Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006

"Wir sind alle Opfer desselben Regimes"

Interview mit einer israelischen Mutter, die ihre Tochter durch einen palästinensischen Selbstmordanschlag verloren hat
Die 13-jährige Smadar Peled-Elhanan war am 4. September 1997 in der Fußgängerzone Ben-Yehuda in West-Jerusalem, um ein Geschenk zu kaufen. Dabei riss sie ein palästinensischer Selbstmordattentäter in den Tod. Schon auf den ersten Fernsehbildern glaubte ihre Mutter, ihre tote Tochter zu erkennen. Einige Stunden später wurde der Alptraum grausame Gewissheit. Bei der Beisetzung von Smadar war auch ein hochrangiger Politiker der palästinensischen Autonomiebehörde anwesend. Mit Smadars Mutter Nurit Peled-Elhanan, Universitätsdozentin, Friedensaktivistin und Sacharow-Preisträgerin sprach Johannes Zang in Jerusalems Vorort Moza.

Das Parlament        Welche Art von Hilfe haben Sie nach dem Verlust Ihrer Tochter erfahren?

Peled-Elhanan         Israel kümmert sich sehr gut um seine Toten. Man bekommt viel Geld. Es dreht sich im Grunde nur darum. Man ist steuerfrei und muss nichts mehr für zahnärztliche Behandlung bezahlen. In Israel existiert ein System, das dich wirklich in die Arme schließt. Und das Blut und Tod zelebriert. Ich glaube, es gibt kein anderes Land, das totes Fleisch so idealisiert wie Israel das tut.

Das Parlament        War Ihnen bewusst, dass es solch ein Hilfssystem gibt?

Peled-Elhanan         Natürlich. Gerade im Falle von Soldaten. Passiert so etwas einem Soldaten, hat seine Familie für den Rest des Lebens ausgesorgt.

Das Parlament        Wie funktioniert dieses Betreuungssystem?

Peled-Elhanan         Dazu gehören Psychologen, Sozialarbeiter und Ärzte. Ich nehme es nicht in Anspruch.

Das Parlament        Hat sich durch den Tod von Smadar Ihre Haltung zum palästinensisch-israelischen Konflikt geändert?

Peled-Elhanan         Nein. Mein Vater Matti Peled war einer der ersten Soldaten, die für Frieden waren. 1956 war er Gouverneur in Gaza und erkannte, dass die Menschen dort gegen eine Rückgabe des Gaza-Streifens an Ägypten waren. Deshalb wollte er ihnen Autonomiestatus geben - und sie eine Brücke zum Frieden sein lassen. Aber niemand stimmte dem zu. Später war er General im Sechs-Tage-Krieg. Die Armee drang immer weiter vor und keiner wusste, was man tun sollte. Mein Vater hatte vor, bis zu allen arabischen Hauptstädten vorzustoßen, einen Friedensvertrag zu schließen und abzuziehen. Natürlich hat das niemand akzeptiert. Später verließ er die Armee und war der Erste, der sich mit Arafat traf. Er war auch der Erste, der eine arabisch-jüdische Partei gründete.

Das Parlament        Woher nehmen Sie die Stärke, diesen friedlichen Weg weiterzugehen?

Peled-Elhanan         Ich habe Kinder. Ihnen musst du deinen Standpunkt zeigen. Denn ich will, dass sie wissen - und sie tun es - , dass es einen Lebensstil gibt, der sich vom Mob unterscheidet. Meine Kinder sind auch sehr engagiert, mein Sohn hat die "Combatants for peace" - das sind ehemalige israelische und palästinensische Kämpfer - mitgegründet.

Das Parlament        Man würde denken, dass jemand, der seine Tochter durch palästinensischen Terror verloren hat, eher eine harte Gangart vertritt. Gehören Sie als Hinterbliebene, die sich für den Frieden einsetzt, zu einer Minderheit?

Peled-Elhanan         Wir sind eine aussterbende Art. Die israelische Regierung aber benutzt Angehörige von Terroropfern auf zynische Weise und hetzt sie auf. Der Ärger sollte sich an die richten, denen man eigentlich die Schuld geben muss.

Das Parlament        Wen meinen Sie damit?

Peled-Elhanan         Das Regime der Besatzung und Unterdrückung. Die Palästinenser haben überhaupt keine Tradition des Selbstmordes. Derjenige, der sie dazu gebracht hat, ist der wirklich Schuldige. Was kann man schon über diese Jungen und Mädchen sagen, deren Gehirn verseucht ist und die sich zusammen mit dem Feind umbringen wie Samson in der Bibel? Sie sind Opfer und wir alle sind Opfer desselben Besatzungs- und Unterdrückungsregimes.

Das Parlament        Sie machen also die israelische Besatzung für den palästinensischen Terror verantwortlich.

Peled-Elhanan         Die Selbstmordanschläge kommen der israelischen Regierung sehr gelegen. Deshalb erleichtert sie die Anschläge.

