008 Fakten schaffen möchte, was die Existenz, die Ausdehnung und die Grenzen Israels betrifft. Das wird ganz sicher zu Lasten der Palästinenser gehen. Deshalb wird es hier künftig eine Wechselwirkung geben: Zum einen sieht der Westen vom ungelösten Palästina-Problem seine negative Wahrnehmung der islamischen Welt, der "islamische Radikalität" bestätigt. Zum anderen wird es zu Allianzen kommen zwischen einer sich weiter radikalisierenden islamischen Welt und den radikalen Elementen in Palästina. Die Verknüpfung der Konflikte in Palästina und Libanon ist dafür symptomatisch. Insofern bleibt die palästinensische Frage vielleicht politisch kontrollierbar, aber sie ist ein Kernproblem, wenn es darum geht, die Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen auf die Basis der Kooperation und der gemeinsamen Krisenbewältigung zu stellen.

Das Parlament        Bleibt der Palästina-Konflikt als Störfaktor zwischen der islamischen Welt und dem Westen bestehen, auch wenn sich die USA aus dem Irak zurückziehen?

Udo Steinbach         Wenn es zu einer Lösung der Irak-Frage käme, gingen davon auch positive Impulse auf eine Lösung des Palästina-Problems aus. Umgekehrt, wenn es zu einer Lösung der Palästina-Frage käme, hätte dies positive Effekte auf die Qualität der Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen.

Das Parlament        Würde eine Lösung der Konflikte in Palästina oder im Irak den Terrorismus stoppen?

Udo Steinbach         Es wäre naiv zu glauben, dass eine Lösung des Palästina-Konfliktes oder der Irak-Frage automatisch eine Lösung des Islamismus- und des Terrorismus-Problems bedeutete. Eine wichtige Voraussetzung wäre jedoch die Lösung der Palästina-Frage. In jedem Fall ist es unzureichend, ja kontraproduktiv, das Terrorismus-Problem nur militärisch lösen zu wollen. Der Terrorismus kann nur durch einen umfassenden Ansatz bei der Lösung der politischen und sozialen Probleme und Krisen beigelegt werden. Eine entschlossene militärische Auseinandersetzung mit den Extremisten ist wichtig, aber nicht ausreichend.

Das Parlament        Welche Rolle spielen Osama Bin Laden, Al-Zawahiri oder der getötete Al-Zarkawi in der islamischen Welt? Sind sie die neuen Symbolfiguren des Islams?

Udo Steinbach         Nur Osama Bin Laden ist in gewisser Weise zu einer Symbolfigur in der islamischen Welt geworden. Er ist der Mann des Attentats vom 11. September, das in der islamischen Welt weithin gemischte Gefühle ausgelöst hat. Die einen lehnen einen solchen barbarischen Gewaltakt als unislamisch ab, nicht zuletzt, weil dabei über 3.000 unschuldige Menschen zu Tode kamen. Bei anderen - und das sind nicht wenige - herrscht das Gefühl vor, dass es denen einmal jemand "gezeigt" hat. Dabei wurde der Widerstand symbolisch ins Herz des Gegners, nach New York, getragen. Dies wirkt bei vielen immer noch nach, die, wenn sie gefragt würden, nach außen hin sagen würden, so etwas kann man doch eigentlich nicht machen. Also Osama Bin Laden halte ich für eine Symbolfigur, wenn auch in einer sehr vieldeutigen, keineswegs eindeutig definierbaren Weise.

Das Parlament        Welche Lehren haben die USA aus dem 11. September gezogen?

Udo Steinbach         Ich kann schwerlich erkennen, dass sie aus dem 11. September nachhaltige Lehren gezogen hätten, wohl aber aus dem Irak-Krieg. In dem Sinne, dass die Bush-Regierung gegenwärtig mehr bereit scheint, auf die internationale Staatengemeinschaft zu hören. So etwa mit Blick auf die Nuklearfrage im Iran. Sie unterstützt inzwischen Verhandlungen, wenn auch nicht enthusiastisch. Washington geht also nicht mehr einseitig vor, sondern versucht, die internationale Gemeinschaft ins Boot zu holen. Sollten Verhandlungen am Ende scheitern, können die USA darauf verweisen, wir waren dabei, wir haben mitverhandelt, aber es hat nichts gebracht. Auf diese Weise hofft Washington, die Verbündeten bei einer Eskalation der Maßnahmen im Boot zu haben.

Das Parlament        Es gilt als sicher, dass die Terroraktionen im Irak aus dem Iran finanziert und organisiert werden. Handfeste Beweise fehlen zwar, es wird aber gesagt, Teherans Interesse an einem instabilen Irak und am Abzug der US-Streitkräfte seien nur zu offensichtlich.

