Als Schiller starb, wurde Goethe alt - die Freundschaft zwischen den beiden Dichtern
Schiller sah den berühmten Dichter des "Götz" und des "Werther" zum ersten Mal, als der Weimarer Herzog Carl August mit Goethe und seiner Begleitung im Dezember 1779 auf der Rückreise aus der Schweiz die "Hohe Karlsschule" in Stuttgart besucht und dort "den Feyerlichkeiten des Jahrestags der Militär-Akademie beygewohnt" hat, wie Goethe am 20. Dezember 1779 verlauten ließ. Bei dieser Gelegenheit war der 20-jährige Eleve Friedrich Schiller in der Anstalt seines Herzogs Carl Eugen von Württemberg mit Preisen ausgezeichnet worden.
Am 21. Juli 1787 kam Schiller nach Weimar. Der Ruf von Wieland, Goethe und Herder, die dort schon lebten und wirkten, hatte ihn in die kleine Residenzstadt gelockt. Aber Goethe selbst war noch in Italien, und so wurde sein Geburtstag in seinem Gartenhaus ohne ihn, aber mit Schiller gefeiert. Bis zur Freundschaft dauerte es noch eine Weile. Goethe hatte nämlich zunächst gar kein Interesse, den in seinen Augen noch unreifen Schiller kennen zu lernen, und dieser wiederum vermied es, sich dem Älteren aufzudrängen. Sechs Jahre lang ging Goethe seinem jungen Kollegen aus dem Weg, für Schiller sechs bittere Jahre.
An seinen Freund Christian Gottfried Körner schrieb Schiller am 2. Februar 1789, kurz nachdem er in Jena Professor geworden war: "Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen.. Ich glaube in der Tat, er ist ein Egoist in ungewöhnlichem Grade.. Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum heraufkommen lassen. Mir ist er dadurch verhasst, ob ich gleich seinen Geist von ganzem Herzen liebe und groß von ihm denke." Und wenig später: "Dieser Mensch, dieser Goethe, ist mir einmal im Wege, und er erinnert mich so oft, dass das Schicksal mich hart behandelt hat. Wie leicht ward sein Genie von seinem Schicksal getragen, und wie muss ich bis auf diese Minute noch kämpfen!"
Ein Jahr zuvor war es am 7. September 1788 in Rudolstadt zu einer ersten persönlichen Begegnung gekommen. Aber die Gesellschaft, zu der Luise von Lengefeld geladen hatte, war so groß, dass sie es Goethe erlaubte, Schiller nicht zu beachten.
Der Bann wurde gebrochen, als Schiller am 13. Juni 1794, mit der förmlichen Anrede: "Hochwohlgeborener Herr, Hochzuverehrender Herr Geheimrat" Goethe einlud, an der neu gegründeten Zeitschrift "Die Horen" mitzuarbeiten, die er - unter Mitwirkung von Johann Gottlieb Fichte, Wilhelm von Humboldt und Carl Ludwig Woltmann - zu Beginn des Jahres 1795 herausgeben wollte. Am 24. Juni sagte Goethe seine Mitarbeit zu: "Ich werde mit Freuden und von ganzem Herzen von der Gesellschaft sein"; er versicherte, dass er sich "auf eine öftere Auswechslung der Ideen" lebhaft freue. Schiller hatte Goethes Mitarbeit nicht zuletzt deshalb gewünscht, um der neuen Zeitschrift Ansehen zu verschaffen. Goethe wiederum kam die Einladung gelegen, weil er seit längerem am literarischen Leben wenig beteiligt war und nun hoffte, dass die neue Verbindung manches, was bei ihm ins Stocken geraten war, wieder voranbringen würde.
Knapp vier Wochen darauf kam es in Jena zu jener bemerkenswerten Begegnung der beiden, über die Goethe Jahre danach unter der Überschrift "Glückliches Ereigniß" berichtet hat. Beide hatten eine Veranstaltung der "Naturforschenden Gesellschaft" im Hause des Mediziners und Botanikers Karl Batsch besucht und die Veranstaltung "zufällig" gemeinsam verlassen. Ein Gespräch knüpfte sich an. Goethe schrieb darüber:
"Wir gelangten zu seinem Haus, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanze lebhaft vor, und ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: ,Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.' Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. Die Behauptung aus ,Anmut und Würde' fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusammen und versetzte: ,Das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.'"
