Schillers Einfluss auf das russische Geistesleben besteht bis heute vor allem durch kongeniale Übersetzungen
Schillers Werk war schon zu seinen Lebzeiten in Russland bekannt. 1793 erschienen "Die Räuber", 1794 das Gedicht "Lied des Friedens", eine freie Adaptation von Schillers Gedicht "An die Freude". Die wirkliche Entdeckung Goethes und Schillers in Russland aber war ein Verdienst W. A. Schukowskijs (1753 - 1852), des größten Nachdichters, der je in Russland tätig war. Puschkin verglich ihn mit Johann Heinrich Voss und nannte ihn "ein Genie der Übersetzung". Von 1809 bis 1833 übertrug Shukowskij viele Balladen Schillers.
Die Sprachgewalt und das unwiderstehliche emotionale Pathos dieser Nachdichtungen sind bis heute unübertroffen. Sie wurden zum Anfang der russischen Balladendichtung, die es in dieser Form bis dahin nicht gab. Sie haben unsere Sprache unendlich bereichert und die Entstehung der russischen Romantik beeinflusst.
Shukowskij war der erste, aber bei weitem nicht der einzige Romantiker, der sich für Schiller begeisterte. Viele Schiller-Verehrer finden wir unter den begabten, freiheitlich gesinnten jungen Dichtern, die von 1817 bis 1825 zu den geheimen Dekabristen-Gesellschaften gehörten. Bekannt geworden sind "die Dekabristen" durch ihren - erfolglos gebliebenen - Aufstand gegen die zaristische Herrschaft im Jahre 1925.
Deren freiheitliche Gesinnung teilte der große Lyriker Fjodor Tjutschew, der von 1822 bis 1838 als Beamter der russischen Botschaft in München wirkte und dort mit Schelling und Heine in Kontakt stand. In München schuf der kaum 20-jährige Tjutschew herrliche Schiller-Nachdichtungen ("An die Freude", "Hektors Abschied"), die durch ihre poetische Energie noch heute bezaubern. Er widmete Schiller ein Gedicht, in dem er den "göttlichen" Dichter feiert. Viel später, schon wieder in Russland, übertrug Tjutschew mit großem Elan weitere Schiller-Gedichte.
Auch in der Welt Lermontows spielte Schiller eine bedeutende Rolle. Als 15-Jähriger übersetzte Lermontow Schillers "Der Handschuh". In seinen rebellischen Jugenddramen ("Die Spanier", "Menschen und Leidenschaften", beide 1830) ist Schillers Einfluss unverkennbar. Ansonsten bringt das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 - die Zeit der grausamen Zensur und Verfolgung jeder Spur freien Denkens - fast keine bedeutenden Schiller-Nachdichtungen.
Eine neue und äußerst fruchtbare Periode der Schiller-Rezeption beginnt um 1840 und dauert etwa bis 1870. Sie fällt in die relativ liberale Regierungszeit des großen Reformers Alexanders II. Zu dieser Zeit wurde Schillers Werk zum allgemeinen geistigen Gut in Russland. Die jüngere Schriftstellergeneration (Tolstoj, Dostojewski, Herzen, Nekrassow) ließ sich von Schiller anregen. So schreibt der junge Dostojewski: "Der Name Schillers wurde für mich ein Zauberklang, ein zutiefst verwandter Klang" (1840). Daher gibt es viele Schiller-Anklänge in seinem späteren Werk - bis hin zu den "Brüdern Karamasow".
Eine glänzende Plejade junger Lyriker tritt mit zahlreichen Schiller-Nachdichtungen hervor: Afanassij Fet, Lew Mej, Michail Michajlow, der für seine Bemühungen 1861 mit einem Diplom des deutschen Schiller-Vereins geehrt wurde, Apollon Grigorjew und andere. Fet und Mej waren übrigens halbdeutscher Abstammung. Besonders beliebt waren die antikisierenden Gedichte Schillers: Fet übersetzte "Die Götter Griechenlands", Michajlow die berühmte "Naenie" in elegischen Distichen, und zwar in wunderbaren Versen. Fet, ein Gegner der Tendenzkunst, versuchte, Schiller zum gänzlich unpolitischen Dichter zu stilisieren. Er schreibt ein Gedicht "An Schiller", in dem er diesen "Adler der mächtigen, hellen Lieder" preist.
Ab 1890 ändert sich die Situation drastisch: Den meisten russischen Symbolisten steht Schiller mit seinem moralischen Pathos fern. Sie schwärmen eher für die Franzosen Baudelaire und Mallarmé. Nur Valerij Brjussow, einer der Wortführer des Symbolismus, übersetzt aufs Neue "Die Kraniche des Ibykus" (1912). Eine kurze Begeisterung für Schiller gibt es dagegen von 1917 bis 1925, gleich nach der Oktoberrevolution. Viele Theater bringen seine Stücke. Maxim Gorki gründet im hungernden Petrograd von 1918 den bedeutenden Verlag "Weltliteratur", der die Versdramen von Schiller und Kleist herausbringt. Alexander Blok, der dort für die deutsche Literatur zuständig ist, hält 1919 einen wichtigen Vortrag: "Die Zerstörung des Humanismus", in dem er den ewigen "Jüngling Schiller" charakterisiert.
