Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Wolfgang Koydl

Das Königreich und seine Muslime: Ressentiments und Entfremdung

Die multikulturelle Politik in Großbritannien ist gescheitert

Für einen besonderen Kundenkreis hat die britische Lloyds Bank seit kurzem etwas Spezielles im Angebot: Girokonten, die das islamische Zinsverbot berücksichtigen, sollen vor allem muslimische Studenten ansprechen. Da man davon ausgehen kann, dass ein renommiertes Geldinstitut solche Entscheidungen nicht trifft, ohne vorher einschlägige Marktforschung angestellt zu haben, dürfte es sich wohl um eine profitable Nische handeln. Immerhin leben 1,3 Millionen Muslime in Großbritannien, und immer mehr von ihnen nehmen es mit ihrer Religion sehr genau.

Die Ankündigung von Lloyds Bank freilich war eine der wenigen guten Nachrichten, die Britanniens Muslime in den letzten Wochen vernommen haben. Seit bekannt wurde, dass es sich auch bei den mutmaßlichen Verschwörern des jüngst aufgedeckten Terrorkomplotts - bei dem bis zu zehn transatlantische Verkehrsmaschinen auf dem Flug vom Vereinigten Königreich in die Vereinigten Staaten in der Luft gesprengt werden sollten - ausnahmslos um britische Staatsbürger handelt, sind alte Gewissheiten vollends ins Rutschen geraten. Schon im vergangenen Jahr hatte die britische Öffentlichkeit fassungslos registrieren müssen, dass die Mörder, die Bomben in der Londoner U-Bahn und in einem Bus zündeten, keine aus Saudi-Aarabien oder dem Jemen eingewanderten Söldner in der Armee des Propheten waren, sondern in Großbritannien zur Welt gekommen und sozialisiert worden waren - einschließlich Fish and Chips und Kricket-Spiel. Experten gehen davon aus, dass Großbritannien mehr als jeder andere westliche Industriestaat von hausgemachtem islamischem Terror bedroht ist.

Vor zehn Monaten hatte die Regierung unter Premierminister Tony Blair unter dem Eindruck der Anschläge eine Kommission ins Leben gerufen, die im Gespräch mit den muslimischen Gemeinden und Organisationen im Land eine Liste von 60 Empfehlungen ausarbeitete, mit denen der Dialog der Kulturen verbessert werden könnte. Die Behörden freilich ignorierten den größten Teil der Ratschläge - wobei vor allem die Weigerung Westminsters gerügt wurde, die Hintergründe der Anschläge vom siebten Juli vergangenen Jahres durch ein unabhängiges Gremium untersuchen zu lassen.

Nun, da abermals zwölf Briten und eine Britin beschuldigt werden, aus religiösem Wahn einen Massenmord über den Wolken geplant zu haben, mischen sich in die Ratlosigkeit zum ersten Mal auch Furcht und Zorn. Eine Umfrage hat ergeben, dass sich 53 Prozent der Briten vom Islam bedroht fühlen. Mit Besorgnis nehmen die etablierten Parteien zudem zur Kenntnis, wie bisher eher wirre Parolen rechtsextremer Politiker zunehmend auf Gehör stoßen. Die rechte "British National Party" etwa forderte kürzlich ein generelles Flugverbot für männliche Muslime zwischen 15 und 50 Jahren. Diese Sorge hat die von der Labour Party gestellte Regierung dazu getrieben, sich mittlerweile von einem Grundpfeiler sozialdemokratischer Ausländerpolitik zu distanzieren - dem Konzept des Multikulturalismus. Ruth Kelly, die das neu geschaffene Ministerium für den Umgang mit Minderheiten leitet, verlangte eine "neue und ehrliche" Debatte darüber, ob die bisher praktizierte Politik des Laissez faire, die jeder Gemeinschaft das Recht auf ihre eigene Lebensweise gestattete, nicht eher zur Zersplitterung der Gesellschaft geführt habe als zu einer tieferen Integration.

