Nach dem EU-Beitritt: Ein gewaltiger Nachholbedarf an Know-how
Die ersten Eindrücke während ihres Praktikums in der Brüsseler EU-Zentrale schienen Anna Zielinskas dunkle Vorahnungen nur zu bestätigen: Tausende von Seiten Verwaltungsvorschriften, ebenso viele Experten und eine weltfremde Bürokratie. Das könne doch in der Wirklichkeit nicht funktionieren, dachte sich die 29-jährige Angestellte der Verwaltung der westpolnischen Region Wielkopolska. Trotzdem entschloss sich Zielinska, die an der Universität Poznan (Posen) zuvor Politikwissenschaften studiert hatte, für ein zweites Praktikum in Brüssel. Und dabei erwarb sie auch positive Erfahrungen. Es gelang ihr, Kontakte mit Angehörigen der Europäischen Kommission und den Vertretungen deutscher Bundesländer aufzubauen, dann verschaffte sie sich Einblicke in das Europa der Regionen, schließlich machte sie sich mit der Strukturpolitik vertraut. Vor allem in den vernachlässigten Regionen könnten die Strukturbeihilfen das Zusammenwachsen Europas beschleunigen, resümiert Anna Zielinska, die Wielkopolska mit ihren neu erworbenen Kenntnissen und einer kräftigen Portion Zuversicht über alle Grenzen hinweg mit anderen Regionen vernetzt.
Als Angestellte des Posener Marschallamtes, wie die regionale Verwaltungsbehörde heißt, half Zielinska mit, ihre Heimatregion, die fast so groß ist wie Nordrhein-Westfalen, auf den Beitritt Polens zur Europäischen Union im Mai 2004 vorzubereiten. Für Wielkopolska, von Berlin und Warschau aus jeweils in drei Bahnstunden erreichbar, steht einiges auf dem Spiel: Von den rund 11,4 Milliarden Euro, die Polen in den ersten drei Jahren nach dem Beitritt aus dem EU-Strukturfonds erhalten soll, sollen 191 Millionen Euro der westpolnischen Region zugute kommen.
Nun ist das Land um die 600.000 Einwohner zählende Messestadt Posen zwar eine von Polens Wachstumsregionen, die bei Auslandinvestoren einen guten Ruf haben. Doch die verkümmerte Infrastruktur muss zuerst allmählich auf das in der EU übliche Niveau gehoben werden. Dass Förderanträge korrekt ausgefüllt und geltende EU-Normen eingehalten werden, ist Aufgabe von Anna Zielinska und ihren Kollegen, die sich dafür in Brüssel und in der Partnerregion Hessen vorbereitet haben. Unterstützt wurden sie während der Zeit ihres Praktikums von der gemeinnützigen Hertie-Stiftung in Frankfurt am Main. Diese stellt für das Projekt, das rund 30 jüngeren Bediensteten der Posener Regionalbehörden Praktika ermöglicht, 160.000 Euro zur Verfügung.
Nach dem Willen der Stiftung, die sich auf diese Weise einen "bürgernahen" Beitrag zur europäischen Integration erhofft, sollen die Praktikanten dereinst den harten Kern einer funktionstüchtigen Regionalverwaltung bilden. Wie weit entfernt Wielkopolska von diesem Ideal noch ist, bekräftigt Stefan Mikolajczak, der als aus Wahlen hervorgegangener Marschall (Leiter der regionalen Selbstverwaltung) ein Gegengewicht zum Woiwoden bildet. Der von oben ernannte Woiwode vertritt als verlängerter Arm Warschaus die zentralstaatliche Verwaltung, die in Polen auch nach der 1999 erfolgten Verwaltungsreform noch zahlreiche Aufgaben in den Regionen wahrnimmt. Er residiert in einem Nachkriegszweckbau, in dem auch dem Marschall und seinen Mitarbeitern sozusagen als Untermietern Räume zugewiesen wurden.
Polens Regionen, deren Zahl bei der territorialen Neugliederung des Landes auf Grund des Wunsches der EU nach weniger, aber größeren Einheiten von 49 auf 16 reduziert worden war, sind etwas künstliche Gebilde, auf dem Reißbrett entstanden. Die Regionalisierung sei ein zäher Vorgang, erläutert der Marschall. Nach wie vor behindere die Konzentration der Staatsmacht auf Warschau die regionale Entwicklung, und immer noch werde um die klare Abgrenzung von Zuständigkeiten gestritten. Fordere man für die eigenen Aufgaben die nötigen Finanzmittel, dann klopfe einem Warschau freundschaftlich auf die Schultern und sage lediglich: "Das kriegt ihr schon selber hin", meint der Marschall verärgert.
