Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Ralf Sotscheck

Die Realität spricht eine andere Sprache als politische Abkommen

Keine Ruhe in Nordirland: erst im vergangenen Mai wurde ein jugendlicher Katholik von Protestanten ermordet

Es war an einem Samstagabend im vergangenen Mai. Der 15-jährige Katholik Michael McIlveen und seine beiden Freunde hatten sich eine Pizza geholt und waren auf dem Weg nach Hause. Im Zentrum der nordirischen Kleinstadt Ballymena wurden sie von einer Gruppe protestantischer Jugendlicher mit Baseballschlägern angegriffen. McIlveens Freunde konnten entkommen, er selbst wurde in eine Ecke gedrängt und zusammengeschlagen. Am nächsten Morgen erlag er seinen Verletzungen.

"Kreative Uneindeutigkeit"

Die Empörung darüber, dass ein Schuljunge wegen seiner Religion ermordet wurde, war groß in Nordirland. Politiker aller Couleur verurteilten die Tat. Überrascht konnten sie allerdings nicht gewesen sein. In Nordirlands Städten kommt es dort, wo die Viertel der beiden Bevölkerungsteile aneinandergrenzen, Nacht für Nacht zu Straßenschlachten zwischen katholischen und protestantischen Jugendlichen, bei denen es selten ohne Verletzungen abgeht. Und in Ballymena werden die Kämpfe vielleicht noch etwas erbitterter ausgefochten als anderswo. Es ist die Hochburg des streitbaren Protestantenpfarrers Ian Paisley und seiner Democratic Unionist Party (DUP). Hier haben sie den inzwischen 80-jährigen Paisley seit Jahrzehnten mit Rekordmehrheiten ins britische Unterhaus, ins Europaparlament und ins Belfaster Regionalparlament gewählt, als es noch existierte. Dass die Regionalvertretung suspendiert ist, liegt nicht zuletzt an Paisley.

Dabei waren die Hoffnungen groß, als die Regierungen in London und Dublin gemeinsam mit Nordirlands Parteien am Karfreitag 1998 das Belfaster Abkommen unterzeichneten. Es sollte der Krisenprovinz Frieden bringen, doch der Text war schwammig formuliert, damit beide Seiten ihren Anhängern das Abkommen als Sieg verkaufen konnten. "Das Belfaster Karfreitagsabkommen, dessen Dokumente größtenteils von Dubliner Beamten formuliert wurden, ist ein Meisterwerk kreativer Uneindeutigkeit", schrieb der irische Schriftsteller John Banville und fügte hinzu: "Mehr als nur ein Kommentator fand, dass es kein Abkommen zwischen zwei Staaten, sondern eine Art sehnsuchtsvolles Gedicht sei."

Jahrelang wurde dieses "Gedicht" von den Beteiligten in alle möglichen, meist gegensätzlichen Richtungen interpretiert - nur Paisley machte nicht mit. Für ihn ist und bleibt es ein schlechtes Abkommen, weil es den Katholiken seiner Meinung nach zu viele Mitspracherechte in nordirischen Angelegenheiten einräumt. Er unterzeichnete nicht. Sein Ziel ist es nach wie vor, das Abkommen zu Fall zu bringen, so wie es ihm in der Vergangenheit stets gelungen ist, Bemühungen um eine Einigung in Nordirland zu torpedieren. Und nun ist er der mächtigste Mann in Nordirland: Seine Partei gewann bei den britischen Wahlen im vorigen Jahr die meisten Stimmen.

Paisley muss sich mit Sinn Féin ("Wir selbst"), dem politischen Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), auf die Bildung einer Mehrparteienregierung einigen, wie es im Abkommen vorgesehen ist, denn Sinn Féin ist seit den Wahlen stärkste Partei auf katholischer Seite. Doch Paisley und seine Parteikollegen verweigern jedes direkte Gespräch mit Sinn-Féin-Mitgliedern - selbst auf Kommunalebene. Im Stadtrat von Ballymena sitzt eine einzige Sinn-Féin-Vertreterin. Jedes Mal, wenn sie auf der Ratsversammlung spricht, beginnen die DUP-Stadträte lauthals Gespräche untereinander. Im Regionalparlament war das ebenso. In den 51 Jahren, in denen es existierte, wurde nur ein einziger Gesetzesantrag eines Katholiken angenommen: Es war das Gesetz zum Vogelschutz von 1931.

