Die Arbeitsmarktpolitik ist weiter eine Achillesferse
Zu Recht hat sich die Slowakei seit dem vergangenen Jahr auch international den Ruf einer sehr produktiven Reformwerkstatt erworben. Gerade die westlichen Medien übertrafen sich gegenseitig in ihren Lobeshymnen über das kleine Land zwischen Donau und Karpaten, auch wenn sie zuvor nur selten realisiert hatten, dass die Slowakei unabhängig von der Tschechischen Republik ist und die Hauptstadt des Landes nicht Prag, sondern Bratislava heißt. Kein anderes Beitrittsland der Europäischen Union hat in den letzten zwölf Monaten so radikal und konsequent Strukturreformen in Wirtschaft und Gesellschaft angepackt wie die Slowakei. Und dies, obwohl die bürgerlich-liberale Regierung unter Premier Mikulas Dzurinda inzwischen ihre Mehrheit im Parlament verloren hat und als Minderheitsregierung ständig am politischen Abgrund steht. Potentielle ausländische Investoren geben sich die Türklinken zuständiger Ministerien in Bratislava in die Hand. Die jüngsten Proteste der Roma im Südosten des Landes haben dieses schöne Bild allerdings getrübt. Dabei waren diese nichts anderes als ein drastischer Hinweis auf ein wesentliches Dilemma, dem sich alle Reformstaaten in Ostmitteleuropa gegenübersehen. Für sie ist die Modernisierung ihrer Volkswirtschaften bei gleichzeitiger Befriedigung der wichtigsten sozialen Bedürfnisse ein Spagat, der sich finanzpolitisch nur schwer bewältigen lässt.
Die Roma gingen auf die Straße und plünderten Geschäfte, weil die Regierung am 18. Februar damit begonnen hat, die Sozialhilfe um bis zu 50 Prozent zu kürzen. Sie will so nach eigenen Aussagen Langzeitarbeitslose dazu bewegen, sich verstärkt um Arbeit zu kümmern. Zeitweise waren neben den Polizeieinheiten bis zu 2.000 Soldaten gegen die protestierenden Roma in Trebisov, Preszova, Koszyca, Michalovce, Czaklova und Moldava nad Bodvou im Einsatz. Deutlich spürbar war die Nervosität der Regierung, die natürlich fürchtete, der soziale Aufruhr könne dem internationalen Ansehen des Landes schaden. Andererseits wies sie zu Recht darauf hin, dass die sozialen Strukturen unter den Roma es Betrügern ermöglichen, bis zu 60 Prozent der Sozialhilfebeträge zu veruntreuen.
Nun hatte die OECD in ihrem jüngsten Länderbericht über die Slowakei schon darauf hingewiesen, dass die etwa 385.000 Roma, die sieben Prozent der slowakischen Bevölkerung ausmachen, die Hauptverlierer des Reformprozesses sind. In einer slowakischen Arbeitsmarktstudie wurde die Arbeitslosenrate unter den Roma mit 83 Prozent angegeben. Das bedeutet, dass ein Viertel aller slowakischen Arbeitslosen und die Hälfte der Langzeitarbeitslosen, die seit mehr als zwei Jahren keine Beschäftigung haben, Roma sind. Etwa ein Drittel dieser Volksgruppe, die überdurchschnittlich viele Kinder zur Welt bringt und meistens in ausgegrenzten Siedlungen ohne Wasser, Kanalisation und Strom lebt, ist fast vollständig von sozialen Zuwendungen abhängig. Die Kürzung der Sozialhilfe wird ihre gesellschaftliche Integration kaum fördern, da gerade in der Ostslowakei keine weiteren Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Anderseits sind viele von ihnen auch gar nicht mehr willens, nach Arbeit zu suchen. Die Regierung hat jetzt über 100 Mitarbeiter in die Region geschickt, die eine Vergabe öffentlicher und gemeinnütziger Arbeitsplätze an die Roma prüfen soll.