Tatsächlich herrscht in Polens Staatskasse gähnende Leere, es bleibt in den Regionen nur die Hoffnung auf gemeinschaftliche Strukturmittel. Mit Geld allein ist es aber noch nicht getan, es muss in den Zuständigkeitsbereichen der Region, darunter Gesundheitswesen, Bildung, Umweltschutz und Wirtschaftsförderung, auch sinnvoll eingesetzt werden.
Einblicke in eine funktionierende Regionalverwaltung verschaffen sich die Posener Hospitanten in der Wiesbadener Staatskanzlei und dann in der Brüsseler Landesvertretung. Dort werden sie in Teams einbezogen und je nach Interessengebiet individuell betreut. Diesen Weg beschritt auch die 37-jährige Beata Joanna Lozinska, die nach dem Abschluss ihres Kunstgeschichtsstudiums die Beamtenlaufbahn wählte. "Seit Mitte der 90er-Jahre spürten wir, dass sich Polen endlich öffnet", berichtet sie. Allmählich sei der gigantische Nachholbedarf an Verwaltungs-Know-how deutlich geworden. Lozinska näherte sich dem Brüsseler EU-Räderwerk, indem sie sich in das Internet-Angebot der Kommission einarbeiten ließ und ihre Posener Mitarbeiter anschließend auf diesem Gebiet schulte. Ihre anfängliche Euphorie über das von unten entstehende Europa der Regionen erhielt nach einigen Besuchen im Ausschuss der Regionen empfindliche Dämpfer: Dieser Ausschuss berät, wirkliche Macht besitzt er aber nicht, musste sie erkennen; ihr ausgeprägtes Selbstvertrauen ist daran jedoch nicht zerbrochen.
Inzwischen muss sie sich mit Anna Zielinska, Przemek Bialczyk und Radoslaw Krawczykowski wieder den Herausforderungen des Posener Behördenalltags stellen. In Wiesbaden und Brüssel gebe es für jedes Sachgebiet einen Experten, der nur dafür zuständig sei, dort herrschten ganz andere Bedingungen, erinnert sich der Germanist und Sprachwissenschafter Bialczyk. Da die polnischen Regionalbehörden erst im Aufbau begriffen seien, müsse jeder qualifizierte Mitarbeiter wohl oder übel sämtliche Themengebiete behandeln, fügt er hinzu.
Im siebten Stock eines Verwaltungsblocks an der Posener Bäckerstraße teilen sich die ehemaligen Praktikanten einen bescheidenen Raum, in dem gleichzeitig alles bewältigt werden soll: Die wenigen Bediensteten müssen pausenlos Anfragen beantworten, neue Bestimmungen formulieren und sich selbst weiterbilden: Polnische Verwaltungsbeamte der Übergangsphase haben nicht eben beneidenswerte Arbeitsbedingungen. Unter diesen widrigen Umständen lässt sich nur schwer ein Konzept für die Behördenarbeit entwickeln. Und bisweilen kommt es vor, dass zurückgekehrte Praktikanten bei ihren Initiativen gebremst werden. Allerdings dürfte kein Vorsatz dahinter stecken, glaubt Zielinska.
Zwar herrscht am renommierten Hochschulstandort Posen durchaus kein Mangel an geeigneten Universitätsabgängern; stärker als die Aussicht auf eine Beamtenlaufbahn wirkt jedoch der Lockruf des Geldes: Während Zielinska und Mitarbeiter mit höherer Qualifikation Monatsgehälter in Höhe von umgerechnet 500 Euro erhalten, bietet die Privatwirtschaft bis zu viermal so viel an. Allerdings mit einem Haken, wie der Politikwissenschafter Krawczykowski versichert: Überraschende Kündigungen gehörten in der Privatwirtschaft zum Alltagsleben. Dagegen garantiere die Behörde bei geringeren Löhnen Stabilität, da könne man die Zukunft besser planen. Aller Voraussicht nach wird das Posener Marschallamt auch künftig mit einer dünnen Personaldecke über die Runden kommen müssen. Und weil qualifizierte Mitarbeiter fehlen, wird die Freistellung geeigneter Praktikanten, die nach Wiesbaden und Brüssel dürfen, zum mühsamen Tauziehen mit den Vorgesetzten. Denn diese klagen darüber, dass man ihnen dringend benötigte Arbeitskräfte entziehe.
Fachkräftemangel herrscht auch am regionalen Zentrum für Sozial- und Fürsorgepolitik, wo die 27-jährige Izabela Fabis angestellt ist. Trotz dieser Probleme ist es der dynamischen Psychologin gelungen, sich für ein sechswöchiges Praktikum in Hessen freistellen zu lassen. Sie wolle schließlich wissen, wie Wohlfahrtsverbände in Deutschland wirken, um dann zu prüfen, ob sie die gewonnenen Erfahrungen auch in ihre tägliche Arbeit einbringen könne, erläutert sie selbstbewusst. Ihr noch ungebrochener Optimismus wirkt außerordentlich ansteckend.