Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Wolfgang Gast

Internationale der Einäugigen

RAF und Rote Brigaden: zwei Modelle des Scheiterns
Seit Jahren war vergeblich auf sie gewartet worden - und plötzlich war sie da: die Ankündigung der Roten Armee Fraktion (RAF), sich als militante Organisation aufzulösen. Ein gewalttätiges Kapitel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte kam so Ende März 1998 endgültig an sein Ende.

Die Härte der Auseinandersetzung ließ sich anhand der Lektüre des achtseitigen Schreibens, das der Nachrichtenagentur Reuters zuging, kaum erahnen. Lapidar schrieben die Verfasser: "Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte."

Die Erklärung aus dem Untergrund war zwar erwartet worden, kam aber dennoch überraschend, weil kaum noch jemand mit diesem formellen Auflösungsbeschluss rechnete. Den Verzicht auf weitere Attentate auf führende Politiker und Wirtschaftskapitäne hatte die RAF schon sechs Jahre zuvor, 1992, verkündet. Sie räumte damals ein Scheitern ihres bewaffneten Kampfs ein und verlangte als Gegenleistung für den Gewaltverzicht, dass die inhaftierten Mitglieder der RAF nach und nach frei kommen müssten. Politisch wurde eine "Zäsur" verkündet, man wollte künftig mit anderen "eine soziale Gegenmacht von unten" aufbauen. Der Versuch blieb im Ansatz stecken. Die linksradikale Szene beschäftigte sich seitdem kaum noch mit der RAF.

In den Anfängen der RAF wollten nicht wenige, darunter auch viele Intellektuelle, in den Militanten gerne ideologisch verblendete Gerechtigkeitsfanatiker erkennen, deren Ziele in Ordnung waren, die aber die falschen Mittel wählten. Zwei Jahrzehnte später war das vorbei. Neue soziale Bewegungen etablierten sich; K-Gruppen waren out; "Basis" wurde zum zentralen Begriff unter den politischen Gruppen; die Partei der Grünen entstand. Die RAF aber beharrte verbissen auf ihren eher dürftigen Thesen von einem notwendigen weltweiten Kampf gegen den Imperialismus und gegen den allmächtigen "militärisch-industriellen Komplex", teilte die Welt weiterhin in Gut und Böse und maßte sich an, über Leben und Tod von Menschen zu entscheiden. Die Folge: Das Umfeld der RAF schrumpfte.

Spätestens mit der Ermordung des US-Soldaten Edward Pimentals, die bis weit in die Militante Linke hinein als "Ausdruck fehlender revolutionärer Moral" kritisiert wurde, brachen die letzten Sympathien mit den bewaffneten Kämpfern weg. Die RAF hatte den 20-Jährigen ermordet, weil sie seinen Militärausweis brauchte, um auf dem militärischen Teil des Rhein-Main-Flughafens eine präparierte Autobombe zu pla-tzieren - für ein Attentat, bei dem zwei Menschen starben und elf verletzt wurden. Angetreten als Kämpfer für die weltweite Revolution, entpuppten sich die RAF-Mitglieder nun auch für die linke Szene als gewissenlose Mörder, deren einziger politischer Inhalt es war, über tödliche Attentate zu versuchen, Einfluss auf die Haftbedingungen ihrer inhaftierten Genossen zu nehmen - die RAF, so hieß es auch in Staatsschutzkreisen, war zu einer "Befreit-die-Guerilla-Guerilla" verkommen.

Trotz der Kritik am eigenen Vorgehen war die Auflösungserklärung der RAF kein konsequenter Bruch - obwohl sie darin sogar den Mythos Stammheim fallen ließ. Die Behauptung, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe seien in dem Gefängnis ermordet worden, hatte über all die Jahre als Beleg für die mörderische Härte des Staates gegolten und wurde in dem Schreiben mit keinem Wort erwähnt. In bester RAF-Prosa hieß es: "Die RAF konnte keinen Weg zur Befreiung aufzeigen. Aber sie hat mehr als zwei Jahrzehnte dazu beigetragen, dass es den Gedanken an Befreiung heute gibt. Die Systemfrage zu stellen war und ist legitim." Deutlicher ließ sich der eigene politische Bankrott kaum zum Ausdruck bringen. Entsprechend fielen auch die Reaktionen auf die Auflösung der RAF aus. Klaus Jünschke, der im Herbst 1971 zur RAF kam und im Juli 1972 verhaftet wurde, nennt das Schreiben "theoretisch dürftig und menschlich arm". Das "alte Tabu - kein Wort über die Opfer - wird nicht gebrochen". In dem Papier sei die Rede von Befreiung und Emanzipation - doch Befreiung wovon?

