Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006

"Ein Akt der Freiheit"

Daniel Libeskind über den Ground Zero und die Pläne der Wiederbebauung
Daniel Libeskind gilt als schillernde Figur der internationalen Architekturszene. Die Medien feiern ihn als einen der renommiertesten Baumeister unserer Gegenwart. Derzeit bereitet Libeskind unter anderem ein Einkaufszentrum bei Bern ("Westside"), das Militärhistorische Museum Dresden und in New York das weltweit wohl ehrgeizigste Bauvorhaben vor: Er fungiert als Masterplaner für die Neubebauung des Geländes, auf dem das World Trade Center stand.

Das Parlament        Herr Libeskind, wie haben Sie den 11. September 2001 erlebt?

Daniel Libeskind         Ich war damals im Jüdischen Museum Berlin, als es für die Öffentlichkeit eröffnet wurde. Ich wollte nach New York zurückfliegen, aber das Flugzeug durfte dort nicht landen und musste wieder umdrehen.

Das Parlament        Haben Sie bei der Vorbereitung für die Neubebauung von Ground Zero Kontakt zu Überlebenden oder Verwandten der Ermordeten gesucht?

Daniel Libeskind         Ja, mein Ausgangspunkt war das Problem, wie Erinnerung mit dem Bauplatz verknüpft werden kann. Es geht nicht nur um Bürofläche oder Infrastruktur, hier sind Menschen umgekommen. Dieser Ort ist in gewisser Weise für immer geweiht. Darum habe ich die Hälfte des Grundstücks unbebaut gelassen und es den Opfern und ihren Angehörigen gewidmet.

Das Parlament        Sie sind vor allem durch den Bau von Museen und Gedenkstätten bekannt geworden. Was ist an Ground Zero verglichen mit Ihren bisherigen Arbeiten anders?

Daniel Libeskind         Der Schwerpunkt liegt nicht auf einzelnen Gebäuden, sondern auf einer Stadt. Wir bebauen sechs Hektar des New Yorker Stadtgebietes; wir schaffen 40 Prozent der Bürofläche. Wir müssen der Skyline neues Leben einflößen, auch mit kulturellen Aktivitäten. Wir müssen das Image verschieben, das Lower Manhattan von der Wallstreet hat.

Das Parlament        Vor über 18 Monaten wurde der Grundstein gelegt, aber die Bauarbeiten haben noch immer nicht begonnen. Ist Zero die treffende Umschreibung für das Bauvorhaben?

Daniel Libeskind         Nein, überhaupt nicht, aber Ground Zero ist sehr komplex. Jeder hat die politischen Auseinandersetzungen zwischen dem Pächter, der Hafenbehörde, dem Bürgermeister von New York, den Gouverneuren von New Jersey und New York verfolgen können. Ground Zero ist ein Marathon und nichts für Primadonnen, die für ein paar Sekunden einen glanzvollen Auftritt im Fernsehen haben wollen.

Das Parlament        Die rivalisierenden Politiker haben dem Bauherrn Larry Silverstein kürzlich ein Ultimatum gestellt - mit dem Argument, er sei Schuld an der Verschleppung der Bauarbeiten. Hat sich Ihre Situation damit verbessert?

Daniel Libeskind         Oh, ja! Wir haben die Vereinbarung mit Silverstein gebraucht, um den Freedom Tower bauen zu können. Man hat sich darauf verständigt, meinen Masterplan umzusetzen, verbunden mit einer klaren Botschaft an den Pächter: Entweder du arbeitest nach diesem Plan mit oder du bist draußen! Das war ein gewaltiger Schritt für das Projekt.

Das Parlament        Was heißt das konkret?

Daniel Libeskind         Die Gedenkstätte und der Bahnhof sind im Bau, die umliegenden Straßen sind bereits miteinander verbunden, ein Museum in der nordwestlichen Ecke des Geländes entsteht. Wir hoffen, dass die Arbeiten am Freedom Tower bald beginnen können. Mit aller Bescheidenheit: 2003 habe ich den Wettbewerb für Ground Zero gewonnen, und das ist eigentlich noch gar nicht so lange her, wenn man bedenkt, dass es 30 Jahre brauchte, um die beiden Zwillingstürme fertigzustellen. Wir werden 2009 erste Ergebnisse sehen.

Das Parlament        Beschreiben Sie uns bitte, wie der Ground Zero einmal aussehen wird ...

