Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Susanne Kailitz

Sechs gegen sechzig Millionen

Die Rote Armee Fraktion brachte den Terrorismus in die Bundesrepublik

Vierunddreißig Menschenleben kostete der Kampf der RAF. Angesichts der tausenden Toten, die der Terror der Al-Qaida bis heute gefordert hat, mag das wenig erscheinen. Die RAF aber kann für sich das zweifelhafte Privileg in Anspruch nehmen, den Terror nach Deutschland gebracht zu haben. Mit einer Heckler & Koch im Label gelang es einer Handvoll Menschen, ein ganzes Land zu verunsichern, Fahndungen in bis dahin unbekanntem Ausmaß auszulösen und zahlreiche umstrittene Gesetze zur Verabschiedung zu bringen.

Im Mai 1970 waren Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof, die "Kader" der RAF, mit einigen "Kampfgefährten" in den Untergrund gegangen, nachdem bei der Befreiung Baaders - der wegen zweier gemeinsam mit Gudrun Ensslin verübter Brandanschläge auf Frankfurter Kaufhäuser in Haft saß - ein Unbeteiligter angeschossen und schwer verletzt worden war. In einer ersten Erklärung in der Szenezeitung "agit 883" erklärte die Gruppe, es sei Zeit, "die Konflikte auf die Spitze zu treiben" und die Rote Armee Fraktion aufzubauen. Ensslin und Baader hatten sich zuvor in der Studentenbewegung um den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) engagiert, aber schnell festgestellt, dass sich dort ihre radikalen Ziele nicht verwirklichen ließen. Ulrike Meinhof und Horst Mahler waren als Journalistin und Anwalt Teil eines "Establishments", das sie mehr und mehr verachteten, je stärker sie mit radikalen Ideen einer marxistisch-leninstischen Weltrevolution sympathisierten.

In den folgenden zwei Jahren verübte die Gruppe mehrere Überfälle und Sprengstoffanschläge auf Einrichtungen des US-Militärs und töte dabei vier Menschen. In den Stellungnahmen der RAF, die größtenteils aus der Feder Ulrike Meinhofs stammten, bezeichnete sie sich als revolutionäre Avantgarde; als "Stadtguerilla" mit dem Ziel, den repressiven "staatlichen Herrschaftsapparat" zu zerstören. Dieser Kampf, der die Weltrevolution in die Bundesrepublik tragen sollte, erwies sich als wenig erfolgreich: Schon im Frühjahr 1972 befand sich der RAF-Führungskader in Haft. Mit Hilfe ihrer Rechtsanwälte und Mitglieder der "Roten Hilfe" kommunizierten die Terroristen auch in der Haft miteinander und instruierten die zweite RAF-Generation. An "Nachwuchs" mangelte es den selbsternannten Revolutionären nie: Immer wieder schlossen sich ihnen ehemalige Anhänger der studentischen Protestbewegung an, später auch Mitglieder der ebenfalls terroristischen "Bewegung 2. Juni". Die Studentenbewegung hatte ihre Hochphase 1967/68 gehabt, und auch wenn ihre "Chefdenker" Rudi Dutschke und Hans-Jürgern Krahl immer wieder von einer militanten "Propaganda der Tat" philosophiert hatten, waren die Studenten letztlich immer wieder vor dem bewaffneten Kampf zurückgeschreckt - bis auf jene, die wie Meinhof & Co. zu der Überzeugung gelangt waren, die "Verhältnisse" würden sich nur gewaltsam ändern lassen.

Aufgabe der zweiten RAF-Generation "draußen" unter der Führung von Brigitte Mohnhaupt war es primär, ihre Kader "drinnen" freizupressen. Mit welch brutalen Methoden sie dies versuchten, ist längst unrühmliche Legende: April 1975 Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm mit vier ermordeten Geiseln und zwei toten Terroristen; April 1977 Mord des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und zwei seiner Begleiter; Juni 1977 Ermordung des Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank Jürgen Ponto.

