Wie die jungen Tschechen mit der deutschen Vergangenheit umgehen
Ein Unternehmer hat immer zu tun. Das gilt um so mehr für einen Geschäftsmann der ersten Stunde wie Zdenek Mateiciuc. Kurz nach dem Ende des Kommunismus gründete er mit seinem Bruder eine Fabrik für Gummi- und Plastikverarbeitung. Heute hat die Firma Mateiciuc fast 100 Angestellte. Ein Unternehmen durch die schwierige Zeit der tschechischen Nachwendejahre zu bringen, erfordert täglich vollen Einsatz. Dennoch fand Zdenek Mateiciuc genügend Energie, sich zusätzlich einer weiteren Aufgabe zu widmen: Der Aufarbeitung "blinder Flecken" in der neueren Geschichte seines Städtchens Odrau.
Das Städtchen erhielt seinen alten deutschen Namen nach der Oder, an dessen Oberlauf es liegt. Unmittelbar nach Kriegsende wurden die in der Gegend seit Jahrhunderten siedelnden Deutschen einem entwürdigenden, oft brutalen Regime unterworfen, mittels der "Beneš-Dekrete" enteignet und schließlich, im Frühjahr 1946, in Güterwagons verfrachtet und nach Deutschland transportiert. Ähnlich wie in vielen anderen Regionen der böhmischen Länder, kam es auch hier innerhalb von wenigen Monaten zu einer fast vollständigen Bevölkerungsumsiedlung- und Neuansiedlung. Alles, was an die früheren deutschen Bewohner erinnerte, wurde ausgemerzt. Die meisten tschechischen Neusiedler wussten nichts von der Vergangenheit der Gegend, die nun unter der Orts- bezeichnung Odry ihr neues Zuhause werden sollte.
Mateiciuc, erst kurz nach dem Krieg 1946 geboren und zudem Sohn eines tschechischen Neusiedlers, bräuchte sich nicht um die Vergangenheit kümmern. Er könnte sich leicht auf den Standpunkt stellen, dass er mit den Ereignissen, die sich zur Zeit seiner Geburt abspielten, nichts zu tun habe. Oder, dass die Vertreibung sowieso eine gerechte Strafe für den Besatzungsterror der Nazis gewesen sei - womit er sich mit einem Teil seiner Mitbürger durchaus einig wäre.
Dass sich viele Sudetendeutsche dazu hinreißen ließen, der Deutschen Wehrmacht zuzujubeln, als diese im Herbst 1938 in die Tschechoslowakei einmarschierte, rechtfertigt für Mateiciuc dennoch nicht die späteren Vertreibungen der Deutschen: "Viele von ihnen haben es sehr schnell bereut. Und wenn ich an die vielen Tschechen denke, die die kommunistische Diktatur befürwortet haben. Nach 1989 wurden sie dafür auch nicht aus ihrer Heimat verjagt."
Schon in seiner Jugend fielen ihm die deutschen Ladeninschriften auf, die trotz mehrfacher Nachkriegsübertünchung immer wieder durchschimmerten oder die immer noch zahlreichen deutschen Grabsteine auf dem Friedhof. Die Frage, was es für Menschen waren, die einst in diesem Ort wohnten, ging ihm früh durch den Kopf. "Außerdem hatte ich Freunde, die eine deutsche Mutter oder einen deutschen Vater hatten, die wegen des tschechischen Elternteils aber nicht in den Transport nach Deutschland mussten. Wenn ich sie zu Hause besuchte, sah ich bei ihnen Tassen, Teller und Geschirrtücher mit deutschen Sinnsprüchen darauf." Jedes tschechische Kind, das in der Nachkriegszeit in den ehemals deutsch besiedelten Gebieten aufwuchs, kannte den Satz: "To máme po Nemcích" - "Das haben wir von den Deutschen". Das konnte alles mögliche sein: Küchengeschirr, Betten, ein Fahrrad, der Kinderschlitten, kurzum das komplette Inventar eines Hauses. Denn alles bis auf 30 Kilo mussten die Deutschen zurücklassen.
Die zurückgebliebenen Sachen, die man bis heute findet, machen Geschichte lebendig und wirken in die Gegenwart. Vor allem die junge tschechische Akademikergeneration öffnet sich in ihren Arbeiten der tabuisierten Vergangenheit, wie zum Beispiel Jan Cibulka, Student der Politischen Wissenschaften an der Universität Olmütz. Vor einiger Zeit verfasste er eine gut recherchierte, viel beachtete Studie über die Repression gegen die deutsche Bevölkerung in seiner Region. Gefragt nach seiner Motivation, antwortete er, dass es eigentlich die Wanduhr gewesen sei, die seit vielen Jahren im Haus seiner Eltern hängt und von der es immer hieß, man habe sie "von den Deutschen". Der tägliche Blick auf die Uhr habe bewirkt, dass er irgendwann anfing, sich für diese Menschen und die dramatischen Umstände ihres Verschwindens zu interessieren.
