Die UN-Reform und die deutschen Sicherheitsinteressen
Bereits ein oberflächlicher Vergleich macht deutlich: Angesichts neuer Bedrohungsszenarien weitete der Sicherheitsrat seit Anfang der 90er-Jahre seinen Handlungsspielraum nachhaltig aus; neue Verfahren und eine Vielzahl spezieller Einrichtungen wurden geschaffen; Peacekeeping hat sich entlang der UN-Charta zu einem ausdifferenzierten Instrumentarium im sicherheitspolitischen Bereich entwickelt; Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtsschutz stehen heute ebenso im Blickpunkt des inzwischen weitgefächerten UN-Systems wie Umwelt, Terrorismus und Aids. Kofi Annan betont zu Recht: "Es wird häufig unterschätzt, wie tief greifend sich die Vereinten Nationen, insbesondere seit dem Ende des Kalten Kriegs, verändert haben." Und dies auf der Grundlage der nahezu unveränderten UN-Satzung aus dem Jahre 1945.
Angesichts des 60. Jubiläums werden mit Nachdruck einschneidende Reformen angemahnt; im Kern sind fast alle identisch mit den zum 50. Bestehen 1995 vorgebrachten. Der Ruf nach Reformen ist so alt wie die UNO und ist untrennbarer Bestandteil der Entwicklungsgeschichte des Organisationensystems.
Unüberhörbare Kritik an der Machtverteilung zwischen den Hauptorganen, etwa zwischen Sicherheitsrat und Generalversammlung, und am Vetorecht der ständigen Ratsmitglieder wurde bereits auf der Gründungskonferenz 1945 von den mittleren und kleineren Staaten geäußert - ohne Erfolg. Neben diesem roten Faden der Reformnotwendigkeit liegen die Defizite seit langem in der Effizienz und Effektivität der Vereinten Nationen.
Kofi Annann hat seit seinem Amtsantritt 1992 - wie kaum ein anderer seiner Vorgänger - entsprechende Reforminitiativen in Angriff genommen. Was in seinen Kompetenzbereich fiel, etwa Verwaltungs- und Managementverbesserungen, konnte durchweg umgesetzt oder zumindest in Angriff genommen werden, Empfehlungen und Vorschläge, die der Zustimmung der Mitgliedstaaten bedürfen, fielen jedoch bisher weitgehend dem Staatendissens zum Opfer. Hier zeigt sich das Reformdilemma dieser Organisation souveräner Staaten: Es ist die Staatengemeinschaft, die weitgehend UN-reformunfähig ist - nicht die UNO!
Die Vorlage des Berichts des UN-Generalsekretärs "In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle" vom März 2005, der weitgehend auf den Vorschlägen, des von Kofi Annan eingesetzten Reformpanels, der "Hochrangigen Gruppe für Bedrohung, Herausforderungen und Wandel" beruht, gibt zwar Anlass zur Hoffnung auf einen großen Reformsprung nach vorn; von einem "offenen Reformfenster", das es nunmehr zu nutzen gelte, ist die Rede. Skepsis ist geboten, wurden doch bereits in der Vergangenheit den dafür zuständigen Regierungen substantielle Reformpakete zur Entscheidung unterbreitet, die fast alle in den Archiven verschwanden.
Wie die Vorlage der altgedienten Politikprofis des Panels aus 16 Ländern (warum ohne deutsche Beteiligung?) stellt der rund 70 Seiten umfassende Bericht im Gegensatz zu vielen anderen Reformpaketen keinen visionären Wurf dar, sondern zeichnet sich durch einen bemerkenswerten Realitätsbezug aus. Er beschränkt sich auf Vorschläge, die nach Ansicht des Generalsekretärs "sowohl in den kommenden Monaten unerlässlich als auch tatsächlich realisierbar sind".
Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung des Reformpakets stehen die Ausführungen zur Erweiterung des Sicherheitsrats. Obwohl im Bericht selbst nur mit zwei Seiten bedacht, räumt auch der Generalsekretär dieser Frage hohe politische Priorität ein und fordert die Mitgliedstaaten auf, diese endlose Diskussion noch vor Zusammentritt des Gipfels der Staats- und Regierungschefs im September 2005 in New York zu beenden. Vorzugsweise im Konsens - wenn nicht, dann in einer Kampfabstimmung in der Generalversammlung.