Tatsächlich sind dem Vereinigten Königreich Kulturkampf-Debatten wie etwa der französische oder deutsche Streit über das islamische Kopftuch erspart geblie-ben. Bei der Selbstgefälligkeit über den vermeintlich besseren britischen Weg übersah man jedoch, dass man es über Jahre versäumt hatte, gemeinsame britische Werte zu vermitteln. Gerade dies freilich wäre wichtig gewesen, da sich vor allem jüngere Menschen nach eigener Auskunft in einem Schwebezustand befinden: Sie haben die Werte ihrer Ursprungsländer noch nicht ganz verlassen, sind aber auch noch nicht richtig in Großbritannien angekommen.

Respekt für Osama Bin Laden

Nach Ansicht von Ruth Kelly ist der "einförmige Konsensus" über Multikulturalismus im Vereinigten Königreich zusammengebrochen. Dann wurde sie noch deutlicher: "Es gibt weiße Briten, denen die Veränderungen nicht gefallen, und die mit ansehen, wie sich die Geschäfte und die Restaurants im Zentrum ihrer Städte verändern." Dies führe oft zu "Ressentiments und einem Gefühl der Verdrossenheit". Ressentiments und Verdrossenheit findet man freilich auch auf der anderen Seite, bei den Minderheiten und hier vor allem bei den Muslimen. Sie ist eine der jüngsten Bevölkerungsgruppen im Vereinigten Königreich (mehr als die Hälfte sind jünger als 25), und lässt sich von der Generation ihrer Eltern und Großeltern nichts mehr sagen. Das Problem ist, dass die Regierung und lokale Behörden bislang nur mit älteren Muslimen den Dialog gepflegt haben, weil sie die diversen etablierten islamischen Vereine anführen. Sie spiegeln aber nicht die Meinung ihrer Gemeinschaft. So waren Erstaunen und Entsetzen gleichermaßen groß, als Umfragen ergaben, dass substantielle Minderheiten der britischen Muslime beispielsweise die Selbstmordattentäter vom vergangenen Jahr als Märtyrer sehen und "Respekt" für Osama Bin Laden bekunden.

Der multikulturelle Ansatz der Ausländerpolitik ist nur einer der möglichen Gründe dafür, dass die Bereitschaft zu Terrortaten unter britischen Muslimen stärker ausgeprägt zu sein scheint als unter Nordafrikanern in Frankreich oder Türken in Deutschland. Mindestens ebenso maßgeblich ist die Außenpolitik der Regierung Blair, die nicht nur von Muslimen im Land, sondern von einer Mehrheit der Wähler als amerikahörig, israelfreundlich und araberkritisch eingeschätzt wird. Tatsächlich machten muslimische Abgeordnete des Ober- und des Unterhauses sowie die Vertreter von 38 islamischen Organisationen kürzlich in einem offenen Brief an Blair das Engagement Britanniens in Afghanistan und im Irak für die Ressentiments in der muslimischen Gemeinde mit verantwortlich.

Darüber hinaus ist die Mehrheit der britischen Muslime vom indischen Subkontinent - aus Indien, Pakistan und Bangladesh - in das ehemalige Mutterland eingewandert. Die koloniale Vergangenheit ist unter ihnen ebenso präsent wie eine traditionell konservative Auslegung des Islam. Erzkonservative islamische Bewegungen wie beispielsweise die Jamaat el-Tablighi, die in die Nähe des Terrors gerückt werden, sind aus dem fundamental-muslimischen Deobandi-Orden hervorgegangen. Er wurde im 19. Jahrhundert in Britisch-Indien gegründet - unter anderem auch mit dem Ziel, das britische Kolonialjoch abzuschütteln. Historische Ressentiments und aktuelle Entfremdung sind es, die eine brisante und mitunter hochexplosive Mischung ergeben.

Der Autor ist London-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung".


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