Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Bruce Hoffman

Al-Qaida ist wie ein Hai im Wasser

Terrorismusbekämpfung aus US-amerikanischer Sicht
"Wir hielten uns an ein Drehbuch, das im Grunde nichts mehr mit der Wirklichkeit gemein hatte" (Andy Hayman, Hauptabteilungsleiter für Sondereinsätze bei Scotland Yard). "Ich glaube, je mehr Erfahrungen wir in dieser mehrjährigen Phase gewannen, desto deutlicher erkannten wir die Grenzen dessen, was wir wussten..." (Tom Dowse, Leiter der Gruppe für die Bewertung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse).

Diese Eingeständnisse hochrangiger britischer Terrorismusbekämpfer bringen die größte Her-ausforderung der heutigen Terrorismusbekämpfung auf den Punkt: Angesichts der Dynamik und Veränderungsbereitschaft des Terrorismus und der Fähigkeit der Terroristen, ihre Vorgehensweisen stetig zu verändern, stellt sich die Frage, wie wir am besten gewährleisten können, dass unsere Bewertungen und Analysen auf verlässlichen empirischen Urteilen beruhen und nicht von Spekulationen, politisch einseitigen Blickwinkeln oder Wunschdenken geleitet werden. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir dafür sorgen können, dass unsere Terrorismusbekämpfungspolitik umfassend, ausgeklügelt und zielgerichtet ist.

Seit dem 11. September 2001 wurden viele Nachrufe auf Al-Qaida verfasst. "Al-Qaida-Spitze nach US-Informationen kurz vor dem Zusammenbruch", tönte die Washington Post im März 2003 - zwei Wochen nach der Verhaftung von Khaled Scheich Mohammed, dem Denker und Lenker der Anschläge vom 11. September. "Ich glaube, das Blatt hat sich zu Ungunsten Al-Qaidas gewendet", wurde der Kongressabgeordnete Porter J. Goss zitiert, zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des Geheimdienstausschusses des US-Repräsentantenhauses. "Wir haben sie im Griff", erklärte ein unbekannter Geheimdienstexperte und behauptete: "Wir sind kurz davor, sie zu zerschlagen."

Diese euphorischen Einschätzungen setzten sich im folgenden Monat fort. Unter Berufung auf Regierungsmitarbeiter hieß es in einem Artikel in der Washington Times vom 24. April 2003, man sei in Washington überwiegend der Ansicht, dass "Zweifel hinsichtlich der Fähigkeit von Al-Qaida bestehen, neue größere Attentate durchzuführen, da sie es nicht geschafft hat, während des Feldzugs zum Sturz Saddam Husseins Anschläge zu verüben".

Nur veraltete Erkenntnisse

Trotz größerer Terroranschläge in Jakarta and Istanbul in der zweiten Jahreshälfte 2003 und des eskalierenden Aufstands im Irak hielt sich dieser Optimismus bis ins Jahr 2004. "Die Al-Qaida der Zeit um den 11. September steht unter großem Druck", erklärte Botschafter Cofer Black, der ehemalige Koordinator für Terrorismusbekämpfung im US-Außenministerium, "sie wird zur Strecke gebracht, ihre Tage sind gezählt." Sechs Wochen später gab es bei den Anschlägen von Madrid 191 Tote.

Die genaueste Einschätzung kam danach wohl von Al-Qaida selbst. "Die Amerikaner", erklärte Thabet Bin Qais, führendes Al-Qaida-Mitglied im Mai 2003, "können sich nur auf Vermutungen und veraltete Erkenntnisse stützen. Es wird lange dauern, bis sie die neue Form von Al-Qaida verstanden haben." Mehr als drei Jahre später haben wir tatsächlich immer noch Probleme, den sich verändernden Charakter, die Eigenschaften von Al-Qaida und die Verschiebungen in der Dimension der Terrorgefahr seit den Anschlägen vom 11. September zu verstehen.

Heute spricht man von Al-Qaida häufig so, als befände sie sich auf dem Rückzug: Es ist von einer zerschlagenen und geschlagenen Organisation die Rede, die selbst keine weiteren eigenen Anschläge durchführen kann und deshalb die Befehlsgewalt über operative Maßnahmen an verschiedene Unterorganisationen und Partner oder ganz von selbst entstandene einheimische Terroreinheiten abgegeben hat. Das genaue Gegenteil ist der Fall: In Wirklichkeit ist Al-Qaida auf dem Vormarsch. Die Organisation hat sich neu aufgestellt und formiert ihre Truppen, um den begonnenen Kampf fortzusetzen.

