Erfolg, Misserfolg und Ende der DDR-Spionage
Der Buchtitel ist der Position von Ernst Wollweber, Amtsvorgänger Erich Mielkes als Staatssicherheitsminister, 1955/56 über den Vorrang der "Westarbeit" im MfS entnommen. Zwar wurde diese Position schon 1957 auf Veranlassung Ulbrichts zugunsten einer Aufwertung der inneren Repression verlassen, die "Westarbeit", vor allem Spionage und Spionageabwehr, blieb aber - nicht zuletzt eng verknüpft mit der Bekämpfung der Opposition in der DDR - ein zentrales Tätigkeitsfeld der "Staatssicherheit". Hauptgegner war die Bundesrepublik Deutschland, und dieser Schwerpunkt ist Gegenstand des vorliegenden Sammelbandes mit 21 überarbeiteten Referaten in einer Tagung der Abteilung Bildung und Forschung der "Gauck-Behörde" im November 2001.
Nach der Lektüre erscheint der Ruhm der MfS-Spionage erheblich angekratzt. Manfred Görtemaker stellt in seinem Beitrag über den deutschland- und ost-west-politischen Hintergrund die innerdeutsche "Normalisierung" nach dem Grundlagenvertrag heraus, die angesichts der Verstärkung der Westarbeit des Mielke-Apparats gegen die Bundesrepublik und generell seines Ausbaus in der Entspannungsphase ab Mitte der 70er-Jahre eher skeptisch zu bewerten ist.
Die von Thomas Auerbach beschriebenen Sabotage- und Terrorstrategien sowie ihre Planungen gerade in der Spätphase der DDR können diese Skepsis nur bestärken. Wohl gab es, vor allem im ersten Jahrzehnt der DDR, eine "Strategie der Befreiung", von der Bernd Stöver interessante Details berichtet, aber sie konnte an Opposition und Widerstand überall im sowjetischen Machtbereich anknüpfen, und so sind Gegenmaßnahmen des MfS (Aktion "Blitz") vor allem Teile der Repression des "inneren Feindes" in der DDR.
Zum politischen Hintergrund gehört auch der von Karl-Rudolf Korte geschilderte Regierungsstil von Helmut Kohl ("System Kohl", "personenbezogene Arbeitsweise" des Kanzlers), der es dem MfS unmöglich gemacht habe, die Regierungspolitik zu beeinflussen. Restlos überzeugt das nicht, wenn man etwa an das Mitschneiden der Telefonate Kohls denkt.
Die meisten Beiträge von Referenten der BStU, der Nachrichtendienste der Bundesrepublik und des Bundeskriminalamts befassen sich mit den früheren und heutigen Erkenntnissen über die DDR-Spionage. Ein Schwerpunkt sind die 1998 entschlüsselten SIRA-Daten über die Spionageergebnisse der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) und die "Rosenholz"-Unterlagen (insbesondere Personenkartei der HVA und ihre IM-Statistik), deren Rückführung aus den USA kürzlich abgeschlossen wurden.
Die Enttarnung des Agentennetzes des MfS ist nahezu vollständig gelungen, wobei neue Erkenntnisse infolge Verjährung kaum noch juristische Konsequenzen haben können. Generell ist das Bild im Westen über die DDR-Spionage heute recht präzise und detailliert. Aussagen über Erfolge und Misserfolge der Spionageabwehr gegen das MfS und bei dessen Auflösung stehen nebeneinander, zum Beispiel gelungene Abwehr und zugleich schwerwiegender Verrat durch "Maulwürfe" (Dirk Dörrenberg, Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV; Rainer O. M. Engberding, Bundeskriminalamt), über 150 Informanten aus dem ehemaligen MfS für das BfV und unerschütterliche "Loyalität" anderer MfS-Offiziere gegenüber der Sowjetunion noch heute (Dörrenberg; Joachim Lampe, Generalbundesanwaltschaft).
Die These von Ullrich Wössner (BND), alle in den Westen gereisten DDR-Bürger hätten "zwangsläufig mit dem MfS in Kontakt" gestanden, überzeugt in ihrer Undifferenziertheit nicht; vor allem in der Endzeit der DDR bestand der "Kontakt" in der Regel nur in der Genehmigung der Reise durch das MfS. Und sollten am Ende der DDR wirklich "neun von zehn DDR-Quellen des BND 'auf zwei Schultern getragen'" haben, ist dies ungeachtet freundlicher Worte Wössners an die Adresse dieses Personenkreises noch nachträglich Anlass für Missbehagen.
Eine spannende Lektüre sind die Referate über die MfS-Spionage in Wissenschaft und Technik. Dem MfS gelang die Beschaffung einer Unmenge von Material, die seine Auswertungskapazitäten oft überstieg, und vieler Embargogüter. Aber das System der Planwirtschaft, gepaart mit überzogener Geheimniskrämerei und Misstrauen gegenüber den eigenen Wissenschaftskadern, war ein entscheidendes Hindernis für die effektive Nutzung der Spionageausbeute.
Die Kosten der "Beschaffung" waren immens, und nicht selten wurde "illegal" zu überhöhten Preisen "Embargo"-Ware erworben, die tatsächlich keinem Embargo unterlag und legal weit billiger zu haben war. Zuweilen ist das MfS regelrecht übers Ohr gehauen worden, etwa finanziell von dubiosen Vermittlerfirmen, durch Lieferung manipulierter, also unbrauchbarer Computer, und es kam auch vor, dass Kisten ankamen, die mit Sand anstatt wertvoller Elektronik gefüllt waren (Jörg Roesler; Reinhard Buthmann, BStU; Kristie Macrakis, Michigan State University).
Die erst seit kurzer Zeit zugänglichen Unterlagen (zum Beispiel "Rosenholz") ermöglichen weitere Forschungen über Strukturen und andere Details der DDR-Spionage. Möglich und notwendig, um dem von führenden früheren MfS-Offizieren verbreiteten Nimbus von der friedensfördernden und angeblich sauberen Arbeit der "Kundschafter des Friedens" zu begegnen, sind Forschungen über die Zuarbeit des Spionageapparats für die innere Repression in der DDR, etwa "Zersetzung" Oppositioneller und Jagd auf Fluchtwillige.
Der Sammelband vermittelt dem Leser umfassende und zugleich kompakte Kenntnisse über die komplizierte Materie der "Westarbeit" des MfS und ist daher ein wichtiges Hilfsmittel für die politische Bildung zu diesem Thema!
Geord Herbstritt/Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.)
"Das Gesicht dem Westen zu..." DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland.
Wissenschaftliche Reihe "Analysen und Dokumente" der BStU., Band 23.
Edition Temmern, Bremen 2003; 456 S., 22,90 Euro