Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Johannes Zang

Fließende Grenzen zwischen Widerstand und Terror

Der Nahostkonflikt ist auch ein Streit um Worte
Auch im Jahr 2006 lebt das palästinensische Volk noch nicht in Freiheit. Das wird bei der Berichterstattung über Gewalt und Gegengewalt häufig ausgeblendet. Ihre Unterdrückung ist nach Meinung der allermeisten Palästinenser die Ursache für den in ihren Augen berechtigten palästinensischen Widerstand, der da, wo er Zivilisten trifft, allerdings zum verabscheuungswürdigen Terror wird. Die israelische Seite sieht dies - wenig überraschend - anders.

Für offizielle israelische Stimmen ist der Grund für die palästinensischen Bombenattentate und andere Angriffe letztlich die "strategische Entscheidung der palästinensischen Führung, Gewalt - anstelle von Verhandlungen - als primäres Mittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen einzusetzen". Darin jedenfalls sieht die israelische Botschaft in Berlin den Auslöser für die zweite Intifada. Die Vertretung Israels erklärt, dass der "palästinensische Terror auch vor Israels Präsenz im Westjordanland und im Gazastreifen existierte" und zwischen "1994 und 1996 immer dann hart zugeschlagen hat, wenn der Friedensprozess große Fortschritte gemacht" habe.

Der Friedensprozess: Wie kommt es, dass Palästinenser nie in den Genuss seiner Früchte kamen? Drei Beispiele sollen das verdeutlichen. Beispiel 1: Israel hat seinen Siedlungsbau auf palästinensischem Land nicht eingestellt, wie es das Oslo-Abkommen gefordert hatte. "Die Tatsache, dass Israel nach dem Osloer Abkommen noch einmal soviel Land besiedelt hat wie in dem Zeitraum davor, wird von den Palästinensern als strukturelle Gewalt empfunden", schreibt Usama Antar in seinem Buch "Voraussetzungen eines palästinensischen Staates." Beispiel 2: Während 1995 "nur" 91 unbescholtene palästinensische Einwohner Ost-Jerusalems ihr Aufenthaltsrecht in der Stadt verloren, entzog die Stadtverwaltung dieses ein Jahr später 739 und 1997 gar 1.067 Palästinensern. Grund: Sie hatten zu lange im Ausland gelebt oder es versäumt, ihren Jerusalem-Ausweis zu erneuern. Das alles geschah zu Hochzeiten des angeblichen Friedensprozesses.

Letztes Beispiel aus jüngster Zeit, Schauplatz: Ost-Jerusalems Jabel Mukkaber-Viertel: "Da vorne sind die Terroristen!", ruft der junge Palästinenser erregt. Sein Finger zeigt auf israelische Soldaten, die - teils beritten - das Gelände um ein palästinensisches Haus absperren. In dieses schlägt ein Bagger immer wieder seinen Eisenzahn. Das erst vor einem Jahr fertig gestellte Haus ist wie so viele andere in Ost-Jerusalem ohne Baugenehmigung gebaut worden. Ältere Frauen weinen und wimmern. Kinder stehen sprachlos da. Von den landestypischen Flachdächern aus oder zwischen Olivenbäumen beobachten die Nachbarn das Geschehen, das schon Alltag in Ost-Jerusalem geworden ist. Illegal erbaute Häuser abzureißen, ist das gute Recht Israels - doch eines ist in Berlin oder New York aber zumeist unbekannt: Palästinenser in diesem Teil Jerusalems erhalten so gut wie keine Genehmigung, auf eigenem Land zu bauen oder aufzustocken - oder nur gegen die Zahlung von Summen ab 20.000 US-Dollar aufwärts. Das zwingt viele, heimlich zu bauen, weil die Familie größer wird oder der Sohn heiraten will.

Nach Angaben des "Israelischen Kommittees gegen Hauszerstörung" hat der Staat Israel seit Beginn der israelischen Besatzung 1967 etwa 12.000 palästinensische Häuser in Ost-Jerusalem und den Palästinensischen Gebieten zerstört, darunter 740 während des Oslo-Friedensprozesses. Ein Haus zu zerstören ist unter der 4. Genfer Konvention einer Besatzungsmacht jedoch untersagt. Doch Israel sieht sich gar nicht als Besatzer - für den jüdischen Staat sind das West-Jordanland sowie der Gaza-Streifen "umstrittene Gebiete". Raji Sourani, Direktor des "Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte" in Gaza verdeutlicht das: "Israel hat die besetzten Gebiete als solche nur 43 Tage lang im Jahre 1967 anerkannt. Dann merkte es, dass dies das eigene strategische Interesse beeinträchtigt, weil Israel Jerusalem annektieren und Siedlungen bauen wollte. Unter der 4. Genfer Konvention findet sich das Kriegsverbrechen. Doch Israel erkennt weder die Besatzung noch die de-jure-Anwendbarkeit der 4. Genfer Konvention an." Von letzterer sei "nichts übrig geblieben, was nicht von Israel verletzt worden ist", bilanziert der Menschenrechtsverteidiger.

