Drogen beim Militär
Die Streitkräfte Großbritanniens gelten als sehr traditionsbewusst - und jeder Bruch mit den Traditionen kommt auf der Insel einer kleinen Revolution gleich. So geschehen im Jahr 1970, als eine über 200 Jahre alte Tradition in der britischen Marine beendet wurde: das Ausschenken einer täglichen Ration Grog an die Seeleute. Bis dahin war das so genannte Fünf-Uhr-Fass Teil des Soldes gewesen, auf den die Schiffsbesatzungen Anspruch hatten. Der liebgewonne hochprozentige Brauch geht auf das Jahr 1740 zurück. Der englische Admiral Edward Vernon erließ jene folgenreiche Order, die schnell in der gesamten Flotte Einzug hielt: die bislang auf den Kriegsschiffen ihrer Majestät täglich ausgeschenkte Ration Rum wurde ab sofort mit heißem Wasser und Zitronensaft verdünnt - der Grog war geboren. Seinen Namen verdankt das alkoholische Gesöff ebenfalls seinem Erfinder. Der Admiral trug wegen seines alten Bootsmantels aus dickem Kamelhaar, eines Grogram, den Spitznamen "Old Grog".
Immerhin schaffte es Edward Vernon mit seiner Erfindung, gleich zwei Probleme auf den Schiffen der Royal Navy zumindest einzudämmen. Der Grog galt zum einen als Waffe gegen den Skorbut - einer schrecklichen Krankheit, die besonders unter Seeleuten wegen des wochenlangen Mangels an frischer Nahrung und fehlender Vitamine häufig auftrat. Das andere Problem, das der Admiral in den Griff bekommen wollte, war der übermäßige Genuss von Alkohol auf den Kriegsschiffen des Empire. Alkohol wurde ganz offiziell an die Besatzungen schon rund 100 Jahre länger ausgeschenkt - vorzugsweise Rum, ersatzweise aber auch Bier oder Wein. Ein halbes Pint Rum, ein guter viertel Liter, floss jeden Mittag durch die durstigen Kehlen der Seeleute.
Der hochprozentige Zuckerrohrschnaps aus den Insel-Kolonien der Karibik, wegen seiner Stärke und Wirkung auch "Killdevil" genannt, erfüllte die Funktion eines motivierenden Dopingmittels: er stellte oft den einzigen Höhepunkt im eintönigen Dienstalltag der Besatzungen dar, die wochenlang auf hoher See verbrachten, und hielt sie bei Laune. Aber auch als enthemmendes Stimulanzmittel bei anstehenden Seeschlachten oder als Schmerzmittel bei Verwundungen wurde Rum ausgeschenkt.
Admiral Vernon hoffte wohl, die nicht ausbleibenden Alkoholexzesse an Bord der Schiffe durch das Verdünnen des Rums mit Wasser und das Aufteilen der täglichen Ration auf zwei, zu mindern. Die tägliche Dosis Alkohol ganz zu streichen, hätte sich kein Kapitän gewagt. Dies wurde nur zur Disziplinierung von Seeleuten verordnet und galt neben dem Auspeitschen als eine der härtesten Strafen. Umgekehrt wurden die Besatzungen mit Sonderrationen für militärische Erfolge belohnt.
Welch hohen Stellenwert der Rum als Seefahrergetränk dieser Zeit einnnahm, mag folgende Geschichte verdeutlichen: Admiral Horatio Nelson, der die englische Flotte 1805 bei Trafalgar zum Sieg führte, dabei aber selbst fiel, hatte sich gewünscht, im Falle seines Todes in einem Rum-Fass eingelegt und nach England überführt zu werden. Die Rum-Vorräte waren bei seinem Tod allerdings aufgebraucht, und der Seeheld wurde in spanischen Branntwein gelagert.
Solche Geschichten mögen aus heutiger Sicht zum Schmunzeln anregen. Doch dahinter verbirgt sich in Wirklichkeit ein gerne verschwiegenes und ernsthaftes Problem - der Gebrauch von Drogen oder bewusstseinsverändernder Substanzen im Krieg. Eine der größten Unsicherheitsfaktoren auf dem Schlachtfeld, das hatte schon der preußische Militär Carl von Clausewitz erkannt, stellt der Soldat selbst dar. In Gefechten leidet er unter Müdigkeit, Hunger und Verletzungen, ist unkonzentriert oder unmotiviert. Daran hat sich bis heute nichts geändert; im Gegenteil. Gerade durch den Einzug modernster Technik werden Soldaten eher höhere Leistungen abverlangt als in der Vergangenheit. Einen Teil dieser militärischen Defizite lassen sich bis zu einem gewissen Grad durch harte Ausbildung und Drill minimieren, völlig abstellen lassen sie sich jedoch nicht.
Die Armeen aller Epochen verfielen und verfallen deshalb bis heute gerne der Versuchung, die Leistungsfähigkeit ihrer Soldaten auf künstlichem Wege zu steigern - mit unterschiedlichem Erfolg und teilweise verheerenden Folgen. Der Einsatz von Alkohol und anderen Drogen zum Abbau von Hemmungen in Gefechten ist nur ein Beispiel. In den Bürgerkriegsregionen Afrikas etwa werden hundertausende von minderjährigen Kindersoldaten durch Drogen und Alkohol zu enthemmten Kampfmaschinen deformiert und verheizt. Mit diesem Argument beantwortete Bundesverteidigungsminister Peter Struck im Sommer 1993 die Frage, warum er die Beteiligung deutscher Kampftruppen am EU-Friedenseinsatz im vom Bürgerkrieg zerrütteten Kongo ablehnt: "Wir haben es mit von Drogen bestimmten Kindersoldaten zu tun, die überhaupt keinen Respekt mehr vor dem menschlichen Leben kennen, und ich möchte nicht, dass unsere Soldaten auf Kindersoldaten zur Selbstverteidigung schießen müssen."
Doch auch in "zivilisierten" Armeen wird auf bedenkliche Substanzen zurückgegriffen, wenn es in den Kampf geht. "Das Ausschalten des Schlafbedürfnisses während eines Angriffs würde die Kriegsführung und Planung fundamental verändern", heißt es in einem Bericht der amerikanischen "Defense Advanced Research Projects Agency" (DARPA). Wie solches Wunschdenken in die Realität umgesetzt wird, darauf stieß der BBC-Journalist Jamie Doran, als er der Frage nachging, warum die britische Armee während des Irak-Krieges große Verluste durch so genanntes "friendly fire" seitens ihrer amerikanischen Verbündeten erleiden mussten. Seine Recherchen ergaben, dass den Piloten der US Air Force vor und während ihrer mehrstündigen Einsätze so genannte "go pills" verabreicht wurden, hinter denen sich nichts anderes als aufputschende Amphetamine verstecken. Sie können bei zu hohen Dosen unter anderem zu Euphorie oder Aggressionen führen - am Steuerknüppel eines Kampfflugzeugs eine tödliche Gefahr.
Neu ist der Einsatz von Amphetaminen nicht. Bereits im Zweiten Weltkrieg wurden sie etwa deutschen und britischen Piloten zur Bekämpfung ihrer Müdigkeit verordnet. Der Gebrauch solcher Aufputschmittel würde in der zivilen Luftfahrt übrigens zum sofortigen Verlust der Fluglizenz führen - mit Recht.