Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 36 / 04.09.2006
Olaf Farschid

Feindbild: Ungläubige

Was steckt hinter dem Dschihad?

Der Dschihadismus ist eine Unterform der neuzeitlichen Ideologie des Islamismus - mit einem hohen Gefährdungspotenzial. Seine Akteure werden heute als Dschihadisten bezeichnet, während früher der Begriff Mudschaheddin (Kämpfer) genutzt wurde. Zusammen mit den regional Gewalt ausübenden Gruppen ist diese auf exzessive Gewaltanwendung hin orientierte Minderheit unter den Islamisten für den Großteil der Gewaltakte der letzten Jahre verantwortlich. Während die so genannnten "gebundenen" Kämpfer organisatorisch an die Al-Qaida gebunden sind, werden die "ungebundenen" vor allem ideologisch von ihr beeinflusst.

Die Ursprünge des Dschihadismus lassen sich auf Sayyid Qutb zurückführen, den 1966 hingerichteten Theoretiker des militanten Flügels der ägyptischen Muslimbruderschaft. Dieser hatte vor allem die Methode der Exkommunizierung (takfir) sowie den unter dem Motto des Dschihad geführten militärischen Kampf betont. Sich heutzutage an Qutb zu orientieren bedeutet, Menschen und Gesellschaft für "heidnisch unwissend" zu erklären und diese per Exkommunikation außerhalb der Gemeinschaft der Muslime zu stellen sowie politische Systeme und Staatsführer als vermeintlich unislamisch zu verketzern und mittels Dschihad gewaltsam zu bekämpfen.

Die Agenda der Dschihadisten ist teilweise internationalistisch und betont anti-westlich. Gewaltakte und Rhetorik zielen hierbei insbesondere gegen die USA und Israel. Zur internationalistischen Ideologie von Al-Qaida gehört der Glaube an eine unausweichliche Konfrontation mit dem Westen. Zudem instrumentalisiert Al-Qaida die auch unter Nichtextremisten verbreitete Unzufriedenheit mit den autokratischen Herrschaftsformen der Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Thematisiert werden auch ungelöste politische Regionalkonflikte - etwa der israelisch-palästinensische Konflikt, der Kaschmir- oder der Tschetschenienkonflikt. Für ihre Propaganda nutzt die Al-Qaida auch die Anwesenheit alliierter Truppen im Irak, die von vielen Menschen weiterhin als eine unerwünschte Besatzung betrachtet wird.

Dieses Konglomerat aus Ideologie und politischer Kritik bildet den Kern einer professionell betriebenen Medienoffensive, in deren Zentrum die Audio-, Video- und Internetverlautbarungen von Osama Bin Laden, Aiman Al-Zawahiri und Abu Musab Al-Zarqawi stehen. Die Botschaften werden häufig an kommerzielle pan-arabische Fernsehsender wie "Al-Jazeera" und "Al-Arabiya" gesandt, die diese in ihren Nachrichtensendungen verbreiten. Die Botschaften, von denen Al-Qaida jährlich mehrere Dutzend verschickt, sollen die mediale Wirkung von Terroranschlägen stärken, Anhänger mobilisieren und neue Attentäter rekrutieren. Darüber hinaus sollen sie neue Anschläge androhen und dienen der Binnenkommunikation im Umfeld der Netzwerke.

Zu den wichtigsten ideologischen Bestandteilen der Botschaften gehören - neben der Forderung nach "wahrhaft islamischer Herrschaft" und der Vertreibung ausländischer Truppen aus der Region - vor allem die Exkommunizierung von als "nicht Islam-konform" verketzerten Muslimen und die Stigmatisierung von Nicht-Muslimen als "Ungläubige". Um die Gewaltanwendung gegen beide zu rechtfertigen, berufen sich die Akteure vor allem auf den Dschihad als vorgeblich legitime Form des Kampfes. Die Terroristen deklarieren den Dschihad selbst im Fall eigener Angriffe als Verteidigung, erheben ihn zu einer vermeintlich individuellen Pflicht eines jeden Muslims und rechtfertigen so Anschläge und Massenmord. In den Botschaften wird mit teils drastischen Feindbildern agitiert. Diese betreffen nicht allein Juden - deren Staat vernichtet werden soll - und Christen, sondern auch jene Mehrzahl der Muslime, die den politischen Vorstellungen der Militanten und der geforderten Linientreue entgegenstehen. Im Irak betreffen die Gewaltaufrufe aus dem Umfeld von Al-Qaida vor allem die Kurden sowie die Schiiten, die von Dschihadisten als Häretiker betrachtet werden.

Durchgängiges Element der Al-Qaida-Botschaften sind gezielte, wenn auch häufig wenig konkrete Anschlagsdrohungen, die sich vor allem gegen die USA, Israel sowie gegen jene Staaten richten, die im Irak oder in Afghanistan Truppen unterhalten. Darüber hinaus werden fast alle politischen Führer in den muslimischen Ländern (in den arabischen Staaten, in Pakistan und in Afghanistan) für exkommuniziert erklärt und "die Muslime" zum Sturz ihrer Regierungen aufgerufen. Ferner wird an "alle Muslime" appelliert, im Namen des Dschihads einen weltweiten Kampf gegen so genannte "Kreuzzügler", also westliche Ziele, zu führen.

Die zahllosen Anschlagserien im Irak sowie die Anschläge in Saudi-Arabien, Jordanien und anderen Ländern machen deutlich, welche Wirkung die dschihadistische Ideologie entfalten kann. Der 2004 verhinderte Giftgasanschlag auf die Zentrale des jordanischen Nachrichtendienstes GID zeigt, dass insbesondere das Zarqawi-Netzwerk seine Operationen nicht auf den Irak begrenzt, sondern gezielt auch in Nachbarländern agiert. Dies belegen die im August 2005 aufgedeckten Pläne für Anschläge auf israelische Kreuzfahrtschiffe an der türkischen Südküste und der fehlgeschlagene Raketenangriff auf ein US-Kriegsschiff vor Aqaba sowie die Selbstmordanschläge auf drei Hotels in Amman im November 2005. In Europa genügte den Attentätern offenbar bereits eine ideologisch-politische Beeinflussung durch Al-Qaida, um die Anschläge zu planen, zu organisieren und durchzuführen. So markieren die Anschläge von Madrid die ersten großen islamistisch motivierten Anschläge in Europa, die Anschläge von London die ersten hier verübten Selbstmordanschläge. Dise Anschläge von Madrid und London machen deutlich, dass es nicht grenzüberschreitender Strukturen des Terrornetzwerkes Al-Qaida bedarf, um in Europa terroristisch aktiv zu werden. Vielmehr sind auch autonom operierende und semiprofessionelle Gruppen zu koordinierten und verheerenden Anschlägen in der Lage.

Die Tatsache, dass neben der Al-Qaida-Ideologie und Entwicklungen der internationalen Politik auch die Lebenssituation von Attentätern und ihre subjektives Lebensgefühl in der europäischen Gesellschaft aktionsauslösend sein können, erschwert die Bekämpfung des islamistisch motivierten Terrorismus durch Polizei und Nachrichtendienste erheblich.

Der Autor ist wissenschaftlicher Referent beim Berliner Innensenat.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.