Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Jochen Bittner

Die "Otto"-Kataloge: verlockende Angebote für die Behörden

Im Jahr 2001 begann sich auch in Deutschland ein neues Sicherheitsdenken durchzusetzen

Am 11.9.2001 schlugen die Terroristen zu, am 9.11.2001 der Rechtsstaat. Kaum zwei Monate nach den Anschlägen auf New York und Wa-shington legte der Deutsche Bundestag das erste so genannte "Anti-Terror-Paket" auf, ein zweites folgte am 14.12.2001. Zusammen lösten sie Änderungen in rund 100 Gesetzen aus, vom Vereins- bis zum Ausländerrecht. Trefflich sprach der Volksmund bald von den "Otto-Katalogen", welche die Bundesregierung unter Federführung des damaligen Innenministers Otto Schily ins Werk setzte. Die Neuerungen waren von zwei Leitgedanken beherrscht: Ein Netzwerk von Terroris-ten könne nur mit einem Netzwerk von Sicherheitsbehörden bekämpft werden und erfolgreiche Terrorbekämpfung bedeute vor allem erfolgreiche Prävention.

Was heißt das konkret? Die größten Kompetenzerweiterungen haben die Geheimdienste erhalten. Sowohl das Bundesamt für Verfassungsschutz als auch der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst bekamen das Recht, bei Telefon- und Internetanbietern Auskünfte über Verbindungs- und Nutzungsdaten einzuholen. Mit so genannten IMSI-Catchern dürfen die Dienste seither auch Standort, Geräte- und Kartennummern von Handys ermitteln. Zudem wurden Banken verpflichtet, dem Verfassungsschutz und dem BND Auskunft über Kontobewegungen zu geben, die möglicherweise von Terroristen herrühren. Auch bei der Post und bei Fluggesellschaften darf der Verfassungsschutz neuerdings nachfragen.

Eine Verordnung zur Flughafensicherheit verpflichtet die Luftfahrtbehörden, ihr Personal in sicherheitsempfindlichen Bereichen regelmäßig zu überprüfen. Einmal pro Jahr müssen Gepäckfahrer, Putzfrauen und Buschauffeure auf dem Rollfeld nach möglichen Verbindungen zu Extremisten durchgecheckt werden. Dazu können die Datensammlungen des Bundesnachrichtendienstes, des Militärischen Abschirmdienstes und sogar der Gauck-Behörde herangezogen werden.

Genauer hingucken will der Staat vor allem bei Migranten: Der gesetzliche Grenzzaun um Deutschland ist ein gutes Stück engmaschiger geworden. Das Ausländerzentralregister beim Bundesverwaltungsamt wurde zu einem umfassenden Informationssystem über Zuwanderer, einreisende Angehörige, Spätaussiedler, Asylbewerber und Visumpflichtige ausgebaut. Die deutschen Botschaften erhielten Anweisung, Antragstellern für Visa Fingerabdrücke abzunehmen und Passfotos anzufertigen. Die Daten von Antragstellern aus "Problemländern" werden seither vor der Einreise von deutschen Beamten genau überprüft. Außerdem wurde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beordert, dem Verfassungsschutz im, wie es heißt "erweiterten Umfang Informationen zu übermitteln". Otto Schily nahm sich vor, auch den Extremisten in Deutschland den Zulauf abzudrehen. Nach der Streichung des so genannten Religionsprivilegs aus dem Vereinsgesetz ist es möglich, auch Religionsgemeinschaften zu verbieten - sofern sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgen.

Auch die Polizei erhielt schärfere Befugnisse. Ein neuer Paragraf, 129b, wurde ins Strafgesetzbuch eingefügt. Danach kann gegen Mitglieder einer ausländischen Terrorgruppe ermittelt werden, auch wenn diese sich in Deutschland nichts zuschulden kommen ließen. Zuvor war eine Strafverfolgung nur möglich, wenn Terrororganisationen in Deutschland wenigstens Teilstrukturen unterhielten. Aufgrund dieser Änderung dürfen nun auch die hiesigen Nachrichtendienste Erkenntnisse über mutmaßliche Terroristen in Deutschland an ihre Kollegen in anderen EU-Ländern weitergeben. Bislang war dies verboten.

Dass eine EU-weite Harmonisierung der Terrorbekämpfung unumgänglich war, befanden die Innen- und Justizminister schon 1997. Sie verpflichteten sich damals, den Tatbestand der "kriminellen Vereinigung" in ihre Gesetzbücher aufzunehmen. Etlichen Staaten fiel dies schwer, handelt es sich doch um ein umstrittenes Organisationsdelikt, nach dem Mitglied zu sein für eine Verurteilung ausreicht. Doch nach dem 11. September fielen die Bedenken. Dies galt innerhalb Deutschlands auch für ein polizeiliches Instrument, das ursprünglich aus dem Köcher der Jagd auf die RAF stammt: die Rasterfahndung. Innerhalb weniger Wochen fügten die Bundesländer, die diese Möglichkeit noch nicht vorgesehen hatten, entsprechende Normen in ihre Polizeigesetze ein.