Im Verlag wird ein Übersetzer-Studio gegründet.
Einer der Leiter ist der wohl bedeutendste russische Nachdichter nach Shukowskij, Michail Losinskij (1886 - 1955). Dessen großartige Schiller-Nachdichtungen ("An die Freude", "Der Ring des Polykrates", "Die Götter Griechenlands") interpretieren die eigentlich schon bekannten Texte ganz neu. Als Lyriker stand Losinskij in seiner Jugend den Altmeistern wie Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa nahe. Er legte Wert auf ganz konkrete, visuelle Einzelheiten, die Shukowskij vormals nicht beachtet hatte.
Wie Losinskij begann auch der bedeutende Nachdichter Wilhelm Sorgenfrey (1882 - 1938) seine Übersetzertätigkeit im Verlag "Weltliteratur". Er war Sohn eines deutsch-russischen Ingenieurs auf der Krim. Sorgenfrey setzte die Tradition eines Fet oder eines Mej würdig fort. Er gehörte zu den wenigen Freunden Bloks, die dem Dichter auch nach dem Erscheinen des heftig umstrittenen Poems "Die Zwölf" (die bedeutendste deutsche Nachdichtung stammt von Paul Celan) die Treue hielten. Ihm verdanken wir eine ganze Bibliothek "glänzender Nachdichtungen" (Blok), unter anderem der Werke von Goethe, Grillparzer und Heine ("Buch der Lieder"). Mit Energie und Genauigkeit gleichermaßen übertrug er mehrere Gedichte Schillers - vom frühen satirischen "Venuswagen" bis zu den berühmten Gedichten der Weimarer Zeit.
Ab 1930 begann in der UdSSR eine zunehmende Verarmung des geistigen Lebens und etwas später eine Hetzjagd der Staatsmacht auf viele Intellektuelle. Nach den Angaben des deutschen Slawisten Wolfgang Kasacks wurde Losinskij bis 1933 dreimal verhaftet. Während des stalinistischen "großen Terrors" (Robert Conquest) ging Sorgenfrey 1938 tragisch zugrunde. Weder seine Nachdichtungen noch seine eigene bedeutende Lyrik sind bis heute gesammelt.
Erst nach 1945 erwachte neues geistiges Leben. Drei Namen sind vor allem zu nennen: Nikolaj Sabolotzkij, Wilhelm Lewik und Lew Ginsburg. Der große Lyriker Nikolaj Sabolotzkij (1903 - 1958), der 1938 zu Lagerhaft verurteilt wurde und erst 1946 zurückkehrte, übertrug in klangvollen Versen "Hektors Abschied", "Die Bürgschaft" und andere Balladen. Wilhelm Lewik hat besonders anschaulich Schillers Balladen "Hero und Leander" und "Der Kampf mit dem Drachen" übersetzt. Kein Wunder: Lewik war in seinem zweiten Beruf Maler. Die Nachdichtungen dieses Meisters mehrerer Sprachen (unter anderem G. A. Bürger, Goethe, Schiller, Heine, Ronsard, Baudelaire, Milton, Byron) wurden häufig in Massenauflagen nachgedruckt.
Im Unterschied zu Lewik übertrug Lew Ginsburg nur deutsche Dichter: von den Vaganten bis Hermlin und Bobrowski. Er entdeckte für den russischen Leser die Dichtungen des jungen Schiller, ihre drastische Grobheit und krassen Kontraste ("Bauernständchen", "Die Kindsmörderin"). Dabei gebrauchte er geschickt die grobe Sprache der Straße bis hin zum Slang; er berichtet davon in seiner hinreißenden Autobiografie, deren Titel ein Heine-Zitat ist ("Nur mein Herz brach", 1983). In ähnlicher Weise hat er auch "Wallensteins Lager" nachgedichtet.
So reiht sich diese "unendliche Kette" (Goethe) russischer Schiller-Nachdichtungen von den ersten naiven Adaptionen des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Woher kommt der unermüdliche Impuls dieser Bemühungen? Die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts ist ein unvergleichliches Alphabet der Menschlichkeit. Das gilt in gleichem Maße für Lessing und Herder, Klopstock und Lenz, für Goethe und für Hölderlin, der in seinem "Hyperion" den Ausspruch tat: "Der Mensch ist … Gott, sobald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön."
Im Werk Schillers klingt eine reine, ununterbrochene "vox humana". Erinnern wir uns an die berühmte Ballade "Das Eleusische Fest" (das Lieblingsgedicht Dostojewskis!). Hier spricht die Göttin Ceres mit tiefer Anteilnahme und Anerkennung vom Menschen, dem "wir (die Olympier) unser Bild geliehn", dessen schöngestalte Glieder, droben im Olympus blühn".
Gerade dieser Geist der reinen Menschlichkeit hat russische Dichter an Schillers Werk immer wieder fasziniert. Der große russische Schriftsteller Alexander Herzen (1812 - 1870) sagte einmal, dass ein Mensch, der kein Verständnis mehr für Schiller hat, geistig verhärtet oder alt geworden ist. Diese Worte sind auch heute noch gültig.
Der Autor ist Germanist; er arbeitet an der "Russian State University for the Humanities" in Moskau.