Interview mit Gottfried Wagner, Generalsekretär der ECF - European Cultural Foundation
Das Parlament: Herr Wagner, wie ist die Ausgangslage für eine europäische Kulturpolitik? Haben sich die Deutschen und andere Staaten gut auf die Zeit nach der EU-Erweiterung vorbereitet?
Gottfried Wagner: Ja und Nein. Ja, weil es im Verfassungsentwurf mehr Grundlagen für eine europäische Kulturpolitik gibt als je zuvor; es gibt die Präambel und die Mehrheitsentscheidungen im Rat. Das heißt, es kann schneller und flexibler entschieden werden. Nein, weil die Mitgliedsstaaten die Kulturpolitik nach wie vor zu einem Residuum des Nationalstaates gemacht haben. Nein auch, weil die großen europäischen Institutionen immer noch sehr schwach sind.
Das Parlament: Was wird sich denn durch die Erweiterung tatsächlich ändern?
Gottfried Wagner: Das Potential an überschäumender Kreativität in den Beitrittsländern ist außerordentlich hoch. Dadurch wird eine Dynamik entstehen, die uns sehr überraschen wird, positiv überraschen. Gleichzeitig wird es eine scharfe Debatte geben über die Ungleichheit in Europa - und es werden Künstler, Intellektuelle und Kulturleute sein, die diese Debatte führen.
Das Parlament: Bislang hat sich die Kulturpolitik der EU an einem sehr breiten Kulturbegriff orientiert, der sowohl Fragen der Menschenrechte und Grundrechte-charta wie auch einzelne Aspekte der Sprachen, Bildungs- und Minderheitenpolitik beinhaltet. Wird dies auch in Zukunft so bleiben, ist dies praktikabel?
Gottfried Wagner: Kurz gesagt: ja, weil es in den nächsten Jahren darum gehen wird, europäische Bürgerschaft zu konstituieren. Und das ist ein riesiges kulturelles Projekt. Das kulturelle Europa wird nicht in erster Linie über Kunstförderung im klassischen Sinne entstehen, sondern über die Schaffung von Rahmenbedingungen für die europäische Zivilgesellschaft. Wir brauchen also weiterhin einen breiten Kulturbegriff.
Das Parlament: Welches sind die wichtigsten Hindernisse für Künstler, die länderübergreifend zusammenarbeiten wollen?
Gottfried Wagner: Die größte Mühe machen bei europäischen Projekten noch immer die arbeits-, sozial- und steuerrechtlichen Unterschiede. Und abgesehen davon, versuchen Sie heute mal, für Künstler aus einem Nicht-Schengen-Staat ein Visum zu bekommen.
Das Parlament: Was erwarten sich Kulturpolitiker in den Beitrittsländern von der EU-Erweiterung?
Gottfried Wagner: Ich glaube, dass sich die meisten Kulturpolitiker in den neuen Ländern Offenheit erwarten, Interesse, echte partnerschaftliche Kontakte und Austausch. Und bis zu einem gewissen Grad auch Unterstützung. Kulturpolitik steht auf der Agenda der EU-Themen in den Beitrittsländern - wie auch bei uns - leider nicht besonders weit oben. Mancherorts besteht auch auf dem Feld der Kulturpolitik die Gefahr einer Renationalisierung.
Das Parlament: Welches sind die Themen, die man Kulturpolitikern, die Europa auf Ihre Fahnen schreiben, Ihrer Meinung nach explizit nicht anvertrauen sollte?
Gottfried Wagner: Wenn sich die EU anmaßen würde, über das Wahre, Gute und Schöne zu entscheiden oder Subventionsentscheidungen träfe, die man besser in der Stadt, im Dorf, in der Region, im Land trifft; wenn Kunst und Kultur missbraucht würden, um in einer ganz direkten Art und Weise eine europäische Identität zu stiften, so wie man im 19. Jahrhundert die Nationalstaaten über Schule, Militär und Kunst gestiftet hat.
Das Parlament: Worin sehen Sie die Konstanten in den kulturellen Politiken europäischer Länder? Gibt es Themen, die überall eine wichtige Rolle spielen - abgesehen von der Klage über zu wenig Geld?
Gottfried Wagner: Die Frage nach der "kulturellen Ungleichheit" innerhalb der einzelnen Staaten ist fast überall ein Thema: Wir haben heute ein enormes Gefälle zwischen Zentren und Peripherien.
Die kulturellen und künstlerischen Standards, die Szenen innerhalb der metropolitanen, urbanen Korridore quer durch Europa hindurch ähneln sich sehr. Ob Sie in Stockholm, Wien, Paris oder Warschau sind, macht künstlerisch und in punkto Kulturleben keinen so besonderen Unterschied mehr aus.
Statt dessen gibt es ein enormes Gefälle zwischen diesen Zentren und ihrem jeweiligen "Hinterland". Diese Tatsache stellt kulturpolitisch und identitätspolitisch eine große Herausforderung für Europa dar.
Das Interview führte Ulrike Gropp.