Philippika gegen Altersrassismus
Zum ersten Mal entsteht etwas, was in der Evolution nicht vorgesehen war: Eine nicht mehr fortpflanzungsfähige Gruppe, die ihren biologischen Zweck längst erfüllt hat, bildet die Mehrheit innerhalb einer Gemeinschaft. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wird die Zahl der Älteren größer sein als die der Kinder. Im Jahre 2050 werden zum Beispiel in China so viele über 65-Jährige leben, wie heute auf der ganzen Welt.
Zunächst einmal ist es die Wucht der Zahlen und Fakten, mit denen Frank Schirrmacher den Leser überwältigt. Hat die Politik, egal welcher Couleur, die Lebenserwartung bisher immer zu niedrig angesetzt und damit selbsttäuschend Zeit bis zu den nächsten Wahlen gewonnen, so ist die demographische Vorhersage unbestechlich und die Logik der Abreißkalender unerschütterlich.
Schirrmacher, einer der FAZ-Herausgeber, hat das Phänomen des fortschreitenden Alterns in allen seinen Variationen untersucht. Sein Ausgangspunkt ist nicht eine - über viele Passagen brillant formulierte - Bestandsaufnahme, sondern der gelungene Versuch, die stereotypen Bilder des Alterns zu revolutionieren. Nur dadurch, so Schirrmachers ebenso schlichte wie faszinierende These, könne dem Terror der Altersangst begegnet werden und die Gesellschaft die Chance gewinnen, sich wieder zu verjüngen.
Die Generation der Grauen muss und wird sich, prognostiziert der Journalist, in einer global vernetzten Welt nicht an den Rand drängen lassen, sondern mit ihren Chats, E-Mails, Bankkonten und Wahlzetteln unablässig zu Wort melden. Den künftigen Einfluss der vermeintlich Gebrechlichen schätzt der Autor außerordentlich hoch ein, vorausgesetzt, sie werden von den Jungen nicht als verwirrte und sozial auffällige Spezies abgetan.
Nichts weniger als eine Kulturwende will der Autor erreichen. Denn werde das bereits tief sitzende nega-tive Image des Alterns von uns allen nicht geändert, dann würden die Jungen von heute, die die Alten von morgen sind, für Jahrzehnte in die seelische Versklavung gehen. Dabei sei die Wissenschaft dem größten Teil der Gesellschaft, allen voran den Politikern, weit voraus, weil sie das Bild von den senilen und debilen Greisen kräftig korrigiert.
Schirrmacher weist schlüssig nach, dass der alternde Mensch heute gleich zweimal zerstört wird: einmal durch die Vorurteile und Klischees, die über sein Al-tern im Umlauf sind und die ihn aus der Gesellschaft ausstoßen, dann tatsächlich in corpore durch den Jahre nach dieser Diffamierung einsetzenden und mit dem Tod endenden Prozess. Dabei durchbricht die Lebenserwartung immer wieder Grenzen, die ihr Mediziner und Statistiker gesetzt haben.
Würden Krankheiten wie Krebs und Herzinfarkte über Nacht verschwinden, würde die Lebenserwartung nur um relativ bescheidene 15 Jahre wachsen. Gelänge es aber, die Alterung nur geringfügig hinaus zu zögern, wären Lebensalter von 115 und mehr Jahren keine Seltenheit mehr.
Die Utopie wird eingeholt durch die Tatsache, dass der Alterungsprozess für die nächsten 50 Jahre bereits unumkehrbar ist. Der Autor zieht daraus den logischen Schluss, dass alle Reparaturversuche zu spät kommen. Jetzt müsse es darum gehen, schon aus Selbstschutz negative Altersvorstellungen zu korrigieren, da sie zu Unmündigkeit wie auch zu einem Verlust an Denkfähigkeit schon im frühen Alter führen.
Den bereits im Gesundheitswesen ansatzweise vorhandenen Altersrassismus zu bekämpfen und zugleich die schöpferische Kraft des Alters für die ganze Gesellschaft auszubeuten, fordert Schirrmacher in seiner Analyse ein. Nur so könne der Generationenkrieg vermieden werden, denn alle demographisch bedingten Probleme beruhten ohne Ausnahme auf den Verhaltensweisen der Menschen. Robert Luchs
Frank Schirrmacher
Das Methusalem-Komplott.
Karl Blessing Verlag, München 2004; 224 S., 16,- Euro