Kriegsgefangener oder Entführter

Der Nahostkonflikt - ist er letztlich ein Streit um Worte? Besatzung: Ja oder Nein? Legitimer Widerstand, Selbstverteidigung, strukturelle Gewalt, Terror - wo verlaufen da die Grenzen? Laut Raji Sourani hat Israel vor drei Jahren den Begriff "Illegaler Kämpfer" geprägt - und dieser Kämpfer sei ein legitimes Ziel. Erst kürzlich zeigte sich dieser Streit um Begriffe erneut: im Fall des israelischen Soldaten Gilad Shalit. Von "Entführung" sprachen israelische Politiker. Es handele sich um einen "Kriegsgefangenen", hielt die palästinensische Seite dagegen und erhielt Unterstützung von Uri Avnery, Israels Friedensstreiter Nummer Eins.

Ist man bei all der Wortklauberei, verbunden mit gegenseitigen Vorwürfen, dem Frieden näher gekommen? Mitnichten. Allein in den knapp sechs Jahren, die die zweite Intifada nun schon tobt, sind 5.207 Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten ums Leben gekommen. Die meisten der 3.929 getöteten Palästinenser starben durch Geschosse der israelischen Armee. Insgesamt 1.009 Israelis verloren ihr Leben - gut die Hälfte von ihnen in bei Angriffen und Selbstmordattentaten auf israelischem Boden, 461 dagegen in den palästinensischen Gebieten.

Eine Unterscheidung, die offenbar wichtig ist, auch wenn es keinen der Toten zurückbringt. Denn Artikel 1 des "Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte" gebe dem besetzten Volk das "volle Recht, Widerstand gegen die Besatzung zu leisten - sogar mit Waffen", sagt Raji Sourani. Terrorismus dagegen sei, "gegen internationales Recht, internationales humanitäres Recht, gegen die 4. Genfer Konvention und gegen die Menschenrechte zu handeln", kurzum: "auf Zivilisten zu zielen". Genau das aber tut Israel seiner Meinung nach. "Krieg gegen eine gänzlich zivile Bevölkerung", damit meint er die jüngsten israelischen Angriffe im Gaza-Streifen. Fast zwei Drittel der dabei getöteten 200 Palästinenser seien Zivilisten gewesen, so Sourani.

Was aber ist mit israelischen Zivilisten auf palästinensischem Land, das nach internationalem Recht als "besetzt" gilt? Dort leben über 200.000 israelische Staatsbürger - so genannte "Siedler". Nach der 4. Genfer Konvention ist es einer Besatzungsmacht untersagt, die eigene Bevölkerung in das eroberte Land zu transferieren. Dort, in den palästinensischen Gebieten, sind seit 29. September 2000 insgesamt 235 israelische Zivilisten - zumeist Siedler - ums Leben gekommen. Diese sind in der Regel bewaffnet. Sind sie damit noch Zivilisten? Ist das noch legitimer palästinensischer Widerstand?

Kürzlich gedachte Israel des Anschlags auf das King-David-Hotel in Jerusalem vor 60 Jahren. Damals starben unter anderen 28 Briten, 41 Araber und 17 Juden. Der israelische Historiker Tom Segev bemerkt, dass Gedenktafeln am Hotel nur von "Untergrundgruppe", "Rebellenbewegung" und "Kämpfern" sprechen. Das Wort Terror taucht ebensowenig auf wie eine Verurteilung des Anschlags, für den der spätere israelische Friedensnobelpreisträger Menachem Begin federführend war. Dieser habe zeitlebens "alle Anstrengungen unternommen, um die Historiker zu überzeugen, dass er kein Terrorist war", erklärt Segev.

Wo endet Freiheitskampf, wo beginnt Terrorismus? Seit dem Anschlag auf das Hotel habe Israel etwa zwei Millionen Zivilisten Schaden zugefügt, Hunderttausende vertrieben und erst jüngst wieder Hunderte getötet, sagt Segev. Für ihn spiegelt das israelische Vorgehen "die Gesinnung des King-David-Hotel-Anschlags". Die israelische Politik - für Rechtsanwalt Raji Sourani orientiert sie sich am "Gesetz des Dschungels". Der Autor arbeitet als freier Journalist in Jerusalem.


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