Auch wenn die Arbeitslosenrate seit 2001 von 19 auf 17,3 Prozent gesunken ist, hat die Regierung dieses Problem bislang nicht unter Kontrolle bekommen. Während sich für qualifizierte Tätigkeiten im Raum von Bratislava, der wirtschaftlich stark prosperiert, kaum noch Arbeitskräfte finden lassen, hat sich in den anderen Teilen des Landes bei den weniger Qualifizierten ein Heer von Arbeitslosen gebildet. Im Landesdurchschnitt gehen gerade mal 57 Prozent der Arbeitsfähigen einer geregelten Tätigkeit nach. Die Hoffnung, dass sich mit der Beschleunigung des gerade von hochproduktiven ausländischen Direktinvestitionen angetriebenen Wirtschaftswachstums auch die Schwächen des Arbeitsmarktes beheben ließen, haben sich bislang nicht erfüllt. Wenig Wirkung zeigte bislang auch die von der Regierung Dzurinda in Gang gesetzte Liberalisierung, darunter die Zulassung von Verträgen über Teilzeitarbeit, die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Aufweichung des Branchentarifrechts. Allerdings handelt es sich in der Slowakei vielfach nicht um echte Arbeitslosigkeit. Die bislang reichlich gewährte Arbeitslosenunterstützung und die soziale Hilfe für Langzeitarbeitslose haben dazu verleitet, in der Schattenwirtschaft und auf dem schwarzen Markt aktiv zu werden.
Zu den revolutionären Strukturreformen, die von Dzurindas Kabinett auf den Weg gebracht wurden, gehört vor allem die Vereinfachung des Steuersystems. Seit dem 1. Januar 2004 gilt ein einheitlicher Satz von 19 Prozent für die Körperschafts- und Einkommens- sowie die Mehrwertsteuer. Erbschafts- und Schenkungssteuern sind weggefallen. Dividenden und andere Gewinne werden nicht mehr der Kapitalerstragsteuer unterworfen. Schließlich wurde eine Fülle steuerlicher Sonderregeln und Subventionen abgeschafft. Um den Staatshaushalt nicht durch Einkommensverluste zu stark zu belasten, sind auch Steuererhöhungen Teil des Reformpakets. So wurden die Verbrauchssteuern auf Mineralöl, Benzin, Alkohol und Tabak dem Eu-Durchschnitt angepasst und damit erhöht. Im Rahmen der Rentenreform, die 2005 in Kraft treten wird, hat man das bisherige Umlageverfahren in ein Kapitaldeckungsverfahren umgewandelt. Eingeleitet wurde ebenso die Modernisierung des Gesundheitswesens und des Erziehungssystems.
Die Kehrseite all dieser durchgreifenden Veränderungen besteht darin, dass sie die einkommensschwächeren Schichten der Bevölkerung unverhältnismäßig stark belasten und sich daher die Einkommensunterschiede zwischen dem Westen des Landes und der Mittel- sowie Ostslowakei vertiefen. Umfragen haben ergeben, dass die Mehrheit der Slowaken diese Einschätzung teilt. Besonders Finanzminister Ivan Miklos, der als Vater der Steuerreform gilt, ist inzwischen reichlich unpopulär. Nach Angaben des Statistischen Amtes lag der monatliche Durchschnittslohn Ende 2003 bei umgerechnet 320 Euro. Die Slowakei liegt damit weit hinter Slowenien, wo die mittlere Lohnhöhe inzwischen etwa 1.000 Euro pro Monat beträgt, und auch hinter Tschechien, Polen und Ungarn, deren vergleichbare Einkommen etwa 550 Euro ausmachen.
Andererseits erzielt die Slowakei seit zwei Jahren die höchsten Wachstumsraten unter den künftigen EU-Staaten in Ostmitteleuropa. Die Slowakische Nationalbank beziffert den realen Anstieg des Bruttoinlandprodukts (BIP) für 2003 mit 3,9 Prozent und erwartet für die Jahre 2004 bis 2007 Werte zwischen 4 und 4,5 Prozent. Treibende Kraft des Wachstums sind hauptsächlich die ausländischen Direktinvestitionen und der slowakische Export, während die Binnennachfrage wegen der sinken Realeinkommen an Bedeutung verliert. Zu den makroökonomischen Risiken des Landes gehört nach wie vor das Defizit im Staatshaushalt, auch wenn es nach 7,2 Prozent BIP für 2002 und 5 Prozent im vergangenen Jahr weiter rück-läufig ist. Finanzminister Miklos hat für 2006 einen Wert von 3 Prozent angepeilt, womit das entsprechende Maastricht-Kriterium erfüllt würde. Immerhin liegt das Defizit in der Leistungsbilanz, das 2001/2002 noch mehr als 8 Prozent des BIP betragen hatten, inzwischen knapp unter 4 Prozent. Problematisch ist weiterhin auch die Inflationsrate, die Ende 2003 stolze 9,4 Prozent betrug. Für dieses Jahr erwartet die Nationalbank einen Wert zwischen 5,5 und 7,3 Prozent. Der Wechselkurs der slowakischen Krone bewegt sich relativ stabil bei Werten um 43,00 zum Euro. Auch wenn sich Regierung und Nationalbank noch nicht ausdrücklich auf ein Datum festgelegt haben, planen sie die Übernahme des Euro für die Jahre 2008/2009.
