Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Georg Seeßlen

Bildersprache der Gewalt

Die "Irakisierung" des Films
Als am 11. September 2001 die Bilder der brennenden und dann zusammenbrechenden Twin Towers in einer Endlos-Schleife in den Fernsehapparaten in aller Welt zu sehen waren, und man dieses Motiv zu einer "Ikone" des beginnenden 21. Jahrhunderts erklärte, montiert zu Aufnahmen fliehender, entsetzter Menschen, da erschien vielen Menschen - jenen, die es erlebten ebenso wie jenen, die nur das Medien-Echo erreichte - das Erlebnis der Terror-Katastrophe "wie im Kino".

Tatsächlich waren verblüffende Ähnlichkeiten mit den so genannten Katastrophenbildern unübersehbar, die in Hollywood seit 30 Jahren mit wechselndem Erfolg gedreht wurden: Das Bild des brennenden Hochhauses kannte man aus Filmen wie "Flammendes Inferno"; dass Passagierflugzeuge von wild entschlossenen Terroristen entführt werden, sah man in Filmen wie "Delta Force" und dass gewalttätige Verschwörer die Weichteile einer großen Stadt zu bedrohen wissen, war man in "Schwarzer September" dargestellt. Was im September 2001 geschah, erschien wie eine Montage all dieser Filme. Der amerikanische Regisseur Robert Altman meinte bitter, Hollywood hätte es den Terroristen vorgemacht, wie man eine Weltmacht attackiert.

Der "Katastrophenfilm" als Genre entwickelte sich in Hollywood in den 70er-Jahren zu einer Zeit, in der allgemein Krisenstimmung herrschte. Wirtschaftskrisen beschrieben die Grenzen von Wachstum und Sicherheit, die USA mussten die Folgen des Krieges in Vietnam und die Spaltung der Nation verarbeiten. Die "Formel" des Katastrophenfilms ist einfach: Die Kino-Technologie wird in den Dienst der möglichst glaubwürdigen Darstellung eines Desasters gestellt: Erdbeben, Schiffsuntergänge, Flugzeugentführungen, Haie am Badestrand. Das Empfinden der Verletzlichkeit des eigenen Systems führte dazu, dass in der populären Kultur für jeden erdenklichen Unfall eine Phantasie parat gestellt wurde. Gleichgültig, welche Katastrophe eine hoch entwickelte Gesellschaft heimsucht, sie hat immer schon in ihrer populären Kultur stattgefunden. Die mediale Katastrophenphantasie ist ein Bestandteil des Angst-Managements in der Mediengesellschaft.

Von "Top-Terroristen", internationalen Verschwörungen und fremden Agenten träumt das Kino seit dem Beginn des Kalten Krieges. Da ist, wie in den James-Bond-Filmen, der Gegner noch ein rationaler Verschwörer, der es auf Macht und vor allem Geld abgesehen hat. Auch in den populären "Die Hard"-Filmen mit Bruce Willis pflegt sich immer wieder herauszustellen, dass ideologische und politische Motive vorgeschoben sind und es den Terroristen am Ende nur um Geld geht. Der heutige Selbstmordattentäter hat stattdessen mit zwei anderen Kino-Gestalten Ähnlichkeit: dem Amokläufer und dem Söldner. Den Amokläufer stellen wir uns in der populären Kultur ähnlich vor wie den Terroristen, nämlich mit der Waffe am Körper, in einem "heiligen" Anfall, ohne Hierarchie in der Wahl der Opfer und rauschhaft auf das eigene Ende zugehend. Der Söldner führt seine privaten Kriege, jenseits der Staaten und der Sys-teme.

Wir haben im eigenen Land eine eigene Fährte: Die Terroristen der RAF beschrieben in merkwürdiger Übereinstimmung, dass sie das Leben im Untergrund empfanden, als seien sie selbst Kino-Helden. Filme spielten eine wichtige Rolle in ihrer Vorstellungswelt - jene Filme, die einem nihilistischem Kult der Gewalt huldigten, vor allem Italo-Western oder Filme wie "Bonnie & Clyde". Diese innige Beziehung von Terrorismus und kinematografischer (Selbst-) Erfahrung scheint das Bild zu bestätigen, das Jan Philip Reemtsma von den Selbstmordattentätern entworfen hat. Ideologische und religiöse "Verblendung" ist darin eher rationalisierende Begleitung, für den Täter dagegen scheint der ästhetische Rausch der Gewalttat bedeutsam.

Die Kino-Branche reagierte rasch auf die Anschläge vom 11. September - zunächst in der Form einer Selbstzensur. Einige Projekte, die allzu direkte Erinnerungen an den Anschlag evoziert hätten, wurden auf Eis gelegt. Bei anderen Filmen, etwa der Comic-Verfilmung "Spiderman", wurden Bilder getilgt, in denen die Twin Towers zu sehen waren. In einer zweiten Phase versuchten sich Politik und Showbusiness auf gemeinsame Strategien zu einigen. Filme wie "Colateral Damage" wurden ins Programm genommen, in dem südamerikanische Terroristen mit ihren Bomben bis in die Zentren der Macht in den USA gelangen, weil sie sich der Mithilfe einer US-Bürgerin und ihres Kindes versichert haben. Filme wie dieser "erklären" einen unbändigen Zorn der Protagonisten auf einen Terrorismus, eine Notwendigkeit, "irgend etwas" zu tun.