Das Parlament        Wie bitte?       

Peled-Elhanan         Alle diese Kontrollpunkte und Tore sind ein Witz. Man lässt die Attentäter herein und lässt sie das ausführen, was sie tun müssen. Es passiert immer dann, wenn es der Regierung passt.

Das Parlament        Die Art, wie Sie die israelische Regierungspolitik beschreiben, klingt sehr nach Selbstzerstörung.

Peled-Elhanan         Ja, es ist Selbstzerstörung - und Gedankenlosigkeit. Als mein Vater in der Armee war, wurde er ärgerlich, weil es nie Pläne gab. Er pflegte zu sagen, dass sie den Verstand von Pfadfindern hätten. Es ist eine Mafia-Logik. Man brennt die Stadt nieder, um zu kriegen, was man will. Weiter denkt man nicht. Man benutzt Menschen für die eigenen Zwecke - das ist wie bei Ceaucescu, Saddam Hussein, Arik Sharon. Scharon hat nie Menschen gesehen, sondern nur die Ziele, die er erreichen wollte. Er war ein Verbrecher durch und durch. Der ganze Gaza-Abzug sollte die polizeilichen Ermittlungen gegen ihn und seine Söhne vertuschen.

Das Parlament        Gefährdet diese Politik nicht auch die Demokratie?

Peled-Elhanan         Israel behauptet immer "Wir sind die einzige Demokratie im Nahen Osten". Es ist keine Demokratie. Es gibt furchtbaren Rassismus nicht nur gegen Araber, auch gegen arabische Juden. In einer solchen Situation hat man leichtes Spiel mit Menschen, die einfach nur über die Runden kommen wollen und ihre Rechte nicht kennen. Es ist leicht, die Neueinwanderer aus Russland und Äthiopien, die keine Ahnung haben, was Demokratie ist, einer Gehirnwäsche zu unterziehen.

Das Parlament        Was denkt die israelische Bevölkerung dazu?

Peled-Elhanan         In Israel sind die Menschen sehr gehirngewaschen. Kinder erhalten eine sehr rassistische Erziehung. Sie wissen nichts über ihre Nachbarn, außer dass sie Terroristen sind, eine Bedrohung und ein demografisches Problem. Und dann gehen sie zur Armee und werden zu Ungeheuern. Die Infizierung des Verstandes ist systematisch im israelischen Erziehungswesen. In allen israelischen Schulbüchern wirst du nicht ein einziges Foto eines Palästinensers finden - nur rassistische Bilder und Karikaturen, wie etwa primitive Bauern.

Das Parlament        Wo sehen Sie Hoffnung auf einen Wandel in der israelischen Politik?

Peled-Elhanan         Vielleicht werden die Menschen erst an dem Tag, wo sie völlig am Boden liegen, erkennen, dass sie an Alternativen denken müssen. Ich mache mir keine Illusionen, dass irgendetwas, was ich sage oder tue, die Hohen und Mächtigen beeinflussen wird. Als wir damals im Parlament zusammen waren, sagte Professor Al-Ghazzawi, dass es die Rolle von Intellektuellen und Schriftstellern sei, einen Mythos der Hoffnung zu schaffen für die, die keine Hoffnung hätten. Diese Rolle habe ich vielleicht auch übernommen. Die Palästinenser haben das Gefühl, niemand kümmert sich um sie. Wenn sie hören, dass es doch einer tut, dann füllt sie das mit neuer Hoffnung.

Das Parlament        Welche Botschaft haben Sie für die Menschen in Deutschland?

Peled-Elhanan         Die Deutschen sollten sich mehr als andere daran erinnern, dass vor 60 Jahren Menschen nichts unternahmen, als die ganze Familie meines Schwiegervaters in Auschwitz vernichtet wurde. Heutzutage wiederholt sich dasselbe Verhalten. Die ganze aufgeklärte Welt steht abseits, während Israel eine ganze Nation auslöscht. Und niemand tut etwas. Kein europäisches Parlament, kein Vatikan, keine Regierungen. Die Tatsache, dass sich das wiederholt, ist grauenhaft. Denn es zeigt, dass niemand irgendetwas gelernt hat.

Das Parlament        Sie plädieren für Einmischung.

Peled-Elhanan         Menschen hier kümmert es nicht, was 50 Meter von ihrem Haus entfernt geschieht. Sie denken nur an ihr eigenes Leben. Und dabei sind sie sehr nett, ehrlich und anständig. Aber das ist heutzutage nicht genug. Mein Bruder hatte eine wunderbare Idee: ein Marsch mit einer Million Menschen in Palästina und Israel, um den Menschen zu zeigen, dass wir uns sorgen. Wenn man diese kleinen Körper sieht, dann muss man doch etwas tun. Danach kann man nicht in ein Konzert gehen. Darum geht es beim Sich-Einmischen. Das ist meine Botschaft.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.