Die Gandhischule für Romakinder in Pécs
Ruhe ist ein relativer Begriff. Wenn Erika Csov-csics, die Direktorin des Gandhigymnasiums in Pécs, unterrichtet, sitzen die Kinder nicht still. Ein Mädchen flechtet ihrer Nachbarin die langen schwarzen Haare. Die anderen unterhalten sich, während die Lehrerin an der anderen Seite des Tisches noch spricht. Erika Csovcsics kennt das Temperament ihrer Sprösslinge und hat sich darauf eingestellt. Erst wenn die Kinder dem Unterricht nicht mehr folgen, unterbricht sie das bunte Treiben - mit einem leisen Schütteln von Münzen in einem Glas. Sanft schwenkt die Aufmerksamkeit der Kinder zu ihr zurück.
So einfach und doch so anders als an anderen Schulen gehen die Lehrer am Gandhigymnasium mit Romakindern um. "Hier werden die Romakinder akzeptiert", erklärt Erika Csovcsics. "An ungarischen Schulen ist das leider nicht ganz normal." Rassismus ist in Ungarn alltäglich, und über die Zigeuner denken die Menschen ganz besonders schlecht: Roma sind faul, klauen und leben im Dreck. Das ist das gängige Klischee. Allein deswegen schon werden Romakinder in vielen Schulen diskriminiert. Wenn sie sich dann auch noch anders verhalten als ihre Mitschüler, haben selbst die intelligentesten unter ihnen kaum noch eine Chance auf gute Noten. Tatsächlich sind Romakinder häufig lebhafter und hibbeliger als andere Kinder. Die meisten wachsen in Großfamilien auf, wo immer etwas los ist, und sie sind es gewohnt, am oder auf dem Arm der Mutter überall dabei zu sein. Körperliche Nähe und ständiger Trubel ist für die Kinder also normal.
Das Gandhigymnasium in Pécs unterrichtet fast ausschließlich Romakinder. Ihre verhaltensmäßigen Besonderheiten können die Lehrer also bewusst in ihr Konzept mit einplanen. Die Klassengruppen sind klein, die Lehrmethoden besonders kindgerecht. Zwei Sozialarbeiter kümmern sich darum, dass alles harmonisch verläuft. Das ist nicht selbstverständlich, denn die Romakinder kommen häufig aus sich gegenseitig bekämpfenden Zigeunerclans. Gewalt bekommen sie zu Hause oft vorgelebt. Erika Csovcsics erklärt: "Wir betreuen hier viele Schüler, die aus Familien mit einem sehr schwierigen sozialen Umfeld kommen. Demnach unterrichten unsere Lehrer mit anderen Methoden. Viele Kinder zum Beispiel haben zu Hause keinen Kontakt mit Büchern oder haben Probleme, die Arbeit eines Lehrers zu respektieren. Wir helfen ihnen dabei." Um den Zusammenhalt der Kinder zu stärken und ihnen ein besseres Lernen zu ermöglichen, bleibt ein Großteil von ihnen die Woche über in einem der Schule angeschlossenen Internat. Genau das birgt allerdings auch ein Problem.
Die Erzieher versuchen zwar eine familiäre, gemütliche Atmosphäre zu schaffenden. Die Kinder wohnen zu dritt oder viert in einem Zimmer. Selbst gemalte Wandbilder und persönliche Gegenstände verschönern die Zimmer. Es gibt einen Freizeitclub, Kinovorführungen, Schulfeste und Fußballspiele. Und an den Wochenenden oder in den Ferien fahren viele nach Hause. Dennoch lassen die Mütter ihre Kinder nicht gerne allein, zumal es für sie mit einem historischen Trauma belastet ist, die Kinder wegzugeben. Geeignete Bewerber zu finden, ist daher nicht immer leicht, obwohl die Gandhischule den Schülern eine hervorragende Ausbildung bietet.
Ein Team von Lehrern und Sozialarbeitern reist zu Beginn jeden neuen Schuljahres in den umliegenden Romasiedlungen von Familie zu Familie. Sie suchen zunächst nach motivierten und lernwilligen Schülern, und versuchen die Eltern dann davon zu überzeugen, wie wichtig die Ausbildung für ihre Sprösslinge ist. Das Gandhigymnasium in der im Süden gelegenen, nicht weit von der kroatischen Grenze entfernten Stadt Pécs ist die einzige Roma-Schule in Ungarn, in der die Kinder bis zum Abitur lernen können. "Unsere Zielsetzung ist es, eine junge Roma-Intelligenz auszubilden, die offen und für Wissenschaften empfänglich ist, aber zu ihrem Volk und ihrer Sprache steht", sagt Erika Csovcsics. "Außerdem wollen wir, dass alle in Ungarn lebenden Roma-Kinder, ähnlich wie auch Kinder anderer ungarischer Nationalitäten, eine Ausbildung guter Qualität erhalten."
