Viele Reformen in der ungarischen Medizin haben zu einem Wirrwarr für die Patienten geführt
Durch das Wirrwarr der seit Jahren andauernden Reformversuche im Gesundheitswesen sind sich die ungarischen Bürgerinnen und Bürger nicht mehr darüber im Klaren, wie viel eine Behandlung überhaupt kostet und wer die Kosten dafür zu tragen hat. In diesen Fragen haben sie längst die Orientierung verloren. Jede neu gewählte Regierung - nunmehr vier an der Zahl seit der Wende - versucht, ihre Wählerschaft mit großartigen Versprechungen zu lenken, zu beeinflussen, zu motivieren und nachträglich zu beruhigen.
Die junge Demokratie verbucht bereits mehrere verschiedene Innovationen im Gesundheitsbereich: die Privatisierung der Praxen, die Einführung des hausärztlichen Dienstes, die gesetzlich geregelte Reduzierung der Betten pro Krankenhauszimmer, das Volksgesundheitsprogramm (es ermöglicht der Bevölkerung kostenfreie Vorsorgeuntersuchungen) und schließlich das so genannte Krankenhausgesetz. Letzteres kam bereits in der Amtszeit der rechtskonservativen Regierung Viktor Orbáns (1998 - 2002) in Mode. Merkwürdigerweise befürworteten beide sonst so heftig rivalisierenden Lager, die Links- und die Rechtsparteien, damals das Krankenhausgesetz. Das heißt, alle waren sich darüber einig, dass die Gemeinden ihre Krankenhäuser samt Einrichtung an juristische Personen oder Investitionsgemeinschaften verkaufen könnten, wenn diese über einen akzeptablen Finanzierungs- und Betreibungsplan verfügten. Von dieser Regelung haben sich die Politiker vor allem schneeweiße Klinikwände sowie schnellere und schmerzfreie Genesungsprozesse erhofft.
Der verdächtige Konsens quer durch die Parteienlandschaft erwies sich allerdings nicht als langlebig: Seit 2002, als die linksliberale Opposition zur Regierungspartei avancierte, mehrten sich die Stimmen, die das Krankenhausgesetz verhindern wollten. Ende 2003 hat das Verfassungsgericht jetzt endgültig gegen das Gesetz entschieden. Das Urteil entsprach der Haltung der jetzigen oppositionellen Parteien, oder besser gesagt, des einmaligen Zweckbündnisses zwischen der linken Arbeiterpartei und der rechtskonservativen Fidesz, derzufolge durch eine "wildkapitalistische Privatisierung der ungarischen Krankenhäuser" dem Land der totale Ausverkauf drohe. Die Menschen haben das letzte Wort der Justiz mit Gelassenheit aufgenommen. Ihnen ist es letztendlich egal, ob der verschuldete Staat oder der verschuldete Kapitalist hinter den Krankenhausmauern steht.
Die Patienten haben bereits mit der staatlich geförderten Privatisierung ihre ersten Erfahrungen gemacht. Mitte der 90er-Jahre übernahmen nämlich Privatärzte die Grundversorgung der Patienten in den von den Gemeinden gemieteten Räumen - im Prinzip den Patienten gegenüber kostenfrei. In der Praxis aber ging dies mit einer "Stimulierung" der "Dankbarkeitszuschüsse" von seiten des Patienten einher. Das heißt, dass er aus seinem eigenen Portemonnaie dem behandelnden Arzt in einem weißen Umschlag eine Prämie für die eigentliche Pflichterfüllung des Arztes gewährt.
Als zweite Stufe der marktwirtschaftlichen Umstellung wurde 2001 ein weiteres Gesetz verabschiedet, das die Hausärzte in ihren Ambitionen unterstützte, ihre Praxisräume von den Stadtverwaltungen zu erwerben. Ihnen stehen seitdem günstige Kredite zur Verfügung, während das staatliche Gesundheitsamt aufgrund eines Regierungserlasses desselben Jahres denjenigen Ärzten, die nicht Eigentümer ihrer vier Wände sind, die monatliche Unterstützung von 50 - 100.000 Forint (250 - 400 Euro) gekündigt hat. Durch den Erwerb der Immobilien entstehen echt profit-orientierte Formationen, die nicht mehr nur an der Existenzsicherung der Mitarbeiter interessiert sind. Solche Ärzte fühlen sich verpflichtet, ihre Ausstattung selber zu kaufen, um die Qualität der Behandlung zu verbessern. Die Gegenleistungen des staatlichen Gesundheitsamtes und der inzwischen gegründeten privaten Krankenkassen können den Unternehmensgeist dieser Ärzte jedoch nicht entsprechend honorieren. Im real existierenden Sozialismus absolvierten jährlich im Durchschnitt 1.200 Studenten ein Medizinstudium. Heute sitzen bis zu 700 Studierende in den Hörsälen der Semmelweis-Universität, von denen jeder Zweite nach dem Staatsexamen aus dem Beruf ausscheidet. Die Wände der Krankenhäuser, von denen die schlechte Farbe abblättert, die Beschwerden der Patienten und die äußerst geringen Gehälter in den Praxen schrecken den Nachwuchs ab.