Daniel Libeskind         Der Platz soll wieder zu einem lebendigen Stadtteil werden, keinem Vorzeigemodell mit einigen riesigen abstrakten Gebäuden. Die Gedenkstätte und das Memorial werden Lower Manhattan zu einem großartigen Ort aufwerten. Auf Straßenniveau wird es einen wunderbaren Park geben, unten - in circa 28 Meter Tiefe - werden wir die Fußabdrücke der Twin Towers abbilden. Hier wird es eine Gedenkstätte geben, die nicht mit der Geschäftigkeit der Straßen kollidiert. Es wird Bassins geben, man wird das Wasser hören, und das alles abgeschirmt von der Außenwelt mit ihren Motorengeräuschen. Hier unter der Erde kann man die wahre Kraft des Ortes spüren und das, was 2001 geschah.

Das Parlament        Wird der Freedom Tower Zentrum des Geländes sein?

Daniel Libeskind         Ja, denn das Gebäude besitzt eine symbolische Größe und windet sich wie eine Spirale in Erinnerung an die Freiheitsstatue bis in eine Höhe von 1776 Fuß hinauf. Es wird eine Plattform erhalten, von der die ganze Stadt überblickt werden kann. Und natürlich wird der Eingang des Platzes von der Uhrzeit der beiden Terrorangriffe zwischen 8.49 Uhr und 10.28 Uhr bestimmt werden. Hier wird symbolisch eine Verbindung zum Untergrundbahnhof von Calatrava entstehen.

Das Parlament        Der Freedom Tower soll eine Höhe von 1776 Fuß haben. Führt diese Anspielung an die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung nicht zur Banalisierung der Opfer?

Daniel Libeskind         1776 steht für das erste Dokument in der Weltgeschichte, das von der Gleichheit aller Menschen spricht. Das kann man nicht wie ein leeres Symbol behandeln. Weder Politiker noch die Propaganda können sich der Unabhängigkeitserklärung bemächtigen, sie gehört allen freien Menschen. Die Opfer vom 11. September sind zu Helden geworden, obwohl oder gerade weil sie gewöhnliche Menschen waren, die zu ihrer Arbeit gingen. Wir dürfen nicht einfach sagen, dass etwas Schlechtes geschehen und wie eine Seuche über uns gekommen ist. Wir müssen etwas daraus lernen.

Das Parlament        Sie verfolgen also auch eine pädagogisch-moralische Absicht mit Ihrem Entwurf des Ground Zero?

Daniel Libeskind         Wenn man sich der Architektur bewusst wird, dann geht es um etwas anderes als um Manipulation oder Erziehung. Es ist gut, wenn man zu fragen beginnt, wenn Menschen sich über die Be-ziehung von Architektur und Raum wundern und sich kritisch ihrer eigenen Sichtweise innerhalb des Gebäudes stellen müssen. Das ist genau jener Funke, der zu etwas ganz anderem führt als zu jener Trägheit, mit der man Gebäude wie Konsumartikel ansieht - ähnlich Autos, Waschmaschinen oder anderen Industrieprodukten.

Das Parlament        Warum haben Sie sich beim Freedom Tower für einen so großen Gebäudekörper entschieden?

Daniel Libeskind         Es ging mir nicht darum, den höchsten Turm der Welt zu entwerfen, sondern einen traditionellen Turm. Niemand braucht ein Gebäude mit 150 Stockwerken, kein Investor würde einen solchen Turm finanzieren. Wir bauen einen sicheren Wolkenkratzer mit 65 Etagen. Gleichzeitig hatte ich vorgeschlagen, dass dieser Turm öffentlichen Raum zur Verfügung stellt. Über dem 65. Stockwerk sollten Restaurants und andere Räumlichkeiten entstehen. Besucher sollten bis zu einer Aussichtsplattform in Höhe des alten World Trade Centers gelangen. Der Turm verkörpert nicht nur meine eigenen Vorstellungen, die New Yorker wollen die Wiederherstellung der Skyline auf eine bedeutsame Weise.

Das Parlament        Muss die Größe des Gebäudes nicht als imperiale Geste gedeutet werden?

Daniel Libeskind         Überhaupt nicht, denn New York ist eine Stadt der Hochhäuser. Hier gab es zwar eine Tragödie, aber neue Wolkenkratzer zu bauen, ist auch ein Akt der Freiheit.

