Schillers "Tell" - Stationen einer bewegten Geschichte
Die frühesten Spuren von Wilhelm Tell führen in den Norden, nach Dänemark. Um 1200 zeichnet dort der Mönch Saxo Grammaticus die Geschichte eines Schützen auf - Toko sein Name -, der von einem grausamen Herrscher zur Mutprobe mit dem Apfelschuss gezwungen wird und diesen hinterher aus Rache umbringt. Diese Sage, eine Wandersage, gelangte später über verschlungene Wege in die spätere Kernzone der Eidgenossenschaft, an den Vierwaldstättersee.
Dabei geschah etwas Erstaunliches: Die Sage vom nordischen Meisterschützen blieb an diesen Ufern und in diesen Tälern hängen. Es ist, als hätte die Geschichte, nach langer Wanderung, einen ihr angemessenen Schauplatz gefunden, um hier ihre volle Wirkung zu entfalten. Immer schon ist festgestellt worden, dass dem Vierwaldstättersee mit den steil ins Wasser abfallenden Felswänden und den Schneegipfeln eine genuine Theatralität eigen ist - er ist tatsächlich eine Bühne aus Fels und Wasser, Wald und Himmel.
Toko jedenfalls wird hier zu Thall oder Tell und entwickelt sich unter diesem Namen schnell zu einem Lokalhelden, vor allem auf dem Boden Uris. Sein Heldenschicksal verknüpft sich mit den Überlieferungen vom Ursprung der Eidgenossenschaft, also mit den Motiven von Rütlischwur und Burgenbruch. Vom späten 15. Jahrhundert an entstehen Chroniken, Lieder, Bilder, Theaterstücke, die von Tells Taten berichten; die Figur verlässt den Dunstkreis der Mündlichkeit und betritt die Welt der Schriftlichkeit. Von nun an reiht sich Zeugnis an Zeugnis, und die Urschweizer Landschaft wird vom Mythos durchdrungen.
Aber Tells Radius beschränkt sich keineswegs nur auf die Innerschweiz. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert gelingt ihm der Sprung auf das internationale Parkett, von der wilden, abgeschiedenen Bergwelt der Urner Täler nach Frankreich und sogar nach Übersee. Als man im gärenden Paris der Revolutionsjahre auf den Sturz des Königs hinzuarbeiten begann, vermehrten sich die Berufungen auf Wilhelm Tell und seinen Tyrannenmord. Der Innerschweizer Schütze wurde zum bildmächtigen Symbol des Umsturzes.
Folgerichtig fiel der Höhepunkt der Tell-Begeisterung in die Zeit der jakobinischen Schreckensherrschaft, in die dramatischste Phase der Revolution, als die Guillotine unablässig arbeitete: Wilhelm Tell aus Uri als Revolutionsheiliger in Paris. Gerade unter Anrufung des Schweizer Helden hielten die Machthaber jede Untat für berechtigt; innerhalb ihres Terror-Regimes entfaltete Tell seine volle propagandistische Wirkung. Er war Teil der Symbole und Wahrzeichen der Französischen Revolution geworden.
Weniger bekannt dürfte Tells "Einsatz" im Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten gegen das Mutterland England einige Jahre zuvor sein. Betont wurde die Wahlverwandtschaft zwischen dem jungen Amerika und der älteren Eidgenossenschaft. Die schweizerische Befreiungstradition galt als Spiegel und Vorbild für die eigene, blutig erkämpfte Unabhängigkeit. Besonders schön visualisiert wird die Idee dieser Verbindung zwischen den beiden Staaten in einem Stich, der die "Helden der alten Freyheit" zeigt, Washington und Tell, den ersten Präsidenten der USA und den Urner Schützen aus dem Schächental.
Vor diesem Hintergrund ist Schillers Griff nach dem Stoff zu sehen. Der Dramatiker stürzte sich mit großem Eifer in das Studium der Quellen, bestellte Bücher und Landkarten, Kupferstiche und Aquatinten, lieh sich Werke aus der großherzoglichen Bibliothek aus, las und notierte nächtelang. "Ich bin genötigt, viel darüber zu lesen, weil das Locale an diesem Stoffe soviel bedeutet, und ich möchte gern soviel möglich örtliche Motive nehmen", schrieb er im September 1803 an einen Freund.
Im Laufe der Monate bedeckten sich die Wände von Schillers Arbeitszimmer mit Zetteln, Skizzen, Grafiken und Karten, wie Goethe berichtete. Der Dichter tauchte vollkommen ein in die mittelalterliche Welt der Urkantone und holte sich die sublime Landschaft gewissermaßen in seine eigenen vier Wände. An Goethe bemerkte er im August 1803: "Ich selbst stehe noch immer auf dem alten Fleck und bewege mich um den Waldstättensee herum." In keinem anderen Stück betrieb er einen solchen Aufwand mit der Beschreibung des Handlungsraumes.
