Ungarn und sein Umgang mit den eigenen Minderheiten in den Nachbarländern
Von dem, was nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Vorherrschaft in Jugoslawien passiert ist, sind die Länder Ostmitteleuropas bekanntlich verschont geblieben. Dort hat die reformpolitische Alternative zu einem euro-atlantischen Systemwandel die destruktive Kraft des Nationalen überwinden können. Trotzdem ist die nationale Frage auch in diesen Ländern ein brisantes Thema von gesamtgesellschaftlicher Tragweite. In Ungarn artikuliert sie sich in Bezug auf die über drei Millionen starke ungarische Minderheit jenseits der Landesgrenzen, die seit der geopolitischen Neuordnung Ostmitteleuropas dort lebt. An Grenzänderungen ist heute aber nicht mehr zu denken. Gerade im Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess sind vielmehr Lösungen gefragt, die im gegenseitigen Einverständnis der betroffenen Länder einen angemessenen Minderheitenschutz ermöglichen.
Minderheiten gibt es heute auch in Ungarn. Ihr Schutz hat ebenso Verfassungsrang wie die Sorge um das Wohlergehen der magyarischen Minderheiten im Ausland, obwohl ihre Zahl im Vergleich viel geringer ist. Ein 1993 verabschiedetes Minderheitengesetz erwähnt ausdrücklich 13 Minderheiten. Das Gesetz gewährt ihnen das Recht auf muttersprachlichen Unterricht. Frei gewählte Selbstverwaltungen setzen sich zudem auf kommunaler und auf Landesebene für die Wahrnehmung der Minderheitenrechte ein. Das Gesetz ist aber auch Zeichen des Budapester Willens, mit gutem Beispiel voranzugehen, um so auf glaubwürdige Weise wiederum Gleiches von den Nachbarstaaten fordern zu können. Profitiert haben von ihm vor allem die nationalen Minderheiten, allen voran die deutsche, slowakische und die rumänische. Die Roma - einzig erwähnte ethnische Minderheit, die nicht auf ein "Vaterland" verweisen kann - gehören nach wie vor zu den großen Verlierern der Wende. So kann man zwar sagen, dass die Minderheitenproblematik in Ungarn auf formaler Ebene einer positiven Lösung zugeführt wurde. Ob das Gesetz auch dazu beigetragen hat, die Nachbarstaaten zu einem besseren Schutz der ungarischen Minderheiten anzuspornen, ist jedoch fraglich. Die Strategie krankt allein schon daran, dass auf dem heutigen Staatsgebiet Ungarns wesentlich weniger Minderheiten leben, als Ungarn in den Nachbarstaaten. Wenn zudem - wie dies bei der ersten frei gewählten Regierung unter József Antall der Fall war - die Qualität der bilateralen Beziehungen vorrangig nach der Frage der Behandlung der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten beurteilt wird, erschwert dies obendrein bilaterale Einigungen über den Minderheitenschutz.
Diese Politik, die so genannte Antall-Doktrin, wurde zudem begleitet von einem ethnisch geprägten Begriff der eigenen Nation, dessen prominenteste Definition ebenfalls von Antall stammt: "Im Geiste fühle ich mich als Ministerpräsident von 15 Millionen Magyaren." Das schwammige Bild von der eigenen staatlichen Kompetenz, das diese unscharfe Trennung von Staatsbürgerschaft und Ethnizität suggerierte, musste den Nachbarstaaten ein Dorn im Auge sein. Auch dort ging man von einem ethnisch geprägten Nationenbegriff aus und verstand es im Bedarfsfall, die ungarischen Forderungen als versteckten Revisionismus zu interpretieren und für eigene nationalistische Belange zu instrumentalisieren.
Die zweite frei gewählte Regierung unter Gyula Horn behielt die außen- und innenpolitischen Ziele ihrer Vorgängerin bei, vermied aber eine ethnozentristische Rhetorik und betonte die gemeinsamen europäischen Ziele aller osteuropäischen Staaten. Sie war zudem davon überzeugt, die Lage der Minderheiten erst verbessern zu können, wenn sich das Verhältnis zu den Nachbarn normalisiert habe. Diese Umkehrung der Antall-Doktrin führte schließlich, verbunden mit der endgültigen Anerkennung der Grenzen, zu der die Antall-Regierung nicht bereit gewesen war, zu Grundlagenverträgen mit der Slowakei und Rumänien. Allerdings hatte Budapest sein Forderungsniveau hinsichtlich der Minderheitenrechte erheblich senken müssen, um den Erfolg der Verhandlungen nicht zu gefährden.
