Arbeitslosigkeit und soziale Misere provozieren in Frankreich militante Aktionen von Jugendgangs
Die Nacht der Nächte hat ihr ganz eigenes Gesicht. Feuerwehrleute rücken in kurzen Abständen an, um mal hier, mal dort mit ihren Schläuchen in brennende Autos zu zielen, in der Dunkelheit eine seltsame Szenerie, gut für wirkungsvolle Bilder in Zeitungen und Fernsehen. Junge Leute werden bei Polizeikontrollen an den Ein- und Ausfahrten der gewissen Viertel gefilzt. Gendarmentrupps ziehen zur Abschreckung und zwecks Festnahmen durch die Straßen, und wenn sie um eine Häuserecke verschwinden, dann kann schon mal hinter ihnen sofort die nächste Blechkiste in Flammen aufgehen. Manchmal greifen sich die Flics einen Delinquenten. In das Katz- und Mausspiel zwischen Polizisten und Jugendgangs mischen sich Sozialarbeiter und einige Eltern, die ihrerseites Streife laufen, auf Heranwachsende einreden, sie zum Aufhören bewegen wollen.
Seit über einem Jahrzehnt blickt Frankreich am Silvesterabend gebannt auf die "quartiers chauds", die "heißen Viertel", im Elsass auf Neuhof oder Cronenbourg in Straßburg und auf Coteaux oder Bourtzwiller in Mülhausen, auf die "cités sensibles" in Seine-Saint-Denis, Aulnay oder Clichy-sous-Bois im Großraum Paris, auf Lyon, Le Havre und andere Großstädte: Wie viele Autos werden dieses Mal abgefackelt? Nun, Silvester 2004 waren es landesweit über 330 Fahrzeuge, das Elsass nahm mit 60 abgebrannten Wagen wieder eine Spitzenposition ein, allein in Straßburg waren es an die 30. So sehen die Silvesterbilanzen in Frankreich seit Jahren aus. Auch dieses Mal wurden zahlreiche Heranwachsende verhaftet, in der Umgebung von Paris über 100, in Straßburg gut 40. Alles wie gehabt.
Zum Jahreswechsel entlädt sich die explosive soziale Mischung in den von hoher Jugenderwerbslosigkeit heimgesuchten Quartieren besonders knallig, weswegen das Spektakel an Silvester dieses Randale-Phänomen ins mediale Rampenlicht rückt. Indes zünden Jugendgangs das Jahr über in ihren Vierteln Autos an, was sich allerdings nur in Polizeinotizen auf den Seiten der Lokalpresse niederschlägt. Beliebt sind zum Beispiel "Rodeo"-Spiele: Eine Clique klaut eine Kiste mit PS-Power, drückt bei einer Spritztour volle Pulle aufs Gaspedal und zückt zum Schluss das Feuerzeug.
In Europa ist Frankreich das einzige Land, das diese Form des Jugendaufstands mit abgefackelten Autos kennt. Viele wissenschaftliche Analysen wurden schon verfasst, die "quartiers chauds" avancierten zu Themen für Uni-Seminare. Zu den Fachleuten zählt Michel Wieviorka. Der Direktor der französischen Hochschule für Sozialwissenschaften hat am Beispiel von Le Havre, Straßburg und Lyon eine Studie erstellt und ortet in den Attacken der Jugendlichen eine "Antwort auf den Ausschluss von der Konsumgesellschaft". Wut und Zorn nähren sich, so der Soziologe, stets aufs Neue, weil diese Viertel "immer mehr ghettoisiert werden und die soziale Ausgrenzung zunimmt". Wieviorka legt den Finger in die Wunde: Die hinter den Unruhen brodelnden gesellschaftlichen Konflikte sind bis heute nicht gelöst.
Die soziale Deklassierung weiter Bevölkerungskreise ist in den "quartiers sensibles" mit Händen zu greifen. In diesen urbanen Zonen ist die Erwerbslosigkeit überdurchschnittlich hoch, die Wohnbedingungen sind meist schlecht, manche Hochhäuser wirken trostlos, Geschäfte verbarrikadieren sich mit Gittern vor Fenstern und Türen. Bewohner solcher Viertel gelten als stigmatisiert und haben allein schon wegen ihrer Adresse bei der Arbeitsplatzsuche schlechte Karten. Betroffen von dieser Situation sind besonders junge Leute, bereits Schüler wachsen in diesem Klima auf: Oft sind dies Heranwachsende, die in der zweiten und dritten Generation von maghrebinischen Einwanderern abstammen - und in der Regel einen französischen Pass haben, also keine Ausländer sind.
Das Phänomen der Randale mit abgefackelten Autos, zuweilen gehören auch das Demolieren von Bushaltestellen und das Kokeln an Mülleimern dazu, begann in der ersten Hälfte der 90-er Jahre. Seither haben sich die Cliquen zu einer Art Jugendkultur entwickelt, die Scharmützel mit der Polizei haben sich fast zu einem Ritual verselbständigt. Die militanten Aktionen der Jugendlichen muten wie eine Art Selbstaggression an: Angezündet werden meist Fahrzeuge von Mitbewohnern aus den eigenen Vierteln, hingegen kaum Autos in reichen Gegenden - nicht in Neuilly in Paris, nicht in der City von Straßburg. Im wohlhabenden Elsass springen soziale Unruhen als Kontrast zum Puppenstubenimage besonders ins Auge.
Straßburgs konservative Regenten, Bürgermeisterin Fabienne Keller und Stadt-Umland-Präsident Robert Grossmann, verfolgen zur Eindämmung der Jugendrandale seit Jahren einen repressiven Kurs. Die Polizei ist im Alltagsleben stark präsent, auf Straßen und Plätzen sowie in Bussen und Bahnen wurden Überwachungskameras en masse installiert - die nicht nur böse Delinquenten mit Steinschleudern und benzingetränkten Lappen, sondern jedermann ins Visier nehmen. Die Justiz greift schärfer durch. Andere französische Städte, so auch das südelsässische Mülhausen unter dem sozialistischen Maire Jean-Marie Bockel, fahren inzwischen ebenfalls eine harte Linie. Allerdings: Der Erfolg ist bescheiden.
Bizarr mutet an, dass in den "quartiers chauds" Straßburgs und anderer Orte gelegentlich Hochhäuser dem Erdboden gleichgemacht werden, die als heruntergekommen eingestuft werden. Diese Säuberungsmaßnahme ist Teil eines Programms des für Stadtentwicklung zuständigen Ministers Jean-Louis Borloo, der in den nächsten Jahren in den sozial schwierigen Vierteln der Republik zehntausende Wohnungen abreißen lassen will. Doch was nutzt diese Radikalkur, wenn in schönere Behausungen wiederum Leute einziehen, die arbeitslos sind? Und wenn wie eh und je junge Leute die Schulbank drücken, ohne große Chancen auf einen Job für die Zeit danach zu haben? Die Wurzel des Übels ist eben die hohe Erwerbslosigkeit, und die dauert fort.