Bei seinem Besuch in der Landschaft Tells stellte der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer im Herbst 2003 fest, dass Schiller die Handlung "durch eine geradezu aufdringlich exakte Topografie" beglaubige. 150 geografische Angaben zählte er in dem Stück. "Schiller muss mit dem Vergnügen eines Kopfreisenden auf seine Karte geblickt und sich immer erneut geeignete Orte herausgepickt haben. Er macht keine Fehler. Keine Angaben, die sich widersprechen. Die Wege wären abschreitbar."
Schiller hat die Schauplätze der Tell-Sage nie mit eigenen Augen gesehen. Zu gerne hätte er, um seinem Handlungsraum noch mehr Dichte zu verleihen, den Urnersee, das Rütli, Altdorf und die Hohe Gasse besucht. Aber sein Gesundheitszustand hätte es nicht erlaubt, eine solche Reise zu unternehmen.
Am 17. März 2004 dann die Uraufführung am Weimarer Hoftheater - unter Goethes künstlerischer Leitung, der als Gesprächspartner und kritischer Leser der einzelnen Akte viel zum Gelingen des Stückes beigetragen hatte. Augenzeugen hielten fest, dass der Platz vor dem Theater schon nachmittags um drei gedrängt voller Menschen war. Um halb sechs begann die Vorstellung. Der "Wilhelm Tell" wurde als ein opulentes Stück gegeben, opernhaft in jeder Hinsicht und reich an Effekten. Es sollte, so Schillers Absicht, "als ein Volksstück Herz und Sinne interessieren."
Der Applaus war überwältigend. "Wilhelm Tell" war nicht nur Schillers letztes vollendetes Drama, sondern auch sein größter Triumph zu Lebzeiten. "Der Tell hat auf dem Theater einen größern Effect als meine andern Stücke, und die Vorstellung hat mir große Freude gemacht. Ich fühle, dass ich nach und nach des theatralischen mächtig werde", schrieb er wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tod.
Was Schiller nicht mehr erlebt, aber offenbar geahnt hat: Das Stück barg genug politischen Sprengstoff für zwei Jahrhunderte in sich. "Wenn man einmal ein solches Süjet, wie der Wilhelm Tell ist, gewählt hat, so muss man notwendig gewisse Saiten berühren, welche nicht jedem gut ins Ohr klingen." Diese prophetische Aussage Schillers vom 14. April 1804 ließe sich freilich als Motto über die politische Wirkungsgeschichte des "Wilhelm Tell" setzen.
Fast kann man sagen: Es gab wohl, von der Weimarer Uraufführung abgesehen, keine Bühne, die das Stück so brachte, wie Schiller es geschrieben hatte. Gleichzeitig - und das eine bedingt natürlich das andere - gibt es wahrscheinlich kein Drama, das dermaßen anfällig für politische Vereinnahmungen ist. Das gilt für Deutschland wie für die Schweiz.
Während der Napoleonischen Herrschaft und der Befreiungskriege war die Gleichung denkbar einfach: Napoleon war Gessler, die Grande Nation rückte an die Stelle des Habsburgerreiches. Umso donnernder der Applaus in den deutschen Theatern, weil man den Text auf die Situation des eigenen Vaterlandes bezog:
"Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben -
Der Güter höchstes dürfen wir verteidg'en
Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser Land,
Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!"
(Verse 1.285ff.)
Deutsche Soldaten trugen Schillers Drama auf dem Herzen, wenn sie ins Feld zogen, und vor der Völkerschlacht von Leipzig (1813) rezitierten sie den Rütli-Schwur ("Seid einig, einig, einig!"). Und noch 100 Jahre später, im Ersten Weltkrieg, bot man den Soldaten Wilhelm-Tell-Freilichtaufführungen direkt hinter der Front - zur Stärkung der Kampfmoral.
1923, als belgische und französische Truppen das Rhein- und Ruhrgebiet besetzten, verboten diese Besatzungsmächte den "Wilhelm Tell". In Essen wurde noch am Abend vor der Besetzung der Stadt, am 14. Februar 1923, Schillers Drama unter begeisterten Kundgebungen der Zuschauermenge aufgeführt. Am nächsten Tag schlossen französische Truppen das Theater und stellten Wachposten davor auf. Walter Muschg fasst diesen ewigen Wechsel von Verbot und Wiederaufnahme bündig zusammen, wenn er schreibt, wir hätten "schon deshalb Ursache (diesen Tell) hochzuhalten, weil er noch immer zuerst verboten wird, wenn irgendwo die Freiheit eines Volkes unterdrückt werden soll, und man zuerst ihn wieder spielt, wenn die Befreiung gelungen ist".
In der Schweiz verlief die Entwicklung gradliniger. "Wilhelm Tell" genoss schon bald ungeteilte Zustimmung, wurde als Nationalstück verstanden und der Volkskultur einverleibt. Es bescheinigte der Schweiz eine stolze Vergangenheit, auf die man sich, gerade in heiklen Phasen, immer wieder beziehen konnte. In der Basler Festrede zum 100. Geburtstag von Schiller (1859) betonte Jacob Burckhardt, dass "dies Drama ... zugleich das höchste Geschenk Deutschlands an die Schweiz" sei.