Im Rückblick auf die "bleierne Zeit" äußerte sich der FDP-Mann Gerhart Baum als einer der Nachdenklichsten. Baum, im Herbst 1977 Staatssekretär und Bundesinnenminister von 1978 bis 1982, erklärte in einem Rundfunkinterview, man hätte manchem die Spitze nehmen können, wäre es nicht zu dieser "Annahme der Kriegserklärung" durch den Staat gekommen. "Wir haben den Terroristen den Gefallen getan, dass sie so eine unglaubliche Wirkung gehabt haben." Auch der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano konnte der RAF-Erklärung nur wenig abgewinnen: "Die RAF hat nun also einen ,Kampf' aufgegeben, den sie von vornherein verloren hatte. Nur pflastern jetzt 32 Ermordete und 26 Tote aus den eigenen Reihen die blutige Strecke eines ,Projektes', das so inhuman war wie die Sprache, die es kreierte und die bis in den unbelehrten Absagetext prolongiert wird." Die RAF sei nichts als das Exekutivschwert einer "Internationale der Einäugigen" gewesen, "deren eine Fraktion auf dem linken, die andere auf dem rechten Auge blind war".

Zu dieser Internationale zählen in Europa unter anderen in Italien die Brigate Rosse (Rote Brigaden) und in Frankreich die Action Directe. So unterschiedlich die Ansätze und die Wurzeln der Organisation auch waren: In den 80er-Jahren versuchten alle drei, eine "westeuropäische Guerillafront" aufzubauen. Der Versuch scheiterte, zu schwierig war es, die Front auf der "richtigen" Linie zu halten. Um die Unterschiede zwischen RAF und Roten Brigaden zu erklären, lohnt der Blick in eine Erklärung der RAF-Gefangenen aus dem Jahr 1975: Es sei nichts da, steht darin, "woran wir anknüpfen, worauf wir uns historisch stützen, was wir organisatorisch oder im Bewusstsein des Proletariats voraussetzen könnten, nicht einmal demokratische, republikanische Traditionen". Ganz anders die Brigate Rosse, die sich auf die Tradition des antifaschistischen Widerstandskampfes und auf militante Traditionen in der Arbeiterbewegung stützten.

Im Spätsommer 1970 waren die euphorischen Hoffnungen der Arbeiter- und Studentenbewegung zwar weitgehend verflogen, anders als in Deutschland ging in Italien aber die Angst vor einem staatlichen Putsch um, bei dem der Einfluss der kommunistischen Partei Italiens gebrochen werden könnte. So entließ der Industriekonzern "Pirelli" die ersten politisch missliebigen Arbeiter.

Die erste Aktion der Roten Brigaden war ein Brandanschlag auf das Auto eines "Pirelli"-Aufsehers. Die darauf folgenden Brandanschläge und symbolischen Entführungen der ersten Jahre fanden zunächst noch Rückhalt in weiten Teilen der linken Bewegung.

Erst nach der zweiten Verhaftung Renato Curcios, des Chefs der Brigaden, im Februar 1976 ging die Gruppe zu den ersten gezielten Mordanschlägen über. 1978 ermordete sie den Vorsitzenden der Christdemokraten Aldo Moro nach 55 Tagen Geiselhaft. Curcio schob diese Änderung der Strategie auch Mario Moretti, seinem Nachfolger in der Führung der Roten Brigaden, zu: Die Gruppe sei vom Konzept der "bewaffneten Propaganda" abgewichen und zu einem "extremen Niveau der politisch-militärischen Auseinandersetzung" übergegangen. Die Roten Brigaden unter Curcio ein "Terrorismus mit menschlichem Antlitz", ihr Verfall ein Problem des Führungswechsels? Der Autor Martin Reeth beantwortete 1997 diese Frage in der "tageszeitung" anders: Moretti sei sicher ein politischer Technokrat gewesen, der sich als Antwort auf jede politische Niederlage nur verstärkte militärische Aktionen vorstellen konnte. Dennoch sei für den Verfall das ideologische Handgepäck der Brigadisten entscheidender gewesen: Ihre "realpolitischen" Aktionen begriffen sie in der Tradition leninistischer Avantgarden, ergänzt um die Guerilla-Theorien der lateinamerikanischen Tupamaros.

Von der Notwendigkeit demokratischer Legitimation entbunden und die Logik der Systemkonfrontation verinnerlicht, setzte sich im Laufe der Auseinandersetzungen wie bei der deutschen RAF zunehmend der gewöhnliche politische und moralische Verfall selbst ernannter Avantgarden durch: Geiselhinrichtungen, immer wahllosere Mordanschläge, Ermordungen von Denunzianten, interne Spaltungen und Sektierertum. Schließlich tötete 1982 eine Gruppe der Roten Brigaden einen Wachmann, nur um dadurch Aufmerksamkeit für ein Papier über eine angebliche Verräterin zu erzielen. Für Curcio war das das Signal zum Abschied von den Roten Brigaden, den er 1987 gemeinsam mit Mario Moretti und anderen Exbrigadisten auch öffentlich verkündete - und das immerhin elf Jahre vor der Auflösungserklärung der RAF.

Der Autor ist Redakteur der "tageszeitung".


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