Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Beate Neuss

Konflikt mit dem Selbstbild

Die Stimmung in den USA hat sich in den vergangenen Jahren geändert
Der Flug der beiden Passagiermaschinen in die World Trade Towers und ihr Zusammensturz in einer Staub- und Schuttwolke gehört zu den unauslöschlichen Schreckensbildern unserer Zeit. Gesehen haben wir das Selbe, wir Europäer und die US-Amerikaner. Die Betroffenheit könnte dennoch nicht unterschiedlicher sein - das machte jedes Gespräch mit Amerikanern nach dem 11. September deutlich; dies ist so geblieben.

In Europa sind das Grauen und der Schock schwer nachzuvollziehen; in den USA hat es die Menschen verändert. Das ganze Land sah sich angegriffen, verwundet und im Krieg. Die Vereinigten Staaten waren nie arm an Flaggen und anderen patriotischen Zeichen - in den Tagen und Wochen nach dem 11. September war das Land überflutet mit patriotischen Symbolen. Tief empfundene Solidarität und Hilfsbereitschaft waren überwältigend; sie schufen einen starken Zusammenhalt, Kritik wurde rasch als unpatriotisch gebrandmarkt. Drei Jahre lang stützen auch die Medien dieses Klima. Die Bevölkerung scharte sich hinter der Regierung. Diese Unterstützung schwindet erst seit dem Fiasko im Irak.

Der 11. September, darin sind sich die Amerikaner weitgehend einig, war ein Angriff auf den American Way of Life, verstanden als Leben in einer demokratischen, rechtstaatlichen und offenen, liberalen Gesellschaft. Seit der Zerstörung Washingtons durch die Briten 1814 hatten die Amerikaner keinen Angriff von außen auf ihr Festland mehr erfahren. Das Gefühl der Unverwundbarkeit und der Sicherheit im eigenen Land vor äußeren Feinden gehörte zur psychischen Grundausstattung der Bürger. Um so tiefer traf der Schock.

Die Einschränkungen durch die neuen Sicherheitsmaßnahmen - sei es im Flugverkehr, in öffentlichen Gebäuden, das Abhören von Telefongesprächen und E-Mails - nehmen die Bürger mehrheitlich gelassen hin, auch weil sie zu Recht davon ausgehen, dass Al-Qaida oder andere Terrorgruppen weiter nach Zielen für Anschläge suchen. Allerdings wird auch in den USA das Dilemma diskutiert, das zwischen der Abwägung des Rechts der Bürger auf Unversehrtheit und der Erhaltung des Schutzes der individuellen Freiheitsrechte vor staatlichen Eingriffen entsteht. Ein Gericht in Detroit erklärte am 17. August 2006 das Abhörprogramm der National Security Agency (NSA) für verfassungswidrig: Es verstoße gegen das Recht auf Privat-sphäre.

Präsident Bush war in den ersten Monaten seiner Amtszeit ein innenpolitisch orientierter Präsident, dagegen auf außenpolitischem Gebiet fast völlig inaktiv. Dies änderte sich nach dem 11. September. Seither steht die amerikanische Politik unter dem Primat der Terrorbekämpfung. Der von Bush ausgerufene "War on Terror" ist in dem halben Jahrzehnt, das seither vergangen ist, von der Bevölkerung und der politischen Elite mitgetragen worden. Die Zustimmungsraten zu seiner Amtsführung erreichten in den Wochen nach dem 11. September bis dahin nie gesehene 91 Prozent; sie blieben bis zum Debakel im Irak auf einem sehr hohen Niveau.

Parteiübergreifend billigte der Kongress mit großer Mehrheit das Ziel, nicht nur Stützpunkte der Al-Qaida in Afghanistan anzugreifen, sondern auch die Taliban zu stürzen, um einen Regimewechsel zu bewirken. Der Präsident hatte den Kongress und das Volk darauf vorbereitet, dass der Kampf gegen den Terrorismus lange dauern werde. Die Mehrheit der Politiker und 89 Prozent der Bevölkerung (2002) unterstützen den "War on Terror". Der rasche Erfolg nach fünf Wochen, in denen nicht einmal 500 Soldaten und CIA-Mitarbeiter in Afghanistan aktiv waren, festigte die Zustimmung der Bevölkerung, selbst wenn Bin Laden nicht gestellt werden konnte. So konnte die Regierung die Entscheidung für die Invasion des Irak durchsetzen. Als unilaterale Macht sahen sich die Amerikaner dabei nicht: Eine Mehrheit befürwortete ein in die Weltgemeinschaft eingebundenes Vorgehen. 74 Prozent unterstützten schließlich doch den Krieg, weil er als geeignetes Mittel im Kampf gegen terroristische Bedrohungen betrachtet wurde, obwohl die Befragten realistisch einschätzten, dass der Alleingang das Ansehen der USA weltweit erheblich beschädigen würde.