Das Stück ist für beide Länder, für Deutschland und für die Schweiz, zum nationalen Schauspiel geworden. Dieser Umstand zeigt sich besonders deutlich im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und in den Kriegsjahren selbst. In Deutschland war das Stück zunächst als "National- und Führerdrama" hochgeschätzt. Doch 1941 realisierte Hitler, dass seine Person durchaus auch mit Gessler gleichzusetzen war. Er ließ das Drama daraufhin durch einen geheimen Erlass verbieten: "Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird."
Zur selben Zeit wurde "Wilhelm Tell" in der Schweiz zu einem wichtigen Instrument im Dienste der sogenannten Geistigen Landesverteidigung. Legendär war die Aufführung am Zürcher Schauspielhaus, die seit der Premiere im Januar 1939 unablässig auf dem Spielplan stand. Der große Schweizer Schauspieler Heinrich Gretler übernahm den Part des Tell. In der Rolle seines Widersachers Gessler war Wolfgang Langhoff zu sehen - ein aus Deutschland emigrierter Künstler, der vor seiner Flucht in die Schweiz im KZ Börgermoor inhaftiert gewesen war. In einer Laudatio sollte sich Kurt Hirschfeld später an Gretlers Tell erinnern: "Tausende und Abertausende verstanden durch Dich, was Freiheit, was Humanität, was Toleranz bedeutete. Du warst in diesen Jahren nicht nur ein Schauspieler, Du warst ein politischer Faktor ... ."
Die Probleme der Schweiz mit dem Nationalmythos und damit auch mit Schillers "Wilhelm Tell" begannen erst in der Nachkriegszeit. Der jüngeren Generation lag das Pathos der Geistigen Landesverteidigung schwer auf. Vor diesem Hintergrund der im Rückblick als problematisch empfundenen Selbstinszenierung der Schweiz muss der Hohn am schweizerischen Nationalhelden gesehen werden. Am gründlichsten - und originellsten - ging Max Frisch bei der Mythen-Demontage vor. Sein "Wilhelm Tell für die Schule" (1971) ist eine Attacke gegen das System des Heldenmythos, nicht gegen Schillers Stück, denn dem erweist Frisch, wie es jede gute Parodie tut, letztlich die Ehre.
In Westdeutschland kam es in der Nachkriegszeit zunächst zu einigen weitgehend werkgetreuen Aufführungen, die zu keinerlei Aufregung Anlass gaben - und erst dann zu einem Skandal, aber zu was für einem! Hansgünther Heymes Wiesbadener Inszenierung 1966 bedeutete die "Wende" in der Klassikerrezeption des Westens. Gnadenlos rechnete Heyme, der den Krieg noch als Kind miterlebt hatte, mit der jüngsten deutschen Vergangenheit ab. Gleichzeitig trieb ihn die Frage um, weshalb Schillers Stück sich in so ungeheurem Ausmaß manipulieren und vereinnahmen ließ.
Als Antwort manipulierte er den "Tell" seinerseits, und zwar so, dass es zu einer Umkehrung aller Werte kam. "Der Aufstand der Schweizer bekam Züge faschistischer Massenhysterie, ihr demagogischer Einpeitscher Stauffacher war in die Nähe von Goebbels gerückt, dem Rütli-Schwur wurde die Melodie des "Horst-Wessel-Liedes" unterlegt ... und der Mord des rohen Asozialen Tell an Gessler wurde zum Auftakt einer Serie von chauvinistisch motivierten Gewalttaten der nun vollends hemmungslosen und nicht mehr kontrollierbaren Masse." Das Schlusstableau schließlich wurde zu einer Travestie der Machtübernahme von 1933.
Mit Schillers "Wilhelm Tell" ist so ziemlich alles gemacht worden, was man mit einem Stück auf der Bühne machen kann. Es wurde vermeintlich werkgetreu aufgeführt, es wurde zum Prüftstein der Moderne, es wurde zum Träger politischer Botschaften jedweder Couleur, es wurde in der pathosfeindlichen Nachkriegszeit in Deutschland wie in der Schweiz demontiert, es wurde schließlich banalisiert und verkalauert. Und weil alles gemacht worden ist, herrscht nun, ganz folgerichtig, eine gewisse Ratlosigkeit.
Gelänge es, die Verkrustungen der Wirkungsgeschichte aufzulösen, so entdeckt man darunter nichts geringeres als eben ein Stück Weltliteratur: unvergleichlich in der sprachlichen Brillanz und Prägnanz, in der dramaturgischen Raffinesse, im Facettenreichtum der Charaktere, die viel mehr Ecken und Kanten aufweisen, als es die Schwarz-Weiß-Malerei der politischen Wirkungsgeschichte je vermuten ließe.
Barbara Piatti ist Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Basel; im vergangenen Jahr hat sie im Schwabe Verlag, Basel, ein hochgelobtes Buch "Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell" veröffentlicht.