Mit diesem Disput war der erste Schritt auf einander zu getan. Zwei Tage später folgte eine Begegnung im Hause Wilhelm von Humboldts. Beide haben hinterher darüber berichtet, und Wilhelm von Humboldt notierte in sein Tagebuch: "Abends assen Schillers und Göthe bei uns".
Ende August 1794 schrieben beide einander deutende und anerkennende Briefe. Vor allem Goethe fühlte sich durch einen Brief von Schiller von diesem verstanden und dankte ihm mit folgenden Worten: "Zu meinem Geburtstage ... hätte mir kein angenehmer Geschenk werden können als Ihr Brief, in welchem Sie, mit freundschaftlicher Hand, die Summe meiner Existenz ziehen und mich, durch Ihre Theilnahme zu einem emsigern und lebhafteren Gebrauch meiner Kräfte aufmuntern."
Schiller schrieb am 1. September 1794 an Körner: "Bei meiner Zurückkunft fand ich einen sehr herzlichen Brief von Goethe, der mir nun endlich mit Vertrauen entgegenkommt. Wir hatten vor sechs Wochen über Kunst und Kunsttheorie ein langes und breites gesprochen und uns die Hauptideen mitgeteilt, zu denen wir auf ganz verschiedenen Wegen gekommen waren. Zwischen diesen Ideen fand sich eine unerwartete Übereinstimmung, die um so interessanter war, weil sie wirklich aus der größten Verschiedenheit der Gesichtspunkte hervorging. Ein jeder konnte dem anderen etwas geben, etwas ihm fehlte, und etwas dafür empfangen."
Seinem Freund Friedrich Wilhelm David von Hoven teilte Schiller wenig später mit: "Überhaupt bin ich in diesem Sommer endlich mit Göthen genau zusammen gekommen, und es vergeht keine Woche, dass wir einander nicht sehen oder schreiben ... In naturhistorischen Dingen ist er trefflich bewandert und voll großer Blicke, die auf die Ökonomie des organischen Körpers ein herrliches Licht werfen.. Über die Theorie der Kunst hat er viel gedacht und ist auf einem ganz anderen Wege als ich zu den nämlichen Resultaten mit mir gekommen."
Für September schon lud Goethe den neuen Partner in sein Haus nach Weimar ein. Schiller sagte "mit Freuden" zu, verbarg aber nicht, dass er wegen seiner Krankheit mit den störenden nächtlichen Krämpfen nie genau wisse, wann er sich wohlfühle. Er wünschte, dass sich niemand durch ihn gestört fühle und schloss den ergreifenden Satz an: "Ich bitte bloß um die leidige Freiheit, bei Ihnen krank sein zu dürfen." 14 Tage waren sie in Weimar zu ausgiebigem Gedankenaustausch zusammen. Von nun an sahen sich die beiden, die, wie Goethe es dann in einem Brief an Schiller nannte, einen "Bund des Ernstes und der Liebe" geschlossen hatten, regelmäßig.
Fast täglich hatten von Beginn an Botenfrauen oder fahrende Postboten Sendungen zwischen ihnen zu befördern. Die Freunde borgten einander Bücher, tauschten Manuskripte aus, die Arbeit an den "Horen" ging voran, die "wissenschaftliche Correspondenz" begann. Sie führten "ein Werkstattgespräch in Permanenz", schreibt Sigrid Damm in ihrer Schiller-Biografie. Beide waren sich erstaunlich schnell näher gekommen und fanden zu einem intensiven Arbeitsbündnis zusammen, in dem jeder gab und nahm und das erst Schillers Tod am 9. Mai 1805 aufkündigte.
Oft hielt sich Goethe in Jena auf. Für kürzere oder für längere Zeit setzte er sich von Weimar ab, um sich in der nahen Universitätsstadt in seine wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten zu vertiefen und mit Gelehrten und Freunden zu unterhalten.