Das Parlament        Ursprünglich sah Ihr Entwurf einen Wolkenkratzer vor, der in seinen Umrissen an die Freiheitsstatue erinnern sollte.

Daniel Libeskind         Unglücklicherweise haben diese "Gärten der Welt" dem Druck der privaten Investoren nicht standgehalten und werden nicht realisiert.

Das Parlament        Kritiker behaupten, Ground Zero werde am Ende ausschließlich als Symbol für Profitdenken und business-as-usual stehen. Sie sagen, es soll auch Raum für Erinnerung, Reflexion und Trauer geben. Wie kann das gelingen?

Daniel Libeskind         Der ganze Bau ist nicht nur als kommerzielle Fläche geplant. Natürlich musste ich mich an den Vorgaben der Hafenbehörde orientieren. Es werden also auch Büros entstehen, aber gleichzeitig will ich bedeutsame öffentliche Räume schaffen. Der Ground Zero soll so gestaltet sein, dass er sich zum Himmel öffnet, dass man die Schönheit Lower Manhattans und des Hudson Rivers mit der Freiheitsstatue ahnt und dass man sich an die wahren Wurzeln New Yorks und der amerikanischen Demokratie erinnert. Ich will etwas Lebendiges schaffen, wo Menschen arbeiten und ein Verkehrssystem benutzen; ein Zentrum, wo Millionen Menschen sich täglich aufhalten - auch um zur Gedenkstätte oder zur neuen Plaza zu gelangen.

Das Parlament        Wie soll am Ground Zero des Anschlags überhaupt gedacht werden: als düstere Tragödie, als patriotische Heilsgeschichte, als Sieg über den Terrorismus?

Daniel Libeskind         Wir werden sicher eine bedeutsame Gedenkstätte schaffen und keine, die den Heroismus feiert. Die Gedenkstätte wird etwas von Intimität in sich tragen, die nicht im Widerspruch zur Geschäftigkeit steht. New Yorks Straßen müssen belebt sein. Anderseits wollen wir eine Gedenkstätte der Stille und Spiritualität, die den tausenden, vielleicht sogar Millionen von Besuchern. Ich möchte, dass man die Leere, die fehlenden Gebäude, die ursprünglich hier standen und die in dieser Form nicht wieder aufgebaut werden, als einen Ort des Nachdenkens erleben kann.

Das Parlament        Besteht die Gefahr, dass Ground Zero zum architektonischen Lockmittel für unsere Freizeit- und Erlebnisgesellschaft degeneriert?

Daniel Libeskind         Nein, denn Teile der Gedenkstätte liegen ja unter der Erde. Da gibt es keinen Konflikt mit der Geschäftigkeit und den Vergnügungen New Yorks.

Das Parlament        Kritiker behaupten, dass niemand auf das Gelände aus Angst vor neuen Anschlägen umziehen würde. Braucht New York neue Bürotürme?

Daniel Libeskind         Büroflächen sind absolut notwendig. Wir sitzen hier im Zentrum des amerikanischen Finanzwesens, eines Teils der Welt und der amerikanischen Nation. Das können Sie nicht in einen Park verwandeln. Natürlich habe ich eine Menge Ideen, damit Menschen hierher ziehen. Aber viele dieser alten Bürohäuser lassen sich nicht in Appartments verwandeln. Klar gibt es Menschen, die hier leben wollen, aber nicht an einem Ort, wo abends um sechs die Lichter ausgehen. Meine Aufgabe ist es, ein lebendiges Viertel zu gestalten. Aber all die Vorgaben und Pläne für Ground Zero wurden mir als Architekt gestellt, ich habe sie nicht erfunden.

Das Parlament        Viele Kommentatoren haben sich mit dem Thema Geld und Macht beschäftigt. Die baulichen Qualitäten am Ground Zero wurden dagegen selten diskutiert, warum?

Daniel Libeskind         Geld ist natürlich ein wichtiger Faktor in New York, und der Konflikt zwischen den Politikern und Herrn Silverstein war nicht einfach. Aber es gab schon Auseinandersetzungen beim Empire State Building, beim Guggenheim Museum, dem Chrysler Building oder dem Central Park - immer. Ein großes Projekt wie Ground Zero braucht Zeit, verbunden mit einer klaren Botschaft an den Investor.

Das Interview führte Michael Marek. Er ist freier Journalist in Hamburg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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