Die Rasterfahndung funktioniert im Grunde wie ein Schüttelsieb: Massenweise behördliche Daten über bestimmte Personen werden hineingeschüttet - und die meisten rasseln durch. Nur wer bestimmte Kriterien ("Schläfer") erfüllt, bleibt hängen. 5,2 Millionen Datensätze von jungen Muslimen, aus Universitäten, Einwohnermeldeämtern und dem Ausländerzentralregister, haben Polizeicomputer nach dem 11. September auf verdächtige Kombinationen überprüft. Gibt es arabische Studenten, die schon einmal in Afghanistan waren und jetzt eine Pilotenausbildung absolvieren? Gibt es welche, die Chemie studieren und Moscheen besuchen, in denen zum "Heiligen Krieg" aufgerufen wird? Gut 10.000 "Verdächtige" haben Polizisten im Anschluss an die Computersiebung überprüft - und in einigen Fällen, wie das Bundeskriminalamt es ausdrückt, "qualifizierte Ermittlungsansätze" entdeckt.

Im Mai 2006 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Rasterfahndung in dieser Form für grundgesetzwidrig. In der Abwägung zwischen Datenschutz und Terrorgefahr komme dem Individualrecht ein höherer Rang zu, so die Karlsruher Richter. Sie, möchte man meinen, stellen damit eine Güterabwägung mit einer Unbekannten an. In einem Sondervotum schrieb die Verfassungsrichterin Haas zum Urteil, die Rasterfahndung stelle keinen Grundrechtseingriff "von erheblichem Gewicht" dar. Schließlich würden "nur solche Daten erfasst werden, die bereits vom Betroffenen offenbart und in Dateien mit seiner Kenntnis gespeichert wurden". Der Rechtsstaat, befand Haas in bemerkenswert kritischem Ton, "erfährt durch die Entscheidung keine Stärkung, sondern die von der Senatsmehrheit formulierten Voraussetzungen an die Rasterfahndung machten den Staat gegenüber drohenden Terrorangriffen wehrlos".

Im März 2004 und Juli 2005 verübten junge Muslime mit Rucksackbomben Anschläge in London und Madrid. Man erkannte: Über Internet oder Moscheeverein zu fanatischem Hass auf den Westen angestachelt, können sich selbst hier geborene junge Leute zu Selbstmordattentätern entwickeln. Die Lehren, die Deutschland daraus zieht, hat die Große Koalition im Sommer 2006 mit einem neuen Anti-Terrorpaket präsentiert. "Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz" heißt die Neuschöpfung etwas sperrig. Das Kabinett hat die Novelle bereits beschlossen. Nach der Sommerpause soll das "TBEG" im Bundestag verabschiedet werden. Folgendes ist vorgesehen im "Otto-Katalog III": Alles, was im Inland bisher nur der Verfassungsschutz durfte, soll künftig auch der Bundesnachrichtendienst dürfen: bei Fluglinien nachfragen, wer wohin reist; Einblick in Kontobewegungen nehmen; Telefon-, Internet- und Postverbindungen überwachen.

Außerdem sollen beide Geheimdienste künftig nicht mehr nur mögliche Terroristen ausforschen, sondern auch Personen, die andere womöglich zu Terroristen machen. Rechtsextreme Propagandisten und islamistische Hassprediger können auch dann ins Visier geraten, wenn sie selber keine Anschlagpläne hegen, die aber "zu Hass oder Willkürmaßnahmen gegen Teile der Bevölkerung aufstacheln oder deren Menschenwürde durch Beschimpfen, böswilliges Verächtlichmachen oder Verleumden angreifen und dadurch die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt fördern und den öffentlichen Frieden stören". Geplant ist auch die schnelle Einführung einer gemeinsamen Antiterrordatei für BND, Verfassungsschutz und Polizei.

Mit der Wandlung Al-Qaidas zu einer Idee geht ein Wandel des Feindbildes einher. Die Zielfigur von heute ist nicht mehr der Mudschaheddin vom Hindukusch, sondern der potenzielle Bomber aus der Nachbarstraße. Ob es aber unbedingt weitere Gesetze braucht, um die Terroristenjagd effektiver zu machen, bleibt zweifelhaft. Eigentlich sollten die alten Otto-Kataloge nach fünf Jahren evaluiert werden. Stattgefunden hat lediglich eine hausinterne Bewertung durch das Bundesinnenministerium. Der wenig überraschende Befund: von den neuen Befugnissen sei höchst angemessen Gebrauch gemacht worden. Eine unabhängige Überprüfung der Zweckmäßigkeit der alten Gesetze hat es bis heute nicht gegeben. Immerhin hier verspricht der Otto-Katalog III Besserung. Nach fünf Jahren laufen seine Regelungen wieder aus. Dann, so verspricht es das Gesetz, sollen die Regelungen "unter Einbeziehung wissenschaftlichen Sachverstandes" überprüft werden.

Der Autor ist Redakteur der "Zeit".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.