"Goethe ist seit dem 5. hier und bleibt diese Tage noch hier, um meinen Geburtstag mit zu begehen. Wir sitzen von abend 5 Uhr bis nachts 12 auch 1 Uhr zusammen und schwatzen", ließ Schiller Wilhelm von Humboldt am 9. November 1795 wissen. Der Bund zwischen beiden festigte sich rasch. Vor allem Goethe, der nach seiner Italienreise an einem schöpferischen Tiefpunkt litt, war beglückt durch die kreativen Anregungen, die er von Schiller erhielt, und versicherte dem Freud emphatisch: "Sie haben mir eine zweite Jugend verschafft und mich wieder zum Dichter gemacht." Beide Dichter haben sich über ihre Freundschaft wiederholt geäußert: Schiller in vielen Briefberichten, vor allem an seinen Freund Körner, Goethe in einem späteren Rückblick "Erste Bekanntschaft mit Schiller" von 1817 und in "Ferneres in Bezug auf mein Verhältnis zu Schiller" von 1825.
Beide konzentrieren sich ganz auf das Gespräch miteinander und auf ihre Zweisamkeit. Nach einem Besuch Schillers im Haus am Frauenplan schreibt Goethe "Schiller ... bringt durch seinen Anteil viel Leben in meine oft stockenden Ideen." Schiller bekennt in den Herbsttagen 1794 Goethe gegenüber: "... ich bin Ihnen nahe mit allem, was in mir lebt und denkt." Auch von Goethes Seite klingt es vertraulich "Leben Sie wohl und lieben Sie mich, es ist nicht einseitig."
Gerade der wechselseitige Respekt vor der künstlerischen Leistung des anderen und die Toleranz gegenüber abweichenden Wertsetzungen begründeten ihr persönliches Verhältnis, dem in der Geschichte der deutschen Literatur nichts Vergleichbares zur Seite zu stellen ist. Sicher ist es Schillers Einfluss zuzuschreiben, dass sich Goethe auf die Strenge der Theorie einließ, wie sich andererseits Schiller in der Nähe des Partners Macht und Bedeutung des Gegenständlichen, Empirischen, "Betastlichen" neu erschlossen hat. "Es ist hohe Zeit, dass ich für eine Weile die philosophische Bude schließe. Das Herz schmachtet nach einem betastlichen Objekt", gestand er im Dezember 1795.
So ermutigten sich die beiden Dichter gegenseitig und gewährten sich gegenseitig Orientierungshilfe. Schiller schöpfte aus der Welt der Ideen, Goethe aus ihrer Beobachtung. Schiller, der bis dahin Goethes Vorstellungsart als zu sinnlich empfand, erkannte, dass er in Goethes empirischer Naturphilosophie Anknüpfungspunkte für sein eigenes theoretisches Denken finden konnte. Goethe wiederum bemerkte, dass Schiller nicht nur ein Feuerkopf und gebildeter Kantianer, sondern zugleich ein an Fragen der antiken Ästhetik und Kunstphilosophie interessierter Kenner war, dessen souveränes Urteil ihm nur förderlich sein konnte.
Ihr einzigartiger Briefwechsel ist ein fortlaufender Werkstattbericht zweier schöpferischer Menschen, die sich zu ergänzen und voneinander zu lernen suchten. Über tausend Seiten umfasst die Korrespondenz, und ihre Gespräche hat niemand gezählt.
Das Nachdenken der Briefschreiber, deren Freundschaft mit dem Rückzug in die Kunst begann - Tagespolitik und Zeitläufe blieben ausgeklammert -, richtete sich durchweg auf grundsätzliche und spezielle Fragen der Kunst, vornehmlich der Dichtung. Aber auch im ganz persönlichen, privaten Leben standen sie einander bei, wenn einer von ihnen krank oder unpässlich war. Goethe begegnete der Krankheit des zehn Jahre Jüngeren mit Verständnis und Mitgefühl und hat, wie August Schlegel einmal befand, wie ein "zärtlicher Liebhaber" für Schiller gesorgt.