Wenn Premier Mikulas Dzurinda Reden auf internationalen Wirtschaftskonferenzen hält, dann spürt man seinen Stolz angesichts der Tatsache, dass ausländische Investoren in großer Zahl ins Land drängen. Im vergangenen Jahr ließ er es sich nicht nehmen, bei der Grundsteinlegung für ein Automobilwerk von Peugeot Citroen in Trnava nordöstlich Bratislavas anwesend zu sein. Die Zahlen sprechen für sich. Während die Tschechische Republik beim Zufluss ausländischer Direktinvestitionen einen Zuwachs von 5,6 Milliarden US-Dollar 2001 auf 9,3 Milliarden 2002 erzielte und die Slowakei sogar eine Steigerung von 1,6 Milliarden auf 4 Milliarden verbuchen konnte, sank der entsprechende Wert in Ungarn von 2,6 auf 1,28 Milliarden. Dieser Trend setzt sich fort. Das Land hat insbesondere die Chance, in den nächsten Jahren international zu einem der wichtigsten Standorte für die Automobilproduktion aufzusteigen. Nach Volkswagen und Peugeot Citroen wird vermutlich auch Hyundai in die Slowakei gehen. Wirtschaftsminister Pavol Rus-ko bemüht sich verstärkt um staatliche Anreize für ausländische Investoren, muss sich dabei aber immer wieder mit dem auf Sparsamkeit konzentrierten Finanzminister Ivan Miklos auseinandersetzen.
Wie alle künftigen EU-Mitglieder in Ostmitteleuropa kann die Slowakei die umfassende Modernisierung des Landes auf keinen Fall nur aus den eigenen wirtschaftlichen Erträgen und finanziellen Ersparnissen finanzieren. Das Land ist also auf EU-Fördermittel, Kredite vom internationalen Kapitalmarkt und zufließendes Kapital in Form ausländischer Direktinvestitionen angewiesen. Die ausländischen Investoren kommen besonders dann, wenn sie wirtschaftliche Berechenbarkeit, fiskalische Disziplin, wenig schwankende Wechselkurse, Geldwertstabilität, Lohnerhöhungen, die mit dem Wachstum der Produktivität Schritt halten, und modernes Verwaltungshandeln vorfinden. Um in der erweiterten EU bestehen zu können, muss die Slowakei ihre Infrastruktur modernisieren, die EU-Fördergelder effektiv einsetzen, das allgemeine Bildungsniveau stärker anheben und die Begabtesten der jungen Generation intensiver fördern. Andererseits wird die Mitgliedschaft in der EU breiteren Bevölkerungsschichten auf Dauer nur einsichtig bleiben, wenn sie mit einer schrittweisen Anhebung ihres Lebensniveaus einhergeht. Die Kunst der Wirtschaftspolitik besteht darin, die unterschiedlichen Ziele in einer vernünftigen Mischung zu kombinieren. Mittelfristig wird der Slowakei nichts anderes übrig bleiben, als sich auf die strategische Modernisierung des Landes zu konzentrieren. Sozialpolitik wird vorerst nur als Hilfe für die am schlechtesten Gestellten möglich sein. Aber auch makroökonomische Stabilität, eine feste Währung und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung haben eine soziale Funktion. Reinhold Vetter
Reinhold Vetter ist Mittel- und Osteuropakorrespondent des "Handelsblatt" in Warschau.