Der Dokumentarfilm muss der Doku-Soap weichen, die besondere Handschrift dem Mainstream
Man stelle sich vor: Der Fußballer Michael Ballack hört auf dem Zenit seiner Leistungsfähigkeit auf, Fußball zu spielen, und wechselt quasi über Nacht die Sportart; einfach so. Zugegeben, der Vergleich hinkt, aber er liegt nahe: Vor einigen Jahren hat Hartmut Schoen aufgehört, Dokumentarfilme zu drehen. Das hat die Branche damals ziemlich überrascht, denn Schoen war bis dahin bereits mit mehreren Grimme-Preisen ausgezeichnet worden (etwa für "Das Phantomfieber" oder "Alabama") und galt als einer der Besten seines Fachs. Keine Lust mehr gehabt, Herr Schoen? Die Frage ist so natürlich völlig falsch formuliert. Schoen würde heute noch Dokumentarfilme drehen, wenn sich nicht im Laufe der letzten Jahre einige Dinge grundlegend geändert hätten. In erster Linie kritisiert er den "herrschenden Sensationalismus, da haben leise Beobachtungen leider zu selten ihren Platz; wenn doch, dann erst nach 23 Uhr, und das ist wie nicht gesendet". Nicht minder stört Schoen die "anything goes-Mentalität". Jetzt kommt er richtig in Fahrt: "Wahllosigkeit in der Themenwahl, Beliebigkeit im Handwerk, in der Darstellung, ein sich Hineinsteigern in eine anscheinend erlebnisreiche, in Wahrheit aber künstlich aufgeblähte Präsentation, um Tempo zu machen, um laut zu sein, Quote zu erreichen und letztlich oft genug eine dahinter stehende handwerkliche, inhaltliche Leere zu kompensieren."
So unverblümt gehen in der Regel nicht mal Fernsehkritiker mit dem Genre ins Gericht. Dabei kann das Genre gar nichts dafür: Es sind die Redakteure, die das Verdikt trifft; und die wiederum sind in der Regel nur Handlanger ihrer Programmdirektoren. Trotzdem wehren sie sich gegen Kritik, als ginge es darum, Haus und Hof zu verteidigen. Dabei sind die großen Entwicklungsschwächen des dokumentarischen Fernsehens offensichtlich: Die klassische Form des Dokumentarfilms ist tot; an ihre Stelle tritt immer öfter die Doku-Soap. Kritischer Regionalismus war gestern; heute dominieren Heimattümelei, Kochtopfjournalismus, Infotainment und Boulevardisierung. Eine eigene Handschrift der Autoren gilt als verpönt. Gewünscht werden Windschnittigkeit und "Mainstream": bloß nicht auffallen oder anecken. Stolpersteine im Programmfluss werden nach dem Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung platziert: Sie werden solange an den Rand gedrängt, bis sie garantiert keine Quote mehr machen; dann werden sie abgesetzt.
Diese Entwicklung gilt nicht nur für die "Privaten", deren Anspruch von vornherein kommerziell war, sondern auch für das "Erste" der ARD, fürs ZDF sowie für die dritten Programme. Gerade erstes und zweites Programm sind, von den politischen Informationsmagazinen mal abgesehen, mehr und mehr auf Quoten ausgerichtet. Das ist zunächst einmal verständlich: Schließlich kann man den Gebührenzahlern nicht nur ein Minderheitenprogramm anbieten. Inakzeptabel wird diese Programmpolitik, wenn sie nur noch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner schielt. Und sie wird fatal enden, wenn es keinen Ausgleich mehr gibt.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt: Alles, was Quoten bringt, darf ins "Erste" und ins "Zweite". Alles, was Sparten- und Randgruppenfernsehen ist (Kinder, Bildung, Kultur): ab zu Kika, BR alpha, Phoenix, 3sat und Arte. Ein Ausgleich für das eindeutig am Markt ausgerichtete Programm der ARD wären die Dritten, doch auch sie erfüllen diese komplementäre Funktion nicht mehr, weil sie schon vor geraumer Zeit zu Vollprogrammen umgestaltet wurden. Vorbild für alle anderen ist der MDR, der mit einer Mischung aus Ostalgie, Heimatverbundenheit und volkstümlicher Unterhaltung das erfolgreichste aller dritten Programme stellt. Die anderen "Dritten" sind mit ihrem Fernsehen aus dem Windkanal auf dem besten Weg dorthin: Alles, was irgendwie jung und "hip" wirken könnte, wird konsequent aus der Hauptsendezeit vertrieben, und zwar thematisch wie formal.