Erst mit dem Desaster der Besatzungspolitik im Irak kamen Zweifel auf. Gründe dafür lieferten die Selbstmordattentate, die einen wachsenden Blutzoll forderten, die Bedingungen, unter denen "ungesetzliche feindliche Kämpfer" in Guantanamo ohne Gerichtsverfahren gehalten werden und die Folter-Fotos aus Abu Ghraib, die das amerikanische Selbstverständnis der Nation als einer Hüterin von Freiheits- und Menschenrechten beschädigten. Nicht zuletzt ernüchtert die Erkenntnis, von der Regierung mit gefälschten Beweisen über das irakische Rüstungsprogramm in den Krieg geführt worden zu sein. Wenn heute nur noch 34 Prozent der Amtsführung des Präsidenten zustimmen, muss diese Zahl mit Blick auf die Kriegsführung dennoch mit Vorsicht gewertet werden: Immer noch meint rund die Hälfte der Bevölkerung, dass Bush bei der Terrorbekämpfung "einen guten Job" mache. Es sind primär die innenpolitischen Themen, die Korruptionsskandale, das Management bei der Bewältigung der Folgen des Wirbelsturms Katrina, die Wirtschafts-, Steuer-, und Migrationspolitik sowie die hohen Benzinpreise, die die Unzufriedenheit hervorrufen und Zweifel an den Führungsqualitäten wecken.

Die USA wären nicht die USA, säßen nicht ihre schärfsten Kritiker im eigenen Land. Bei der orthodoxen Linken, linken Intellektuellen, an den Universitäten und auf der extremen Rechten verwob sich die Kritik an der Politik der USA untrennbar mit fundamentaler Kritik des politischen Systems und des Kapitalismus. Die Zahl der prominenten Kritiker ist groß: Schauspieler wie Richard Gere, Filmemacher wie Oliver Stone und Michael Moore gehören dazu wie die Schriftsteller Gore Vidal, Susan Sontag und Norman Mailer. Während Sontag den USA ein imperiales Programm vorwarf, sieht Vidal in Osama Bin Laden nicht nur die Antwort auf die aggressive Politik der USA; er konstruiert eine Verschwörungstheorie, gemäß der die Regierung den Anschlag bewusst in Kauf genommen habe, damit die Rüstungsindustrie profitieren könne.

Aber diese Auffassungen bleiben Minderheitenmeinung. Eine andere Minderheit, fundamentalistische Christen, gehört zum harten Kern der Unterstützer. Die Evangelikalen sind disziplinierte Wähler: Sie nutzen ihr Wahlrecht konsequent und legen rund fünf Prozent in die Waagschale. Kein Präsidentschaftskandidat kann diese Stimmen leichtfertig abschreiben, republikanische Kandidaten können nur mit Hilfe dieser Gruppe auf einen Sieg hoffen.

So unterscheidet sich die Diskussion der politischen Elite in Washington vom "Bush-bashing" auf dem Universitätscampus: Nicht nur demokratische Abgeordnete distanzieren sich im laufenden Kongresswahlkampf von George W. Bush - auch viele Republikaner suchen den Abstand. Sie kritisieren aber nicht die militärische Bekämpfung des Terrors oder die Invasion des Iraks an sich. Statt dessen wird die Irreführung der öffentlichen Meinung angeprangert, die Inkompetenz der Kriegsführung im Irak und das Zuständigkeitswirrwarr der nationalen Sicherheitsbehörden. Prominente Politiker der Opposition, wie etwa Hillary Clinton, Joseph Biden und Richard Holbrooke bekennen sich zu humanitären Interventionen und zur Förderung amerikanischer Werte weltweit.

Die Kongresswahlen im November werden wohl die republikanische Mehrheit im Kongress kippen, allerdings eher wegen allgemeiner Kritik an der politischen Klasse als wegen Bushs "War on Terror". Alle Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen 2008 kommen zu einem Vorsprung des Republikaners. Die Demokraten konnten keine überzeugende Alternative zu Bushs Strategie der Terrorbekämpfung entwickeln. Weit mehr muss der Präsident die Kritik von früheren Regierungsmitgliedern fürchten: Colin Powell zeigte sich bedrückt, dass er sich aufgrund falscher CIA-Informationen zur Befürwortung des Irak-Krieges entschlossen hatte. Die Kritik des ehemaligen Sicherheitsberaters von Bush sen., Brent Sowcroft, an der Entscheidung zum Irak-Krieg wurde gar als stellvertretend für andere konservative Realisten wie Henry Kissinger, James Baker, wenn nicht sogar von Bush sen. gewertet. So könnte die Entscheidung des Präsidenten, den Krieg gegen den Terror im Irak fortzuführen, ihn die Unterstützung der konservativen Realisten im Establishment kosten.

Nach dem Irak-Krieg glaubt nur rund die Hälfte der Bürger in den USA, dass die Welt sicherer geworden ist. Noch überzeugt aber mehrheitlich der Einsatz militärischer Mittel. Oft ist zu hören, dass so immerhin ein weiteres Attentat in den USA verhindert wurde.

Wie einig sich Bürger und Politiker beider Parteien in der Akzeptanz militärischer Reaktionen auf terroristische Anschläge sind, zeigte sich, als Israel auf die Provokationen durch Hisbollah und Hamas mit militärischen Schlägen auf den Libanon antwortete: Da die Aktionen der Terrorgruppierungen als Teil des internationalen Kampfes zwischen islamistischen Fundamentalisten und der freien Welt gewertet wurden, sahen Politiker und Bürger Israels Reaktion als gerechtfertigt an. Dennoch ist zu erwarten, dass die Vereinigten Staaten ihre Politik korrigieren und stärker auf politische und diplomatische Methoden zurückgreifen werden, denn die Ergebnisse des "War on Terror" befriedigen die Regierung nicht - und die Amerikaner geraten zunehmend mit ihrem nationalen Selbstbild in Konflikt.

Die Autorin ist Professorin für Internationale Politik an der Technischen Universität Chemnitz.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.