Die Allianz von Pentagon und Filmindustrie löste sich wieder auf, da das Publikum in den USA nur bedingt, das Publikum auf dem Weltmarkt aber ganz und gar nicht gewillt war, die Trauer über die Opfer in bedingungslosen Patriotismus aufzulösen. Ein Film wie Michael Moores "Fahrenheit 911", der die Politik der amerikanischen Regierung mit drastischen Mitteln kritisierte, übertrumpfte an den Kassen die "propagandistischen" Werke. Auf kritische Filme zum Krieg wie "Jarhead" folgten cineastische Stimmungsbilder, die die Auswirkungen von Terror und Krieg auf die eigene Gesellschaft reflektieren - ein Kino der Verunsicherung, auf der Suche nach Versöhnung.

In den 70er-Jahren sprach die amerikanische Filmkritikerin Pauline Kael von einer "Vietnamisierung" der Kino-Ästhetik. Während die Filme, so ihre These, den Krieg (noch) nicht direkt thematisieren konnten, schlug sich die Erfahrung nicht nur in einer neuen Behandlung der Gewalt nieder, sondern auch gleichsam ganz buchstäblich. Entsprechend ließe sich auch von einer "Irakisierung" des amerikanischen Kinos sprechen. Wie in den Jahren des Vietnamkrieges erlebt ein Genre seine Renaissance, das man als "Terror Movie" bezeichnen könnte: Es zeigt nicht nur extreme Handlungen von Folterungen, Zerstückelung und Mord, es übt auch auf den Zuschauer einen terroristischen Druck aus. So wie man "The Texas Chainsaw Massacre" eher überstehen als genießen konnte, aber dennoch ganz deutlich eine Gesellschaft in Auflösung wahrnahm, wirken heute Filme wie "Hostel" mit ihren detaillierten Folterszenen als direkter Reflex auf die echten Folterbilder von Abu Graib und auf die Opferbilder von Bomben-Attentaten. Die neuen Horrorfilme inszenieren Folter und Mord aus einer extrem subjektiven Perspektive. Es ist, als sei man "dabei" - als Täter und als Opfer. Eine solche Subjektivierung der Katastrophe von Terror und Gegenterror mag einer konservativen Kritik als obszöne Verbindung von Gewalt und Entertainment erscheinen - es ist aber auch ein möglicherweise untauglicher Versuch, das Unfassbare des Terrors zu begreifen. Neben den harten Terrorfilmen sind auch Thriller wie "The Bourne Identity" als Post-9/11-Fantasmen zu verstehen. Es geht darin um ein Klima der allgemeinen Verunsicherung und des Misstrauens: Die Subjekte eines unterirdischen Kriegsgeschehens sind nicht mehr zu identifizieren; die Helden drohen ihre eigene Identität zu verlieren. Am eindringlichsten vielleicht zeigt der Erfolg der Echtzeit-Serie "24" diese Stimmung: Darin ist ein Agent im Einsatz gegen Terroristen, der selber vor Folter, Mord und Erpressung nicht zurückschreckt, um sich und sein Land zu retten, obwohl er zunehmend zweifelt, ob sich das überhaupt lohnt.

Auch zu diesen Terror-Bildern gibt es eine Gegenbewegung: Fünf Jahre nach dem Anschlag erinnert eine Reihe von Filmen an die Opfer. Das beginnt mit Paul Greengrass' Dokumentation von "Flug 93", wo der Passagiere des vierten entführten Flugzeugs gedacht wird. Und es findet seinen ersten Höhepunkt in Oliver Stones "World Trade Center", der sich auf die menschliche Dimension in der Geschichte zweier verschütteter Polizisten und ihrer Familien konzentriert. Es ist auf den ersten Blick ein "unpolitischer" Film zum Terror - aber vielleicht ist diese Wendung zum Menschen hin eine Form, auch in Filmbildern der Spirale von Terror und Gegen-Terror eine zivile Perspektive entgegenzusetzen und nicht nur zu hassen, sondern auch zu trauern.

Der Zusammenhang zwischen Kino und Terrorismus ist bei näherem Hinsehen nicht so magisch oder unheimlich, wie es den Anschein hat. Das Kino produziert so wenig den Terrorismus, wie der Terrorismus die Welt als Kino missversteht. Beider Beziehungen sind komplexer als "Vorahnung" auf der einen und "Erinnerung" auf der anderen Seite: Die kinematografische Wahrnehmung bietet das Material für eine negative Sprache, eine Sprache der Gewalt. Auch in dieser Sprache muss man lernen, dem Terror zu begegnen - und ihn nicht zu bewahren, zu verstärken oder zurückzugeben.

Der Autor ist Filmkritiker und arbeitet unter anderem für "Die Zeit" und die "Frankfurter Rundschau".


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