Udo Steinbach         Die Verschränkungen zwischen militanten Aktivitäten im Irak und Einflüssen aus dem Iran sind sehr eng. Iran ist nicht gleichgültig, welches System sich im Irak etabliert. Religiös oder säkular? Auch kann es den Iranern nicht egal sein, in welcher Weise die Amerikaner in ihrem Nachbarland bleiben. Politisch gesehen ist es selbstverständlich, dass der Iran auf das Engste mit dem verflochten ist, was im Irak geschieht. Ich bezweifle auch nicht, dass Terror- oder zumindest gewalttätige Gruppen im Irak von den Iranern unterstützt werden. Das ist die Seite der politischen Interessen. Dies darf uns aber nicht zu dem Fehlurteil verleiten, als sei das der Iran. Die Iraner in ihrer Mehrheit, die iranische Gesellschaft, möchten mit all diesen Problemen und Terrorakten nichts zu tun haben.

Das Parlament        Präsident Achmadinedschad macht Politik mit der Vernichtung Israels und erschreckt die Welt mit seinem Atomwaffenprojekt.

Udo Steinbach         Dass Achmadinedschad vor einem Jahr gewählt wurde, hat sehr spezifische innenpolitische Gründe. Die Atomproblematik muss man von Achmadinedschad und seinen Sprüchen trennen. Sie hat zwei Wurzeln, unabhängig vom Präsidenten. Zum einen will eine große Mehrheit der Iraner, nach ihrem Selbstverständnis, auf gleicher Augenhöhe mit den Großen der internationalen Staatengemeinschaft sein. Auf der internationalen Bühne ist die Beherrschung der Atomtechnologie nun einmal eine Status-Frage. Darüber hinaus will der Iran die Abhängigkeit von ausländischen Schlüsseltechnologien überwinden und die Kernenergie selbst erzeugen können. Darauf hat schon der frühere Präsident Chatami hingewiesen.

Das Parlament        Derzeit wird versucht, den Atomstreit mit diplomatischen Mitteln zu klären. Kann sich daraus ein Krieg entwickeln?

Udo Steinbach         Die USA haben deutlich gemacht, dass sie die militärische Komponente zwar im Augenblick nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, aber nicht vollständig ausschließen. Bei dieser Einschätzung wird Washington von Israel unterstützt. Mit Achmadinedschad ist nun ein Provokateur in Iran an die Macht gekommen, der spürt, dass er mit seiner Propaganda angesichts der spannungsvollen Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen etwas bewirken kann, indem er die islamische Welt hinter dem Iran mobilisiert. Auf diese Weise erweckt Teheran den Eindruck, als gehe es nicht nur um die friedliche Nutzung der Kernenergie, sondern um den Besitz von Atomwaffen. Mit den Sprüchen in Richtung Israel wird dies noch unterstrichen.

Das Parlament        Welche Rolle spielt Deutschland in der islamischen Welt?

Udo Steinbach         Deutschland wird in der islamischen Welt, und zwar von Nordafrika bis Indonesien, positiv wahrgenommen. Das ist nicht zu übersehen. Die Deutschen sollten stärker versuchen, sich bei der Suche nach Lösungen für die politischen und gesellschaftlichen Probleme in der Region einzubringen.

Das Parlament        Wie lange soll die Bundeswehr noch in Afghanistan bleiben?

Udo Steinbach         Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck hat etwas Wichtiges gesagt, als er betonte, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Anders gesagt: Zwischen dem Regime in Afghanistan und der Sicherheit Deutschlands besteht ein direkter Zusammenhang. Es ist völlig klar, dass der Auftrag dort nicht in vier oder fünf Jahren erledigt sein wird, sondern eher zehn, vielleicht sogar mehr Jahre dauern wird. Wenn wir morgen aus dem Land gehen, würde das Karsai-Regime mit Verfassung und Parlament sofort zusammenbrechen. Wir haben uns aber dafür eingesetzt, gemeinsam mit der internationalen Staatengemeinschaft ein stabiles Afghanistan zu schaffen.

Das Parlament        Was glauben Sie: Soll Deutschland auch im Irak aktiver werden?

Udo Steinbach         Ein direktes Engagement Deutschlands, vor allem eine direkte militärische Präsenz im Irak, halte ich für falsch. Es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, dass wir mit der Regierung in Washington im Gespräch bleiben über die Zukunft des Irak. Grundsätzlich halte ich die deutschen Spielräume, was den Beitrag zur Stabilisierung des Landes betrifft, im Augenblick für eher gering.

Das Interview führte Aschot Manutscharjan. Er arbeitet als freier Journalist in Berlin.


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