Viele Jahrzehnte waren die vertriebenen Sudetendeutschen in Tschechien mit Nichtbeachtung oder mit dem Stigma der ewigen Revanchisten belegt. Auch die wenigen im Lande verbliebenen deutschen Bürger wurden diskriminiert, eingeschüchtert und angehalten, ihre Identität zu verbergen. "So als ob es sie bei uns nie gegeben hätte", sagt die Prager Journalistin und Germanistin Martina Schneibergová. In der Vorwendezeit, in der sie ihr Germanistikstudium absolvierte, war es ein Tabu, sich mit den Deutschen der böhmischen Länder und deren Kultur zu beschäftigen, obwohl sie bis 1945 fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und wirtschaftlich, kulturell und politisch eine sehr wichtige Rolle spielten.
Längst haben aber auch die tschechischen Germanisten entdeckt, dass es in ihrem Land nicht nur die Prager deutsche Literatur gab, mit der so berühmte Namen wie Franz Kafka, Franz Werfel, Max Brod oder Rainer Maria Rilke in Verbindung gebracht werden. Die Palacký-Universität in der alten nordmährischen Stadt Olomouc/Olmütz hat sich mit ihrem "Zentrum zur Erforschung deutschsprachiger mährischer Autoren" zum Vorreiter dieser Rückbesinnung gemacht. Dabei ging es nicht nur darum, die mährische Verwurzelung etwa einer so bedeutenden Schriftstellerin wie Marie von Ebner-Eschenbach bewusst zu machen. Auch weniger bekannte wurden dem Vergessen entrissen. Die Tätigkeit der Olmützer Abteilung stößt nicht immer auf Gegenliebe. "Es gab sogar einen Brief, in dem wir beschuldigt wurden, tschechischen nationalen Interessen untreu zu sein", sagt die Leiterin, die Germanistikprofessorin Ingeborg Fialová-Fürst.
Aber auch Volkskunst kann helfen, Wunden zu heilen. Auf beiden Seiten. Das gilt insbesondere für die Musik- und Tanzgruppe Stázka aus dem westböhmischen Teplá/Tepl, die bewusst mit dem Volksmusikmaterial der aus dieser Region verschwundenen Deutschen arbeitet, manchmal unter Verwendung des schon fast ausgestorbenen deutschen Dialekts, häufiger noch mit eigenen, tschechischen Texten und neuen Stilelementen. Unzählige Projekte, die aus der engen Zusammenarbeit von Vertriebenenvereinen und von Bürgern und Gruppen in Tschechien entstanden sind, haben die Menschen näher gebracht. Vom Erfolg dieser "Volksdiplomatie" zeugen restaurierte Kirchen, historische Gebäude, Friedhöfe, Gedenksteine zum Nutzen der teils durch das Verschwinden der ursprünglichen Bevölkerung immer noch geschädigten Landschaften.
Dennoch wäre es übertrieben, schon von einem gesellschaftlichen Trend zu sprechen. Noch ist es vor Wahlen in Tschechien gang und gäbe, mit antisudetendeutschen Ressentiments auf Stimmenfang zu gehen. Andererseits steht das heute ethnisch fast "reine" Tschechien vor dem Dilemma, auf die Geschichte eines einst binationalen Landes zurückzublicken. Vom sensibleren und geschichtsbewussten Teil der tschechischen Gesellschaft wird das inzwischen als eine Chance verstanden, sich mit einem vielschichtigen kulturellen Erbe auseinander zu setzen, es zu pflegen und sich von ihm bereichern zu lassen. Dabei geht es nicht nur um Wanduhren, alte Fotos oder Kinderschlitten, sondern um das Überdenken des eigenen tschechischen Selbstverständnisses, das sich über Generationen hinweg ethnisch, ja geradezu spiegelbildlich nach deutschem Muster des späten 19. Jahrhunderts völkisch definierte und die komplizierte und eigentliche Verwobenheit beider Gruppen ignorierte. Im Grunde stehen die Tschechen vor der nicht einfachen, aber kreativen Aufgabe, sich neu zu erfinden. Oder in der früher gängigen Haltung zu verharren, die so tat, als hätte es die Deutschen in ihrem Land nie gegeben.