In keinem anderen islamischen Land leben so viele Juden, wie in der Türkei
Endlich finden in der Neve-Schalom-Synagoge wieder Gottesdienste statt. Ein Jahr lang hat die Gemeinde darauf gewartet, mit wachsender Ungeduld den Tag herbei gesehnt, an dem der Ausnahmezustand ein Ende haben sollte. Nun sind die Mauern verputzt und strahlen in hellem Ocker. Auch die Sicherheit ist jetzt auf dem neuesten Stand. Wer in die Synagoge möchte, der muss zuerst durch eine mit zwei Stahltüren versehene Schleuse, als läge dahinter ein Bunker, der für immer Schutz vor der feindlichen Umwelt verspricht.
Draußen in der Büyük Hendek Caddesi, der Großen Grabenstraße, stehen die Häuser neben der Synagoge immer noch leer, die Türen sind zugenagelt, die Fenster zerbrochen. Die Besitzer finden keine neuen Mieter, was für Istanbul - einer Stadt mit chronischer Wohnungsnot - eine unglaubliche Neuigkeit ist. Die Erinnerung an den 15. November 2003 ist noch zu frisch, an dem Gökhan Elatuntas einen mit Sprengstoff beladenen Laster in der Straße zündete, und sein Komplize Mesut Cabuk einen zweiten Bombenwagen vor der Beth-Israel-Synagoge im benachbarten Stadtteil Sisli in die Luft jagte. Die Attentäter töteten 25 Menschen, vor allem Moslems, nur sechs Opfer waren Juden, auch wenn sie das eigentliche Ziel gewesen sind. Die Bomben sollten sie aus dem Land treiben.
"Wir leben heute in einem Dazwischen", sagt Denise Saporta, Sprecherin der Jüdischen Gemeinde. "Unsere Zukunft ist unsicher geworden". Der Schock sitzt tief. Schon einmal ,1986, hatte es einen Sprengstoffanschlag gegeben, bei dem 22 Menschen starben, aber der ging auf das Konto radikaler Palästinenser. Diesmal kamen die Täter aus dem anatolischen Bingöl. Und so reagierten die Juden Istanbuls fast erleichtert, als nur fünf Tage nach den Anschlägen auf die Synagogen, Islamisten zwei weitere Selbstmordanschläge ausführten, diesmal vor dem britischen Konsulat und der britischen Bank HSBC. Der Terror also galt nicht nur der jüdischen Gemeinschaft. Die Gottesdienste in der Neve-Schalom-Synagoge aber können die latente Angst nicht vertreiben. Der Gemeindevorstand hat deshalb beschlossen, das Blut der Opfer in den Teppichen im Tempel nicht zu entfernen - als Erinnerung an das Geschehene. Auf einer Tafel stehen die Namen aller Ermordeten. Neve Schalom heißt übersetzt Oase des Friedens.
Heute sichern in Istanbul Militärs U-Bahnhöfe und Bus-Terminals, gibt es ständige Polizei-Patrouillen über den belebten Taksim-Platz oder durch das Touristen-Viertel Sultanahmet, ruft Innenminister Abdulkadir Aksu fast jede Woche zur mehr Wachsamkeit auf. Die Menschen in Istanbul aber reagieren gelassen auf die Bedrohung. Seit in den 80er Jahren die Bomben der PKK den Kurden-Krieg in die Stadt gebracht haben, wissen sie, dass es keine absolute Sicherheit gibt. Seit damals stehen auf den Straßen keine Abfalleimer mehr, weil sie für die PKK-Bomben als Versteck dienten.
An der Mauer des Jüdischen Museums in der ehemaligen Zulfaris Synagoge steht auf einer Marmortafel ein Satz Atatürks: "Die Juden werden in der Türkei ihr Glück finden". Gleich daneben warten Polizisten am Eingang. Das Piepen der Sicherheitsschleuse wird von den Rufen der Muezzin zum Abendgebet übertönt. Das Museum existiert seit knapp drei Jahren, in keinem anderen muslimischen Land gibt es ein solches Haus.
Für seinen Gründer Naim Avigdor Güleryüz, 70, ist das Museum ein Symbol für die Verbundenheit der Juden mit der Türkei. Von ihr berichten die Wandtafeln und Schaukästen: Sie erzählen in langen Texten davon, dass der osmanische Sultan Beyazit II. 1492 die aus Spanien vertriebenen Juden in sein Reich einlud, sie feiern das Asyl, das die türkische Republik vielen Juden aus Nazideutschland gewährte, sie zeigen in alten Schwarz-Weiß-Fotografien jüdische Wissenschaftler, Künstler, Sportler und deren Verdienste für ihr Land.
Nach der Auswanderung nach Israel, der Alija, in den 50-er und unter der Militärdiktatur in den 70-er Jahren leben heute noch knapp 22.000 Juden in der Türkei, davon fast 20.000 in Istanbul. Sie sind Ärzte, Händler, Journalisten - und sie suchen eher leise nach ihrem Glück. In einem Land, in dem 99 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, lauten die Regeln: Nicht-Auffallen und Sich-Anpassen. Zwar hat nach den Anschlägen Ministerpräsident Erdogan den Juden seine Solidarität erklärt, aber stärker als früher werden die türkischen Juden von den Menschen auf den Straßen für die Politik Israels in Haftung genommen, hetzt eine zwar kleine, doch laute antisemitische Presse gegen die "ungläubigen Landesverräter". Für Güleryüz, dessen Vorfahren auf einem der Schiffe von 1492 nach Istanbul kamen, ist "die Propaganda jeden Tag ein Schlag ins Gesicht".
Noch haben nicht viele Juden nach dem Terroranschlag die Türkei verlassen. Aber wenn, dann gehen die Jungen, und so werden die Gemeinden immer älter. In den zwölf Synagogen, in denen in Istanbul noch gebetet wird, liegen am Eingang neben den Gebetsbüchern Lesebrillen aus. Viele Juden bemühen sich seit dem vergangenen Jahr um einen zweiten Pass - weniger um einen israelischen als um einen europäischen.
"In Europa wird über die Zukunft unserer Gemeinde entschieden", glaubt Denise Saporta. Sind nach Umfragen fast 75 Prozent der Türken für den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union, so befürworten wohl sämtliche Juden eine europäische Türkei. Für Denise Saporta ist ihre Heimat ein Experiment, das jeden Tag zeigt, dass Muslime und Juden zusammen leben können. Ohne Perspektive kann das Experiment immer auch scheitern. "Beitritt bedeutet: Europäische Prinzipien wie Minderheitenschutz. Kein Beitritt kann irgendwann auch bedeuten: Politik nach islamischem Recht."
Am 17. Dezember 2004 haben die europäischen Regierungschefs darüber abgestimmt, dass sie offizielle Verhandlungen mit der Türkei aufnehmen wollen. Für Güleryüz bestand schon vorher an einem positiven Votum kein Zweifel. Er ist schon einmal vorangegangen. Seit ein paar Wochen ist sein kleines Museum Mitglied im Verband jüdischer Museen in Europa.