Dies ist Teil einer direkten (wenn auch langfristigen) Selbstabschaffung des öffentlich-rechtlichen Systems. "Erstes", "Zweites" und die dritten Programme sind auf dem besten Weg, reine Unterhaltungsdampfer zu werden. Intendanten und Programmdirektoren schaufeln sich und ihren Sendern so das eigene Grab, denn die Entwicklung betrifft ja auch andere Fernsehformen, zum Beispiel den Fernsehfilm. Auch in diesem Genre ist Hartmut Schoen ein gebranntes Kind: Sein Film "Zuckerbrot", soeben mit einem Adolf Grimme Preis ausgezeichnet, sollte in der ARD um 20.15 Uhr laufen. Der Film wurde ein paar Mal verschoben und landete schließlich auf einem Sendeplatz um 23.00 Uhr. "Zuckerbrot" ist eine kunstvolle, leicht sperrige Romanze, die es um 20.15 Uhr vermutlich nicht leicht gehabt hätte. Schoen räumt ein, dass ein Programmplaner wahrscheinlich andere Vorstellungen vom Abendprogramm habe als er: "Er will seinen Programmablauf ohne statistische oder inhaltliche Irritationen gestalten; er möchte, dass nichts die Sehgewohnheiten durcheinander bringt oder die Zuschauer vergrätzt." "Zuckerbrot" hingegen mutet dem Publikum am Anfang eine elliptische Erzählweise zu und beginnt mit mehreren Handlungssträngen: "Das ist heutzutage aus programmplanerischer Sicht in der Tat schon sehr risikobehaftet."
An einem Autor gehen solche Erfahrungen natürlich nicht spurlos vorüber. Schoen erinnert sich an die Aussage eines Redakteurs: "Du kannst einen Krimi um 20.15 Uhr nicht mit alten Leuten beginnen, das funktioniert nicht." Solche Sätze bleiben natürlich ebenso wenig ohne Einfluss wie Gerüchte über das Feudalverhalten mancher Redakteure. Ein Grimme-Preis, die renommierteste Auszeichnung für Fernsehschaffende, ist da womöglich die falsche Referenz: weil sie unwillkürlich mit dem Stigma "Fernsehkunst" assoziiert wird. Tatsächlich hat ein ARD-Fernsehdirektor schon vor gut zehn Jahren prognostiziert, es werde die Zeit kommen, da ein Adolf Grimme Preis eher ein Hemmschuh sein werde. Deshalb ist Schoen froh und dankbar, dass er 53 ist und seine Vorstellung vom Filmemachen über 20 Jahre lang mehr oder weniger konsequent umsetzen konnte, denn "wenn die Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens so weiter geht, wird es früher oder später für Autoren und Regisseure wie mich keinen Platz mehr geben". Aus Schoens eigener Entscheidung heraus, aber auch, weil Filme, wie er sie mache, nicht mehr gewollt werden: "mit Psychologie, Handschrift, Logik und Überraschungsmomenten". In der Tat: Was heute um 20.15 Uhr gefragt ist, sieht oft genug anders aus.
Schoen sieht dabei nicht nur das Handwerk in Gefahr, sondern auch das Medium insgesamt: "Wer will schon unentwegt diese Stromlinienware sehen, diese Vorhersehbarkeiten im Erzählerischen, diese einfach gestrickten Profile?" Kurzfristig mögen die Sender damit Erfolge erzielen, doch langfristig werde sich nicht nur das junge Publikum vom Medium abwenden.
Diese Übersüßung des Programms, ist sich Schoen sicher, werde das Publikum auf Dauer nicht akzeptieren. Die Programmverantwortlichen unterschätzen seiner Meinung nach, "wie klug die Menschen wirklich sind. Wenn sie sich auf Dauer vom Medium Fernsehen nicht gespiegelt fühlen, wenn sie sich darin nicht mehr wieder finden, werden sie den Apparat in den Keller stellen". Tilmann P. Gangloff