Die heutige Al-Qaida-Bewegung verknüpft den Grundsatz "von unten nach oben" mit dem Grundsatz "von oben nach unten". Denn sie fördert einerseits unabhängiges Denken und Handeln von Aktivisten auf unterer Ebene, andererseits erteilt sie Befehle und koordiniert nach wie vor ein weit verzweigtes Terrorunternehmen mit sehr gut aufeinander abgestimmten, eigenständigen Teilen.

Eine zusätzliche und gleichermaßen ernst zu nehmende Bedrohung stellen mittlerweile die weniger deutlich erkennbaren und unberechenbareren Einheiten dar, die sich aus der großen muslimischen Diaspora in Europa rekrutieren. Bereits im Jahr 2001 hatte die niederländische Verfassungsschutzbehörde herausgefunden, dass Terroristen zunehmend muslimische Jugendliche in den Niederlanden zu rekrutieren versuchten, bei denen man bis dato davon ausging, dass sie in die niederländische Gesellschaft und Kultur integriert wären.

Vertreter extremistischer muslimischer Organisationen - darunter vermutlich auch Al-Qaida - hatten sich jedoch bereits erfolgreich unter die muslimische Bevölkerung gemischt und die Unterstützung bereitwilliger Elemente in den etablierten Gemeinschaften der Diaspora gefunden. Auf diese Weise gelang es, frisch rekrutierte Mitglieder in die Bewegung hineinzuziehen, die vermutlich den örtlichen oder nationalen Behörden zuvor nicht aufgefallen waren. Für die Behörden in den betreffenden Ländern ist es sehr schwierig, diese neue Kategorie von Terroristen zu verfolgen, deren Verhalten vorherzusagen und einzuschätzen. Es ist nahezu aussichtslos, ein genaues Profil über einen Feind zu erstellen, der aus unbekannten Zellen besteht. Zu genau dieser Schlussfolgerung kam der oben genannte Parlamentsausschuss in seinem Bericht über die Bombenattentate von London.

Kleine anonyme Rädchen

Bei einigen Mitgliedern dieser Terrorzellen handelt es sich um an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen, die über geringe Qualifikationen verfügen und aus unteren gesellschaftlichen Schichten stammen. Einige von ihnen haben ein langes Vorstrafenregister oder waren schon als Jugendliche kriminell. Andere stammen aus stabilen Verhältnissen aus der Mittelschicht, haben einen Hochschulabschluss oder sogar einen Doktorgrad erworben und interessieren sich vorrangig für Autos, Sport, Rockmusik und andere weltliche, materielle Dinge. Unter den radikalisierten britischen Muslimen gibt es Terroristen, deren Familien aus dem südasiatischen und nordafrikanischen Raum oder aus dem Nahen Osten und der Karibik stammen. Die einen sind seit jeher streng gläubige Muslime, die anderen erst kürzlich zum Islam übergetreten. Alle verbindet eine tiefe Hingabe an ihren - häufig erst vor kurzem wieder entdeckten - Glauben, die Bewunderung Osama Bin Ladens, der Hass auf die USA und den Westen und ein gemeinsam empfundenes Gefühl der Entfremdung von ihren Gastländern. Diese neu gewonnenen Anhänger bilden die kleinen anonymen Rädchen im weltweiten Unternehmen Al-Qaida und rekrutieren sich aus Menschen, die bereits seit langer Zeit in ihrem Gastland leben, und aus neuen Einwanderern, die sie in ganz Europa finden; vor allem in Ländern mit großem muslimischem Bevölkerungsanteil, wie Großbritannien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Belgien.

In Großbritannien ist man zu Recht stolz auf die jahrzehntelangen Erfahrungen in der Bekämpfung terroristischer Bedrohungen: In den vergangenen zwölf Jahren wurden von unterschiedlichen Feinden Anschläge auf britischem Boden verübt, darunter der Provisional Irish Republican Army, abtrünnigen palästinensischen Splittergruppen und - vor und nach dem 11. September - auch von Al-Qaida. Trotz ihrer beachtlichen Leistungen bei der Terrorismusbekämpfung und des beispiellosen Erfahrungsschatzes der Briten befand das Joint Terrorism Assessment Center (JTAC) nur einen Monat vor den Bombenanschlägen von London am 7. Juli 2005, dass es "derzeit keine Gruppe gibt, die beabsichtigt oder über Möglichkeiten verfügt, in Großbritannien Anschläge zu verüben".