Eine erneute Kehrtwende vollzog nach 1998 die Regierung unter Viktor Orbán. Ihr außenpolitisches Ziel war die "grenzüberschreitende Wiedervereinigung der ungarischen Nation", wie der Premier sagte. Dazu sollte ihm das so genannte Statusgesetz dienen, das Magyaren, die in den Nachbarstaaten leben, erhebliche Sonderrechte im "Mutterland" einräumt: Neben Vergünstigungen im Kultur- und Bildungsbereich vor allem einen erleichterten Zugang auf den ungarischen Arbeitsmarkt. Das im Juni 2001 mit überwältigender Mehrheit verabschiedete Gesetz stieß vor allem in der Slowakei und in Rumänien auf herbe Kritik. Stein des Anstoßes war der so genannte Magyarenausweis, dessen Besitz die Vergünstigungen voraussetzt. Da er von ungarischen Behörden ausgestellt wird, stellt er eine staatsrechtliche Bindung zwischen der Republik Ungarn und dem Bürger eines Nachbarstaates dar.
Das Statusgesetz wurde nicht nur ohne die Konsultation der Nachbarstaaten vorangetrieben, aufgrund seiner positiven Diskriminierungsmaßnahmen verstößt es auch gegen EU-Normen. Die seit April 2002 amtierende Regierung Medgyessy, die das Gesetz prinzipiell für gut heißt, war deshalb unter dem Duck der EU darum bemüht, sich bilateral mit Bukarest und Bratislava über die Anwendungsbestimmungen zu einigen - mit dem Ergebnis, dass das Gesetz in den sechs betroffenen Nachbarstaaten heute auf drei verschiedene Arten angewendet wird, denn die Ukraine, Serbien, Kroatien und Slowenien haben nicht auf Sonderregelungen bestanden.
Rückblickend zeigt sich, dass die ungarische Minderheitenpolitik ihre größten Erfolge auf der bilateralen Ebene verzeichnen konnte. Doch hat die ungarische Politik wiederholt die Neigung gezeigt, nationale Eigeninteressen einseitig durchsetzen zu wollen. Der Preis dafür war eine erhebliche Belastung der bilateralen Beziehungen - die Kosten für eine solche Politik tragen in der Regel die ungarischen Minderheiten. Doch besitzt die EU bisher so viel Autorität, das Gleichgewicht von Westintegration, Nachbarschafts- und Minderheitenpolitik wieder auszupendeln, wenn es zu kippen droht. Nicht zu vergessen ist die Lage der Minderheiten selbst. Hier stellen die Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission seit Ende der 90er-Jahre substanzielle Verbesserungen fest. Instabil bleibt jedoch die Lage in der Vojvodina. Zuletzt sind im Zusammenhang mit den serbischen Parlamentswahlen im Januar Übergriffe auf Magyaren gemeldet worden.
Wie überall in Ostmitteleuropa sind auch die circa 600.000 bis 800.000 Roma in Ungarn überdurchschnittlich benachteiligt. Das größte Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit unter ihnen, die in manchen Regionen Ungarns sogar 70 - 100 Prozent beträgt. Zu Zeiten der Planwirtschaft versahen die Roma Hilfsarbeiten in der Schwerindustrie oder in der Landwirtschaft. Doch wird der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften immer geringer, und Romakinder besuchen selten weiterführende Schulen. Ihre Familien leben häufig segregiert und werden so leicht zu Opfern rassistischer Übergriffe. Die Integration fällt nicht zuletzt auch deshalb so schwer, weil die Roma keine in sich homogene Minderheit darstellen - es eint sie nur ihre Armut.
Der Anwendung des Minderheitenrechts - aber auch der Menschenrechte - auf die Roma in Ungarn wird von Experten als halbherzig bezeichnet. Noch fehlt ein Antidiskriminierungsgesetz, das mit EU-Normen konform geht. Ebenso wenig ist die Sprache der Roma - so sie denn nicht Ungarisch ist - ausreichend geschützt, obwohl Ungarn Unterzeichner der EU-Charta zum Schutz von Minderheitensprachen ist. Es gibt aber auch gute Zeichen: So hat die Regierung Medgyessy in fast jedes seiner Ministerien Roma-Mitarbeiter berufen. Damit sich aber die Plünderungen von Ämtern und Supermärkten durch Roma, wie sie Ende Februar 2004 zu wiederholten Malen in der Slowakei passiert sind, sich in Ungarn nicht wiederholen, sind zukünftig noch massive Anstrengungen nötig.
Thomas von Ahn