Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Reiner Wandler

Die Gefahr ist längst nicht vorbei

Die Anschläge von Madrid brachten den Al-Qaida-Terror nach Europa
Der Alptraum beginnt am 11. März 2004 um 7.39 Uhr: Eine erste Bombe explodiert in einem Pendlerzug in Madrid. Sprengsätze in drei weiteren, vollbesetzte Konvois folgen. 192 Menschen sterben. Spanien ist zum ersten westeuropäischen Land auf der Karte des islamistischen Terrors von Al-Qaida geworden.

Jetzt, über zwei Jahre später, sind die Ermittlungen abgeschlossen. Der Prozess soll im Spätherbst oder Winter stattfinden. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass Al-Qaida längst nicht mehr zentral gesteuert operiert - die Gruppe von Madrid war zwar von Al-Qaida inspiriert, plante ihre Tat jedoch in Eigenregie.

Das Gerichtsverfahren verspricht ein Mammutprozess zu werden: Die Ermittlungen dauerten 25 Monate, 200 Aktenbände mit insgesamt 80.000 Seiten trug Ermittlungsrichter Juan del Olmo zusammen. Mehrere der Angeklagten wurden im Ausland festgenommen. 29 mutmaßliche Tatbeteiligte werden sich vor Gericht verantworten müssen. Unter den Beschuldigten sind neun Spanier, beim Rest handelt es sich um Einwanderer aus muslimischen Ländern. Sechs der Angeklagten sind laut del Olmo die Hauptverantwortlichen für die Attentate. Die restlichen Angeklagten werden der Beihilfe in unterschiedlichem Ausmaß beschuldigt. Weitere sieben Männer, die die Bomben-Rucksäcke in den Zügen hinterließen, sprengten sich drei Wochen nach den Anschlägen in einer Wohnung in einem Madrider Vorort in die Luft, um sich der Verhaftung zu entziehen.

Del Olmo kommt zu dem Schluss, dass die baskische Separatistenorganisation ETA mit den Attentaten nichts zu tun hat. Die konservative Opposition versuchte dies mit Hilfe eines Teiles der spanischen Presse zu belegen, um damit die Regierung Aznar im Nachhinein vom Vorwurf der Lüge reinzuwaschen. Aznar hatte unter wahltaktischen Gründen versucht, die Urheberschaft für das Massaker von Madrid der ETA zuzuschreiben, um von der Beteiligung am Irakkrieg als Attentatsursache abzulenken. Der Versuch scheiterte; die Wähler straften die Konservativen für diese Lüge ab und wählten überraschend den Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero. Die Recherchen beweisen auch: Spaniens Innenbehörden waren sich der islamistischen Gefahr nicht bewusst. Viele Beamte waren aus den Sondergruppen für religiöse Fanatiker abgezogen worden, um im Kampf gegen die ETA eingesetzt zu werden. Doch was am Schlimmsten wiegt: Die Ermittler, die weiterhin auf Islamisten angesetzt waren, beobachteten mehrere der Attentäter vom 11. März monatelang, ohne sich der Gefahr, die von ihnen ausging, bewusst zu sein. Selbst der Sprengstoffdeal ging unter den Augen der Polizei vonstatten. Sowohl unter den Verkäufern als auch unter den Käufern befanden sich Polizei-Informanten.

Al-Qaida als Label

Die Anschläge von Madrid ähneln in ihrer Vorbereitung denen von London. Auch dort hatten die Attentäter ihre Tat selbst geplant. Zwar war die Gruppe in Madrid größer, doch auch hier besticht die Einfachheit des Vorgehens: Die Anschläge auf Pendlerzüge von Madrid kosteten gerade einmal 54.000 Euro. "Die Zellen, die jetzt im Namen von Al-Kaida handeln, sind nicht Al-Kaida, sondern nutzen Al-Kaida nur als Label", schlussfolgerte der britische Journalist und Al-Qaida-Spezialist Jason Burke in seinem 2004 veröffentlichten Buch "Al-Kaida". Die einstigen Strukturen seien längst vor den Anschlägen von Madrid und London weitgehend zerschlagen, viele Führer verhaftet oder getötet worden, sagte Burke nach den Anschlägen in London. "Die meisten Dschihadkämpfer fahren nicht mehr in Terrorcamps, sie loggen sich ins Internet ein", so Burke.

Spaniens Behörden beobachten seit dem 11. März das muslimische Umfeld aufmerksam. Über eine halbe Million Muslime leben im Land. Die meisten von ihnen stammen aus Marokko und Algerien. Radikale Islamisten stoßen vor allem in den großen Städten des Landes und in den beiden nordafrikanischen Enklaven Ceuta und Melilla auf fruchtbaren Boden. Immer wieder flogen in Madrid und Barcelona algerische Jugendbanden auf. Sie haben es neben Bargeld und Kreditkarten hauptsächlich auf Ausweispapiere von Touris-ten abgesehen. Die Polizei vermutet, dass diese für die klandestine Immigration, aber auch für den algerischen Untergrund bestimmt sind.

Unter den jungen Immigranten aus Algerien befinden sich viele, die bereits in ihrer Heimat Kontakt mit islamistischen Gruppen wie der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) oder gar radikaleren Formationen hatten. Sie sind auch weiterhin für islamistische Propaganda vom Stile Al-Qaidas zugänglich. Das gleiche gilt für Einwanderer aus Marokko. Kamen früher meist junge Erwachsene auf der Suche nach mehr westlichen Freiheiten, berichten Sozialarbeiter heute von verstärkten fundamentalistischen Ansichten. Die aussichtslose Lage der "Sin Papeles" in Spanien verstärkt bei vielen die Anfälligkeit für antiwestliche Propaganda noch.

Die Verhaftungen nach den Anschlägen in den USA, bei denen manche Spuren ebenfalls nach Spanien führten, und die Ermittlungen nach dem 11. März machen überdeutlich, wie breit verzweigt die Netze radikaler Islamisten bereits sind.

Ein besonderes Augenmerk legen die spanischen Behörden immer wieder auf die beiden nordafrikanischen Enklaven Ceuta und Melilla. In den Garnisonsstädten an der marokkanischen Mittelmeerküste leben starke muslimische Minderheiten. Die meisten von ihnen haben die spanische Staatsangehörigkeit. Das verhindert jedoch nicht die Kontakte zu radikalen Gruppen aus Marokko. Einige der jungen muslimischen Spanier schlossen sich gar den über 300 Marokkanern an, die in Afghanistan kämpften. Der bekannteste Fall: Hamed Abderraman. Der 32-Jährige aus Ceuta wurde von der US-Armee in den Bergen von Tora Bora festgenommen und nach einer zweijährigen Haft in Guantanamo nach Spanien überstellt.

Der Autor ist freier Autor unter anderem für den "Standard" und die "Basler Zeitung". Er lebt in Madrid.


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