Die anarchischen Verhältnisse in der ungarischen Medizin sind allerdings keine unmittelbare Folge der Marktwirtschaft. Das System der Parasolvenz etablierte sich bereits in der Ära Kádár, in jenen Jahren, als Ungarn in der weltweiten Statistik bei den Herz-, Gefäß-, Leber- und tumorösen Erkrankungen den ersten Platz errang. Diese Situation verbesserte sich seit Mitte der 90er-Jahre durch die gesündere Lebensform der Bevölkerung. Eine der möglichen Erklärungen hierfür ist die Tatsache, dass die Ungarn nicht mehr wie früher gleichzeitig zwei oder sogar drei Jobs ausüben. Sie freuen sich, wenn sie überhaupt einen Arbeitsplatz haben. Nur die Polikliniken, in denen heute die meisten Ärzte ihre Räume mieten, spiegeln die Atmosphäre der 70er- und 80er-Jahre wieder. Die Warteräume wurden allerdings ein wenig aufgemotzt, aber es steht kein Garderobenmann mehr bei der Anmeldung, der die Mäntel der Kranken entgegennimmt. Solche Arbeitsplätze wurden längst abgewickelt, obwohl der Staat vergangenes Jahr seine Ausgaben im Gesundheitswesen um 170 Milliarden Forint erhöht hat. In welche Kanäle das Geld fließt, ist nicht nachweisbar; von einem EU-Mitglied wird jedoch erwartet, einen bestimmten Anteil seines Bruttosozialproduktes im Bereich des Gesundheitswesens auszugeben.
Die Angelegenheit ist Chefsache. An der Spitze der Regierung steht ein studierter Ökonom und praktizierender Bankier. Der derzeitige Ministerpräsident, Péter Medgyessy, möchte sich nicht nur mit langweiligen statistischen Angaben in das Buch der Gesundheitsreformen Ungarns einschreiben. Er möchte vielmehr sehenswerte und vor allem nachhaltige Investitionen vorzeigen. Im Januar dieses Jahres wurde in Ungarn das "Modell der gelenkten Krankenversorgung" ins Leben gerufen und eingesetzt. Demnach sorgen ausgebildete Manager dafür, dass dem Patienten immer das höchste Niveau der Behandlung zuteil und das billigste Medikament verschrieben wird.
Die Augen der Kontrolleure müssen unnötige Überweisungen zu Fachärzten und unüberlegte Einweisungen ins Krankenhaus herausfiltern. Experten rechnen mit Einsparungen von jährlich 100 - 200 Milliarden Forint, die laut Plan zugunsten der Modernisierung der medizinischen Einrichtungen umgeschichtet werden. Mit dieser Reform möchte Medgyessy den Widerspruch relativieren, demzufolge das ungarische Gesundheitswesen gleichzeitig arm wie verschwenderisch sei.
Am Vorabend des EU-Beitritts wird noch eine andere "Fassadenarbeit" betrieben: Als Teil des "Europa-Projektes" brüstet sich der Gesundheitssektor vor den Behörden in Brüssel mit dem "Programm der Krankenhausrekonstruktionen". Seit 2003 beschäftigen sich Bauarbeiter mit der Renovierung von zwölf Provinzkrankenhäusern und 33 Notaufnahmen. Als ob die Bauherren im Parlament vor der Niederlage des Krankenhausgesetzes am Jahresende 2003 geahnt hätten, dass keine Massenprivatisierungswelle zu erwarten ist. Die EU belohnte die Regierung für die ambitionierten Pläne und gewährte unlängst mehr als 20 Millionen Euro für die Modernisierung des ungarischen Gesundheitswesens. Den Betrag möchte das Land um sechs Millionen aufstocken. Aus diesen Fonds werden die Einrichtungen in den besonders schwachen Regionen, vor allem in der großen ungarischen Tiefebene in Schuss gebracht. Es wird eine Informationstechnologie entwickelt, um die Kommunikation zwischen Haus- und Fachärzten zu erleichtern.
Die Öffentlichkeit betrachtet all diese Vorhaben skeptisch, Kranke und Gesunde erfahren bereits am eigenen Leib, dass die Mitgliedschaft in der EU keine kosten- und opferfreie Angelegenheit ist. An dieser inneren Unruhe ändert auch die PR-trächtige Idee des Gesundheitsministeriums voraussichtlich nicht viel: Minister Kökény nimmt persönlich jeden Donnerstag Telefonanrufe aus der Bevölkerung entgegen und beantwortet die Fragen seiner meist unbekannten Patienten. Schließlich war er vor seiner Ernennung zum Minister selbst praktizierender Arzt.
Andrea Dunai ist freie Journalistin in Berlin.