Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Alfred Hackensberger

Die "Partei Gottes" und die Würde der Araber

Libanon nach dem Krieg: Die Hisbollah hat noch mehr Anhänger als zuvor

Kurz nach Beginn des Waffenstillstands am 14. August um acht Uhr morgens rollten die Bulldozer der Hisbollah in das verwüstete Südbeirut. Mitglieder der Zivilabteilung der Miliz registrierten die obdachlosen Familien der 182 zerstörten und 192 beschädigten Wohnhäuser. 8.000 Dollar wurden für ein Appartement als Soforthilfe ausbezahlt, Hausbesitzer bekamen 12.000 Dollar. Gleichzeitig fuhren Hisbollah-Bautrupps durchs Land. Sie nahmen Schäden auf und reparierten sie, wenn möglich, kostenlos. Möglichst schnell soll Südbeirut wieder aufgebaut sein.

Kein Wunder, dass die Zahl der Befürworter der "Partei Gottes" gestiegen ist. Sie leistete das, was Regierungen gewöhnlich im Katastrophenfall versprechen, aber selten einhalten: schnelle und unkomplizierte Hilfe. Nach neuesten Umfragen sollen 96 Prozent der etwa 1,4 Millionen Schiiten, die etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, Hisbollah unterstützen. Eine Steigerung um 10 Prozent im Vergleich zu Kriegszeiten. "Hisbollah ist stark wie nie zuvor", sagt Saad-Ghorayeb, Professorin an der libanesisch-amerikanischen Universität in Beirut und Autorin des Buches "Hisbollah - Politik und Religion". "Sie werden den Libanon wieder aufbauen, ihre Waffen behalten und weiter kämpfen."

In den USA und Israel, aber auch in vielen europä-ischen Ländern gilt die Hilfsaktion der Hisbollah als "Bauernfängerei", mit der sich eine terroristische Gruppe Unterstützung erkauft. In den USA und Israel steht die Hisbollah auf der Liste verbotener Terrororganisationen. Der Rat der Europäischen Union führt sie nicht in seiner neuesten Terrorliste von Ende Mai 2006. Das EU-Parlament sprach in einer Entschließung vom März 2005 aber von "terroristischen Aktivitäten seitens der Hisbollah". Eine Einstufung, die den meisten Menschen im Libanon und der arabischen Welt fremd ist. Für sie ist die "Partei Gottes" eine legitime Widerstandsbewegung gegen den Aggressor Israel, der den Libanon nach 1978 und 1982 zum dritten Mal überfiel.

Ganz offiziell ist der "bewaffnete Widerstand" der Hisbollah durch die libanesische Regierung legitimiert. In einer Erklärung vom Juli 2005 bestätigte sie das "Recht, die Befreiung libanesischen Staatsgebietes" fortzuführen. Gemeint sind damit die Shebaa-Farmen, ein 25 Quadratkilometer großes Gebiet in der Nähe der Golan-Höhen, das Israel seit 1967 besetzt hält. Damals waren die arabischen Armeen im legendären "Sechs-Tage-Krieg" besiegt worden - bis heute eine Schmach für die arabische Welt.

30 Jahre danach hat die Hisbollah in einer direkten Auseinandersetzung zum ersten Mal der israelischen Supermacht Paroli geboten - Balsam für die arabische Seele. Hassan Nasrallah, der Hisbollah-Generalsekretär, wird als neuer "Abdel Nasser" gefeiert. Wie der ehemalige ägyptische Präsident habe auch Hassan Nasrallah den Arabern "ein Stück ihrer Würde zurückgegeben", erklärt der libanesische Journalist Hassan Daoud. Er arbeitet für die Tageszeitung Zeitung "Al Mustaqba" und hat unter normalen Umständen wenig Sympathie für die Hisbollah. "Es ist ein historischer Sieg, der sogar Sunniten und Schiiten vereint". Während des Kriegs demonstrierten in vornehmlich sunnitischen Ländern wie Ägypten, Algerien, Marokko oder auch Pakistan Tausende für Hisbollah. "Selbst Frauen ohne Schleier und Kopftuch", erzählt Hassan Douad, "trugen Poster von Nasrallah durch die Straßen."

Derartige populäre Sentiments zählen für die Regierungen der USA und Europa wenig. Für sie ist und bleibt die Hisbollah eine Terrorgruppe, die man für die Anschläge auf amerikanische Soldaten 1982 und die US-Botschaft 1984 in Beirut verantwortlich macht, zudem für einige Entführungen während des libanesischen Bürgerkriegs, sowie Bombenattentate auf israelische Einrichtungen in Argentinien 1990 und 1994. "Tatsächlich gibt es jedoch dafür keinen einzigen, stichhaltigen Beweis", sagt Amal Saad Ghorayeb, die Hisbollah-Spezialistin der libanesisch-amerikanischen Universität in Beirut. Ganz vergessen werde auch der Wandlungsprozess der Hisbollah in den letzten 15 Jahren, "der sie zur größten Volksbewegung des Libanon machte".

1982 wurde die Hisbollah als Reaktion auf die israelische Invasion gegründet und wollte die Errichtung eines islamischen Staates nach Vorbild des Irans. Nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990 wurde dieses Ziel ersatzlos aus der Agenda gestrichen. Fortan beteiligte man sich als normale politische Partei am demokratischen System des Libanon. Heute hat der "Block des Widerstands" 14 Sitze im Parlament und zwei Minister im Kabinett von Premierminister Fuad Siniora. Wichtigste Stütze der Hisbollah ist ein umfassendes soziales Netzwerk aus zahlreichen Schulen, Krankenhäusern, Frauenkomitees, Waisenhäusern und Behinderteneinrichtungen. Ohne die Hisbollah würde das Sozialsystem des Libanons zusammenbrechen. Gerade für die schiitische Bevölkerung ist das Netzwerk eine existentielle Notwenigkeit. "Schiiten wurden lange Jahre vom Staat vernachlässigt", sagt die libanesische Autorin und Journalisten Iman Huamian Junis. "Sie gehörten zur untersten sozialen Schicht." Die Hisbollah habe ihnen ihre Würde wieder gegeben.