Schiller wiederum erlebte Goethes Schmerzen um den Tod des vierten Kindes im Oktober 1795 unmittelbar mit - Schmerzen, von denen er und seine Frau glücklicherweise verschont geblieben sind. Bei Goethe und Christiane überlebte von vier Kindern nur der Sohn August. Zudem fand Schiller hinter der geheimrätlichen Maske, die Goethe oft angelegt hatte, den Mann und Dichter; er war, wie Grillparzer und manch anderer, überwältigt von der Wärme, die dieser Mann ausstrahlen konnte. Doch sei nicht verschwiegen, dass Schiller gegenüber Goethes "Ehestand ohne Zeremonie" eine konventionelle Haltung an den Tag legte und über Goethes und Christiane Vulpius' Beziehung mitunter arg gespöttelt hat.
Nachdem die "Horen" nicht die erhoffte Resonanz gefunden hatten - sie konnten sich nur bis 1797 halten -, waren Goethe und Schiller auf Publikum und Kritik schlecht zu sprechen. Sie kamen auf die Idee, Spottverse, etwa 200 Xenien ("Gastgeschenke") nach antikem Muster zu verfassen, in denen sie ihrem Ärger und ihrer Spottlust freien Lauf ließen und dabei offensichtlich selbst viel Spaß hatten. Berichtete doch Goethes Kammerdiener von dröhnendem Gelächter, das in jenen Tagen nicht selten aus dem Arbeitszimmer drang.
"Freunde, wie Schiller und ich, jahrelang verbunden, mit gleichen Interessen, in täglicher Berührung und gegenseitigem Austausch, lebten sich ineinander so sehr hinein, dass überhaupt bei einzelnen Gedanken gar nicht die Rede und Frage sein konnte, ob sie dem einen gehörten oder dem anderen", sagte Goethe zu Eckermann am 16. Dezember 1828 und fügt hinzu: "Wir haben viele Distichen gemeinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den anderen."
Doch blieb der Xenienkampf, der beiden von einem längst vergessenen Literaturkritiker die Bezeichnung "Sudelköche von Jena und Weimar" einbrachte, nur eine Episode. Danach wandten sie sich wieder der ernsthaften Dichtung zu und richteten gegenseitig Theaterstücke ihres Partners für die Bühne ein: Goethe Schillers "Fiesko" und "Kabale und Liebe", Schiller Goethes "Iphigenie".
Als Schiller am "Wallenstein" arbeitete, erhielt er von Goethe Rückenwind. Dieser wiederum begann, unter tätiger Mitwirkung Schillers, den "Wilhelm Meister" zu vollenden. Die überaus erfolgreiche "Wallenstein-Aufführung" brachte auch Goethe wieder richtig in Schwung. In rascher Abfolge verfassten sowohl Schiller als auch Goethe von 1800 bis 1804 Theaterstücke sowie unzählige Gedichte und Balladen, die es ohne ihr freundschaftliches Zusammenwirken wahrscheinlich nie gegeben hätte.
Am 1. Mai 1805 kam es zur letzten flüchtigen Begegnung. Eine Woche danach war Schiller tot. Sein Tod bedeutete eine tiefe Zäsur in Goethes Leben. "Durch Schillers Tod wurde Goethe alt", merkt Norbert Oellers in einem seiner Bücher an. Goethe selbst bekannte, er habe durch den Verlust des Freundes "die Hälfte seines Daseins verloren" und fasste seine Trauer um den Freund in dem Satz zusammen: "Das war ein rechter Mensch, und so sollte man auch sein."
Die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller ist oft idealisiert und heroisiert, aber auch herabgewürdigt worden. Doch vertieft man sich in ihren Briefwechsel und hält man sich an die überlieferten schriftlichen Aussagen von Schiller und insbesondere an die des alt gewordenen Goethe, der nicht müde wurde, seines Freundes bis ins hohe Alter hinein zu gedenken und von ihm zu erzählen, dann war diese Freundschaft ganz gewiss, wie Rüdiger Safranski jüngst festgestellt hat, ein "Glücksfall und Glanzpunkt der deutschen Kulturgeschichte".
Bibliografischer Hinweis
Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe.
Herausgegeben von Emil Staiger. Revidierte Neuausgabe von Hans-Georg Dewitz. Mit Illustrationen.
Insel-Verlag, Frankfurt/M. 2005; 1200 S., 38,- Euro;
auch als Insel-Taschenbuch 3125, 20,- Euro
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin vorwiegend zu zeitgeschichtlichen und literarischen Themen; sie lebt in Arnsberg.