Im Grunde ist die Ausbildung am Gandhigymnasium eine Eliteförderung, wobei Elite sich in diesem Zusammenhang nicht auf eine finanzielle, sondern eher auf eine geistige Elite bezieht. Viele Kinder kommen aus einer armen Familie. Die Ausbildung verhilft ihnen zu einem sozialen Aufstieg. Die Erzieher wollen allerdings verhindern, dass aus den so geförderten Romakindern gesichtslose, arrogante junge Menschen werden. Eine starke kulturelle Verwurzelung soll dabei helfen und verhindern, dass sich die Kinder von ihren Familien zu sehr entfernen. So lernen die Kinder neben Ungarisch und zwei Fremdsprachen auch die beiden von den ungarischen Roma gesprochenen Sprachen Romani und Beasch. "Die Schüler sollen die Schönheit ihrer Sprache sehen. Sie soll ein organischer Teil ihrer Identität werden", erklärt die Direktorin.
Teil einer Minderheit zu sein, ist etwas, worauf man stolz sein kann, lautet auch der Leitgedanke vieler anderer Initiativen. Mit Hilfe der Düsseldorfer Niermann-Stiftung, die Wissenschaft und Forschung im Bereich der Völkerverständigung fördert und ethnische Minderheiten in Europa unterstützt, hat die Schule eine große Roma-Bibliothek errichtet. Es ist, wie die Organisatoren betonen, die einzige in ganz Ostmitteleuropa. Nicht alle der rund 10.000 Bücher, 200 Comics, 180 Spiele, 300 Videos und 1.400 CDs oder CD-Roms befassen sich mit der Minderheit. Doch das Thema ist in den drei hellen Leseräumen immer präsent. Die Mitarbeiter veranstalten beispielsweise regelmäßig Lesenächte, in der sowohl deutsche, englische, französische, aber eben auch Roma-Literatur zu hören ist. In den Pausen gibt es landestypisches Essen und Musik. Zum Tag der Menschenrechte diskutiert man über Vorurteile und Toleranz. Darüber hinaus pflegen Schule und Bibliothek einen regen Kontakt zu anderen Minderheitenzentren in Europa. Per Schüleraustausch kommen in Deutschland lebende Dänen nach Pécs. Einige Roma gehen jedes Jahr zur dänischen Minderheit nach Schleswig.
Trotz der überall präsenten Ausländerfeindlichkeit ist es in Ungarn zunächst noch nicht ungewöhnlich, wenn Menschen so sehr betonen, einer Minderheit anzugehören. Ungarn hat im europäischen Vergleich die meisten Minderheiten. Die ungarische Regierung achtet darauf, deren Rechte zu schützen. So unterscheidet sich das multikulturelle Konzept der Gandhischule eigentlich nicht so sehr von anderen Minderheitenschulen. In Pécs gibt es zum Beispiel noch ein deutsches Gymnasium. Auch hier werden die Kinder zweisprachig unterrichtet und leben in ständigem Kontakt mit Deutschland und der deutschen Kultur. Doch gerade dem Roma-Gymnasium werfen ungarische Kritiker vor, zu wenig auf die Integration der Kinder zu achten. Das ganze Konzept unterstütze die eh schon vorhandene Ghettoisierung der Roma.
Über Integration versus Wahrung der kulturellen Identität und negative, sowie positive Diskriminierung kann man lange diskutieren. Zumindest im Hinblick auf die schulischen Leistungen und die damit erworbene berufliche Qualifikation scheint sich das Konzept des Gandhigymnasiums jedenfalls bewährt zu haben. Das 1994 von der Gandhi-Stiftung gegründete Gymnasium bildet derzeit rund 250 Schüler aus. Die Schüler stammen in der Regel aus der direkten Umgebung von Pécs. Nur einige kommen aus völlig anderen Regionen Ungarns extra hierher.
Die meisten Roma-Kinder fangen in der 7. Klasse an. Späteinsteiger schwenken sogar noch ab der 9. Klasse von anderen weiterführenden Schulen um. Es gibt zwar auch immer wieder Schülerinnen und Schüler, die ihre Ausbildung abbrechen - Jungs, weil sie helfen müssen, den Lebensunterhalt der Familien zu finanzieren, Mädchen, weil sie schon als Teenager schwanger werden, wie es die Tradition vorsieht. Die Erzieher haben es sich jedoch zu ihrem Ziel gemacht, die Jugendlichen nach Möglichkeit bis zum Abitur zu begleiten. Und fast die Hälfte der Schüler aus den ersten Abiturjahrgängen hat es tatsächlich geschafft, ein Studium zu beginnen. Dennoch hat es die ungarische Regierung bedauerlicherweise in Frage gestellt, ob und in welchem Umfang sie die wichtige Arbeit des Zentrums in Zukunft noch finanzieren wird.
Barbara Minderjahn