Parlament und Regierung wurden 2002 suspendiert, weil die IRA potenzielle Angriffsziele ausspioniert haben soll. Aber der Waffenstillstand, den die Organisation 1994 verkündete, hat bis auf den Bombenanschlag auf das Londoner Finanzzentrum Canary Wharf 1996 gehalten. Paisley baut jedoch immer wieder neue Hürden auf, um eine Regionalregierung mit Sinn-Féin-Beteiligung zu verhindern. Die Verhandlungen vor zwei Jahren auf Schloss Leeds bei London, bei denen Boten zwischen DUP und Sinn Féin vermitteln mussten, scheiterten, weil Paisley darauf bestand, dass die IRA abrüste und sich dabei zum Beweis fotografieren lasse. Das lehnte diese als "Versuch der Demütigung" ab, erklärte jedoch am 28. Juli 2005 in gewohnter militärischer Strenge: "Allen IRA-Einheiten ist befohlen worden, die Waffen niederzulegen. Alle Freiwilligen sind instruiert worden, der Entwicklung rein politischer und demokratischer Programme durch ausschließlich friedliche Mittel zu dienen. Die Freiwilligen dürfen nicht an irgendwelchen anderen Aktivitäten teilnehmen."

Nur Taten zählen

Das reichte Paisley nicht aus. Für ihn zählen nur Taten, sagte er. Zwei Monate später zerstörte die IRA unter den Augen der internationalen Abrüstungskommission ihr gesamtes Waffenarsenal. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass die IRA sämtliche Waffen unbrauchbar gemacht hat, die sie besaß", sagte der ehemalige kanadische General John de Chastelain, der die Kommission leitete. Ian Paisley Junior, genauso starrköpfig wie der Vater, traut der Abrüstung nicht. "Dass die IRA das im Geheimen getan hat, deutet an, dass die Sache nicht echt ist", argwöhnt er.

Das jüngste Hindernis für Verhandlungen, das die DUP aufgetischt hat, sind die "Verschwundenen" - eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der IRA. Anfang der 70er-Jahre wurden 13 Menschen von der IRA ermordet und an geheimen Orten vergraben. Einige Leichen wurden inzwischen gefunden, weil die IRA im Zuge des Friedensprozesses mit Informationen herausrückte. Im Fall von Jean McConville zog sich die Suche über mehrere Jahre hin, weil die Angaben der IRA ungenau waren. Die Mutter von zehn Kindern wurde Weihnachten 1972 von der IRA getötet, weil sie einem sterbenden britischen Soldaten nach einem IRA-Anschlag ein Gebet ins Ohr geflüstert haben soll, sagt McConvilles Familie. Die IRA behauptete noch im Juni, dass McConville eine Spionin im Dienst der britischen Armee gewesen sei - für Paisley ein weiterer Beweis, dass man sich mit Leuten, die solch ungeheuerliche Geschichten verbreiten, nicht an einen Tisch setzen könne.

Zwangsregierung droht

Dem britischen Premierminister Tony Blair platzte im Frühjahr der Kragen. Er hat den nordirischen Parteien bis zum 24. November Zeit gegeben, sich auf eine Mehrparteienregierung zu einigen. Wenn die Abgeordneten am 4. September aus dem Urlaub zurück-kehren, haben sie also nicht einmal drei Monate Zeit, um diese Frist einzuhalten. Steht die Regierung dann nicht, wird das Parlament endgültig aufgelöst. Die Abgeordnetendiäten werden gestoppt und die eigentlich im Mai nächsten Jahres fälligen nordirischen Wahlen abgesagt. Nordirland würde dann auf unabsehbare Zeit direkt aus London regiert.

Mit einem Einlenken der DUP ist dennoch kaum zu rechnen. Wie verhärtet die Fronten in Nordirland noch immer sind, zeigt die Ermordung des 15-jährigen Michael McIlveen. Er müsse leider in der Hölle schmoren, heuchelte ein DUP-Stadtverordneter aus Ballymena, weil er kein erlöster Christ, sondern nur ein Katholik gewesen sei. Pfarrer Ian Paisley deutete an, dass die Katholiken schuld an McIlveens Tod seien, weil sie in ihren Vierteln "provozierende Fahnen" - die irische Trikolore - gehisst hatten. DUP-Politiker sprechen stets von dem "angeblichen Mord", und als der Trauerzug mit dem Sarg des Jungen an einem protestantischen Viertel vorbeikam, wurde er mit Steinen, Flaschen und anderen Wurfgeschossen angegriffen.

Der Autor ist seit 1985 Großbritannien- und Irlandkorrespondent der "tageszeitung".


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