Die Einrichtungen der "Partei Gottes" für die 1,4 Millionen Schiiten des Landes verschlingen Millionen. Kritiker gehen davon aus, dass das gesamte Geld dafür aus dem Iran kommt, der für die Verbreitung der "islamischen Revolution" bereit sei, jeden Preis zu bezahlen. Manche schätzen die iranische Finanzhilfe jährlich auf 200 Millionen Dollar, andere auf 500 Millionen. Allein für den Wiederaufbau des Libanons soll der iranische Präsident, Mahmoud Ahmadinedschad, 1,3 Milliarden Dollar der Hisbollah zur Verfügung gestellt haben. Wie hoch die Zuwendungen aus dem Iran tatsächlich sind, kann niemand genau sagen. Alle Zahlen beruhen mehr oder weniger auf Spekulationen. Sicher ist: Seit dem Waffenstillstand hat die Hisbollah 130 Millionen Dollar an Kriegsgeschädigte ausbezahlt. Auf die Vorwürfe ihrer Kritiker verweist sie auf Sponsoren aus den Golfstaaten, die in der Notsituation ihre regelmäßigen Spenden aufgestockt hätten.

Spendenabgaben sind in der islamischen Welt tatsächlich etwas Alltägliches und gehören für gläubige Moslems zu den religiösen Pflichten. Die Hisbollah erhält aus der ganzen Welt prozentuale Abgaben von den Einkommen ihrer Befürworter. Die überwiegende Mehrheit aller Libanesen lebt in Südamerika, Kanada oder auch Australien. Die schiitische Organisation investierte auch in Industrie, Immobilien und Handel weltweit. Heute ist Hisbollah nicht nur Miliz und politische Partei, sondern auch ein internationales Wirtschaftsunternehmen. "Die ökonomische Seite", sagt Amal Saad Ghorayeb, "ist eines der bestgehütesten Geheimnisse der Gruppe, in das nur oberste Funktionäre Einblick haben."

Für die USA sind die internationalen Verflechtungen ein weiterer Beweis für die "teuflischen Machenschaften" der libanesischen Organisation. Die militärische wie finanzielle Hilfe aus dem Iran macht Hisbollah zum Teil der "Achse des Bösen". "Die Befehle kommen aus dem Iran und Syrien", sagt auch Ehud Olmert, der israelische Ministerpräsident. Hisbollah ein willenloser Satellit und Befehlsempfänger des Irans und Syriens? "Man kann sich das eher als grundsätzliche, informelle Absprachen vorstellen", erläutert Uni-Professorin Saad-Ghorayeb. "Die Hisbollah agiert eigenständig, entsprechend nach nationalen Gegebenheiten. Sie ist in erster Linie eine libanesische Volksbewegung, kein blindes Instrument des Irans oder Syriens." Waffenlieferungen kämen natürlich aus dem Iran und Syrien, den verbündeten Ländern. "In den Waffenlager der Hisbollah", versichert Saad-Ghorayeb, "findet sich alles, was man im Iran zerlegen und in den Libanon transportieren kann." Die "Partei Gottes" kauft allerdings auch auf dem schwarzen Markt, wie Funde der israelischen Armee gezeigt haben. Gegen israelische Panzer wurden Raketen russischer Bauart eingesetzt, Hisbollah-Kämpfer trugen Nachtsichtgeräte der britischen Armee.

Ideologisch gesehen, steht Hisbollah dem Iran näher als Syrien. Die schiitische Religion ist das tragende Element. Seit Ayatollah Khomeini und der iranischen Revolution von 1979 verpflichtet der Glauben zum "Widerstand". Im Gegensatz zu sunnitischen Terrorgruppen, wie Al-Qaida beispielsweise, sind "Ungläubige" kein Angriffsziel. Der Kampf gilt jeder Form von Unterdrückung, ungeachtet der Religionszugehörigkeit. In Teheran wurde eine Straße nach dem IRA-Aktivisten Bobby Sands benannt, Nelson Mandela wird als Held im Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika betrachtet.

In diese Reihe von Freiheitsbewegungen ordnet sich die Hisbollah und ihren "Widerstand" gegen Israel ein - zuerst für einen freien Libanon, danach für ein freies Palästina. Eine Entwaffnung käme einer Aufgabe des Widerstands und ihrer religiösen Pflicht gleich. "Der bewaffnete Widerstand ist eine rote Linie", sagte Mahmud Qomati vom Politbüro der Hisbollah. "Unsere Waffen aufzugeben, steht außer Frage." Daran würde sich auch nichts ändern, wenn die besetzten Shebaa-Farmen befreit werden sollte. Gerade nach dem "historischen Sieg" gibt man sich bei der Hisbollah nicht mehr mit Kleinigkeiten zufrieden: "Mit einem kompletten Abzug der Israelis ist es nicht getan", erklärte vor wenige Tagen Mohammed Fneish, der Energieminister im Kabinett von Premierminister Fuad Siniora. "Wir brauchen ein gerechtes und umfassendes, regionales Abkommen." Mit anderen Worten: Nur die Lösung des Palästina-Problems bringt Frieden in den Libanon und die gesamte Region.

Der Autor lebt als freier Journalist in Marokko und schreibt unter anderem für die "Neue Zürcher Zeitung" und den "Tagesspiegel".


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