Einen letzten Versuch, ihre im Gefängnis Stammheim inzwischen zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilten Kampfgefährten freizupressen, unternahm die RAF am 5. September 1977 - im so genannten "deutschen Herbst". Sie entführte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer und forderte von der Bundesregierung die Freilassung von elf Gefangenen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt jedoch entschied, die Bundesrepublik lasse sich nicht erpressen - und blieb auch dabei, als eine palästinensische Kommandoeinheit am 13. Oktober die Lufthansmaschine "Landshut" entführte und damit drohte, die Passagiere zu erschießen, würden nicht RAF-Gefangene freigelassen. Nach der Befreiung der Boeing durch die GSG 9 ermordete die RAF Schleyer. Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe begingen in Stammheim Selbstmord. Ulrike Meinhof hatte sich bereits im Mai 1976 das Leben genommen. Nach dem Tod der RAF-Führung war es ruhig um die Gruppe. Erst 1982 meldete sie sich mit einem Positionspapier zurück, in dem man ankündigte, sich künftig auf den "Antiimperialismus" zu konzentrieren. Von 1982 bis 1986 verübte die Gruppe eine Vielzahl von Anschlägen vor allem auf NATO- und US-Einrichtungen. Auch hier sind die Namen der Opfer ins öffentliche Gedächtnis eingebrannt: 1985 Edward Pimental und zwei weitere Menschen bei einem Autobombenanschlag auf dem Frankfurter Flughafen, 1986 Siemens-Vorstand Karl Heinz Beckurts, sein Fahrer und der Ministerialdirektor Gerold von Braunmühl. Mehrere RAF-Angehörige der ersten und zweiten Generation tauchten in der DDR unter, immer wieder wurden RAFler festgenommen und zu hohen Haftstrafen verurteilt.

In alle diesen Jahren betonte die RAF, Teil einer "revolutionären Avantgarde" zu sein. Anders als die Bevölkerung habe sie schon erkannt, wie gewaltsam das "System" der Bundesrepublik sei, gegen die es einen legitimen Widerstandskampf zu führen gelte. Doch es ging nie nur um die Verbesserung der Lebenssituation des Volkes: Mit Hungerstreiks wollte die Gruppe bessere Haftbedingungen erpressen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die RAF die Bundesrepublik immer als "faschistisches Unterdrückungssystem" bezeichnet hatte und gleichzeitig von diesen System Fairness forderte. Auch wenn die Terroristen immer wieder betonten, sie seien bereit, für den Guerilla-Kampf zu sterben, unterschied sich das, was sie ihren Opfern zumuteten doch erheblich von dem, was sie selbst zu erdulden bereit waren.

Mit ihren Appellen an das Mitgefühl der Linken "draußen" war die RAF immer wieder erfolgreich: Sowohl nach dem Hungertod von Holger Meins 1974 als auch nach dem Selbstmord von Ulrike Meinhof gab es Demonstrationen gegen die "repressiven Methoden" des Staates, der aus ihrer Sicht auch vor Mord nicht zurückschrecke. Der Tod Baaders, Ensslins und Raspes mobilisierte die Sympathisanten erneut: Die Selbstmorde waren zwar angekündigt worden - aber sie spalteten die außerparlamentarische deutsche Linke, die aus der Studentenbewegung hervorgegangen war, weil ein Teil derjenigen, die sich der RAF verbunden fühlten, nicht bereit war, davon abzurücken, der Staat habe die Gefangenen ermordet. Wer dies tat, wurde schnell als Verräter verurteilt.

Die Linke distanzierte sich nur schweren Herzens und langsam von den ehemaligen Weggefährten, die mit ihrem militanten Vorgehen doch seit den frühen 1970er-Jahren die Linke insgesamt diskreditiert hatte. Erst die dritte RAF-Generation, über deren Mitglieder bis auf den 1992 in Bad Kleinen erschossenen Wolfgang Grams bis heute kaum etwas bekannt ist, konnte nur noch auf wenig Unterstützung zählen. Zu isoliert führte sie ihren Kampf, der sich nun vor allem gegen Vertreter der Wirtschaft richtete.

Auch in seiner letzten Phase forderte dieser Kampf Tote: 1989 Alfred Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank und 1991 Detlev Karsten Rohwedder, Vorstandsvorsitzer der Treuhandanstalt. 1998 erklärte die RAF ihre Auflösung. Mit Eva Haule, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und Birgit Hogefeld sind heute noch vier RAF-Mitglieder in Haft, zahlreiche Terroristen sind im 28-jährigen Kampf dieser selbsternannten Guerilla bei Anschlägen, Schusswechseln oder Unfällen auf der Flucht gestorben.

Der Krieg der "sechs gegen sechzig Millionen", so Heinrich Böll, wird heute in Ausstellungen, verständnisvollen Filmen und Provokationen wie "Prada-Meinhof"-Modeaufnahmen oft zu einem Mythos verklärt - ein Mythos jedoch, der Menschen den Tod und zum ersten Mal die Angst vor Terrorismus in dieses Land brachte.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.