Noch erstaunlicher war allerdings die Tatsache, dass die Gefahr von Selbstmordattentaten in Großbritannien ausgeschlossen wurde, obwohl diese Form des Terrors weltweit immer häufiger auftrat und selbst britische Staatsbürger in Selbstmordanschläge verwickelt waren: 87 Prozent aller zwischen 1968 und 2004 verübten terroristischen Selbstmordanschläge wurden in den Jahren nach den Anschlägen vom 11. September verübt. Die treibende Kraft hinter diesen Anschlägen war und ist die Religion. Von den 35 Terror-Organisationen, die sich derzeit der Taktik der Selbstmordanschläge bedienen, sind 86 Prozent (31 von 35) islamisch. Diese Bewegungen sind für 81 Prozent aller seit dem 11. September verübten Selbstmordanschläge verantwortlich.

Bis heute hat es in mindestens zwei Dutzend Ländern Selbstmordattentate gegeben - darunter Großbritannien, Russland, die Türkei und Italien. Im Vergleich dazu beschränkten sich Selbstmordattentate zum Zeitpunkt der Entstehung des religiösen Terrorismus moderner Prägung vor etwa 20 Jahren auf zwei Länder - den Libanon und Kuwait. Weniger als ein halbes Dutzend Gruppen verübte Selbstmordanschläge. Trotz alledem urteilte das Joint Intelligence Committee nur vier Monate vor den verheerenden Bombenanschlägen von London, dass "diese Anschläge in Europa nicht zur Norm werden" würden.

Sowohl zum Zeitpunkt der Bombenanschläge von London als auch danach hielt sich hartnäckig das Missverständnis, dass es sich einzig und allein um ein von selbst entstandenes, hausgemachtes Phänomen handelt - Terroristen, die sich selbst radikalisiert und selbst erwählt haben. Damit wurde das Argument gestützt, dass die im eigenen Land entstandene Bedrohung die von Al-Qaida ausgehende Bedrohung abgelöst habe, Al-Qaida selbst keine zielgerichtet agierende, aktive Terrorgruppe mehr darstelle und die Bedrohung sich verändert habe, möglicherweise sogar zurückgegangen sei. Die Beweislage, die sich seit den Bombenattentaten in London vor einem Jahr ergeben hat, lässt indessen die umgekehrte Schlussfolgerung zu: Al-Qaida ist quicklebendig und beteiligt sich nach wie vor aktiv an der Planung und Durchführung von Anschlägen.

Die vorliegende Diskussion über die Bombenanschläge von London hat gezeigt, dass Al-Qaida und die von ihr ausgehende Bedrohung nicht allein mit militärischen Mitteln bekämpft werden können. Deshalb sind neue Strategien und Ansätze vonnöten. Eine erfolgreiche Strategie wird so beschaffen sein müssen, dass man vorausschauend denkt und plant und dabei die Bekämpfung der Bedrohungen im Auge behält, die voraussichtlich von zukünftigen Generationen von Terroristen und Aufständischen ausgehen werden.

Man kann Al-Qaida mit einem Hai im Wasser vergleichen, der stirbt, wenn er nicht ständig in Bewegung bleibt - ganz egal, wie langsam die Bewegungen sind. Übertragen bedeutet dies: Wir müssen unsere Gegenmaßnahmen verändern, sie der Bedrohung anpassen und gleichzeitig versuchen, neue Ziele und Schwachpunkte festzustellen. In der Fähigkeit der Terrororganisation, diesen Kampf fortzusetzen, spiegelt sich die Elastizität dieser Bewegung und die bleibende Resonanz ihrer Ideologie wider. Wir dürfen uns in diesem Kampf nicht mit einer Sicherheitspolitik begnügen, die sich gestern und heute als wirksam erwiesen hat, angesichts der Veränderungen und Entwicklungen im Terrorismus aber morgen wahrscheinlich schon nicht mehr greifen wird.

Der Autor ist Direktor des Washingtoner Büros der renommierten RAND-Corporation und lehrt an der Georgetown University. In diesem Jahr erschien sein Buch "Inside Terrorism" (Columbia University Press).


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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