Kofi Annan legt sich nicht auf ein bestimmtes Reformmodell fest, sondern verweist auf die beiden vom Panel favorisierten Varianten.
Die seit dem Frühjahr 2004 vom UN-Reformfieber befallene deutsche Bundesregierung bewertet beide Berichte nicht nur ausgesprochen positiv, sondern sieht sich durch sie in ihren außenpolitischen Grundlinien bestätigt, obschon keine Empfehlung hinsichtlich der Berliner Sicherheitsratsambitionen ausgesprochen wird.
Die Bereitschaft zur "Übernahme größerer weltpolitischer Verantwortung" in den Vereinten Nationen gehörte bereits beim Eintritt Deutschlands in den Sicherheitsrat als nichtständiges Mitglied Anfang 2003 zum sprachlichen Standardrepertoire der rot-grünen Koalition. In der Konfrontation mit den USA über das Vorgehen gegen den Irak und in der Weigerung, einen US-Militärschlag rechtlich oder politisch oder gar militärisch zu unterstützen, gewann die Bundesregierung unter den UN-Mitgliedern zunehmend an Profil, und daraus erwuchs ein gesteigertes weltpolitisches Selbstbewusstsein - insbesondere im Kanzleramt. Konsequenterweise galt es nun, die Chance zu nutzen und Deutschlands Aufnahme in den Olymp und das Machtzentrum der Vereinten Nationen mit Nachdruck zu fordern - als ständiges Mitglied.
Nachdem auch Außenminister Fischer auf Schröders Linie eingeschwenkt war, begann eine weltweite Lobbytätigkeit der Regierung, um die für eine Charta-Änderung notwendige Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung zu erlangen. September 2004 dann der Paukenschlag mit dem gemeinsamen Vorstoß Brasiliens, Deutschlands, Indiens und Japans als der selbsternannten "legitimen Kandidaten" für die Mitgliedschaft im höchsten UN-Gremium.
Hinsichtlich der Erweiterung des Sicherheitsrats schlagen das Panel wie auch Kofi Annan zwei unterschiedliche Drei-Klassen-Modelle vor mit einer jeweiligen Gesamtzahl von 24 Ratssitzen. Nach Ansicht der Bundesregierung können die deutschen und europäischen Interessen jedoch nur im Rahmen des Modells A gewahrt werden, das für die neu zu schaffenden vier Großregionen (Afrika, Amerika, Asien und Pazifik, Europa) sechs neue ständige Sitze ohne Vetorecht und drei zusätzliche nichtständige vorsieht. Deutschland möchte den "Europa" zufallenden permanenten Sitz einnehmen, allerdings nach jüngsten Festlegungen Schröders nur mit Vetorecht.
Dem Alternativvorschlag B, der - ohne zusätzliche ständige Sitze - eine neue Kategorie von acht "halbpermanenten" Mitgliedern für eine jeweilige vierjährige Amtszeit mit der Möglichkeit der sofortigen Wiederwahl und ein zusätzliches nichtständiges Mitglied beinhaltet, steht die deutsche Regierung - etwa im Gegensatz zu den EU-Partnern Italien, Spanien oder Polen - ablehnend gegenüber.
Interessanterweise spricht sich das Panel gegen eine "unantastbare" Festschreibung jeglicher Erweiterung des Sicherheitsrats aus. Sollte es zu einer Änderung in der Zusammensetzung des Rats kommen, so empfehlen die Experten eine eingehende Überprüfung unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit des Rats bei Kollektivmaßnahmen im Jahr 2020.
Der oft erhobene Vorwurf, mit dem nationalstaatlichen Vorpreschen verletze die Bundesregierung den Koalitionsvertrag von 2002, demzufolge ein europäischer Sitz "wünschenswert wäre", ist allerdings insofern nicht stichhaltig, als der nachfolgende Satz lautet: "Deutschland wird die Aufnahme als ständiges Mitglied nur anstreben, wenn ein europäischer Sitz nicht erreichbar erscheint." Dies ist angesichts der hohen rechtlichen und politischen Hürden unrealistisch.
Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings das Argument des EU-Partners Italien, die Perspektive eines europäischen Sitzes könnte durch den deutschen Alleingang "chancenlos" werden, "wenn wir in der Einbahnstraße nationaler Egoismen fortfahren", und zu einer Spaltung Europas führen (so mehrfach der vormalige italienische Außenminister Frattini). Italien, das sich durch eine Aufwertung Deutschlands als ständiges Ratsmitglied politisch deklassiert fühlt und einen Machtverlust fürchtet, sieht im Rotationsprinzip den "Königsweg". Die italienische Regierung wie auch Staatspräsident Ciampi befürworten im Grundsatz den Modellvorschlag B: neue Mitglieder nur auf etwa vier Jahre, mit der Möglichkeit der Verlängerung.
Von welchen Interessen sich Italien in seiner Ablehnung eines ständigen Ratssitzes für Deutschland leiten lässt, im Sinne des weltpolischen Auftretens eines geeinten Europas ist diese Position glaubwürdiger.
Stellt man das nationale Begehren Berlins in einen europapolitischen Kontext, dann wird die Problematik des Zeitpunkts und der Forderung selbst offensichtlich. Angesichts der anstehenden Ratifikation des Verfassungsvertrags, der Europa zu einer außenpolitisch auftretenden Einheit durch einen Europäischen Außenminister erstarken lassen soll, ist der in der EU keineswegs konsensfähige Alleingang eines Mitglieds der europäischen Familie zumindest fragwürdig.
Warum favorisiert die Bundesregierung nicht im Einklang mit ihren EU-Partnern eine auf der Linie des Modells B liegende Rotationslösung, bei der jedes Unionsmitglied die Chance erhielte, für längere oder kürzere Zeit dem Sicherheitsrat mit Sitz und Stimme anzugehören? In einer funktionsfähigen europäischen Interessensallianz sollte wohl die jeweils notwendige Kandidatenwahl kein unüberwindbares Hindernis sein! Zusammen mit den beiden permanenten Ratsmitgliedern Frankreich und Großbritannien, die nach Artikel 19 des gültigen EU-Vertrags formal verpflichtet sind, sich für "die Standpunkte und Interessen der Union" im Sicherheitsrat einzusetzen, entstünde damit in New York eine machtvolle europäische Pha-lanx. Zur Erinnerung: "Deutschland soll ... auf die Forderung nach einem eigenen ständigen Sitz verzichten. ... [Wir] unterstützen den Vorschlag, ständige regionale Sitze im Sicherheitsrat einzuführen, die nach dem Rotationsprinzip besetzt werden." Ein Ratschlag aus dem Wahl-Programm 1998 von Bündnis 90/Die Grünen.
Da beide europäische Vetostaaten im Rat de facto nur dann gesamteuropäische Positionen vertreten, wenn diese eigenen Interessen nicht zuwiderlaufen, möchte nun die Bundesregierung als die "wahre Hüterin" europäischer Interessen in den Rat einziehen. Sie schlägt dabei in Wahrheit einen außenpolitischen Weg ein, der verdeutlicht, dass eine gemeinsame europäische Außenpolitik in der Substanz nach wie vor Stück-werk ist.
Die Erfolgschancen einer Sicherheitsratsreform auf der Grundlage der möglicherweise noch zu modifizierenden beiden Panel-Modelle sind derzeit völlig offen. Die Bundesregierung drängt auf eine Entscheidung über eine Erweiterung - ganz im Sinne des UN-Generalsekretärs - noch vor Beginn der 60. Jubiläumsgeneralversammlung Mitte September 2005 und bereitet zusammen mit den Mitbewerbern aus den anderen Weltregionen entsprechende mehrstufige Resolutionen vor, die Deutschland - letztlich wohl unter Verzicht der Vetoforderung - die Tür zum Sicherheitsrat als ständiges Mitglied öffnen soll. Die bisherigen Debatten im UN-Plenum über eine Ratsreform deuten zwar auf eine numerische Mehrheit für solch ein Begehren hin, fraglich bleibt jedoch, ob die notwendige Mehrheit von 128 Stimmen zu erreichen ist. Gegenvorschläge haben bisher keine Aussicht auf eine entsprechende Zustimmung. Selbst ein naheliegenderKompromiss findet derzeit (noch?) wenige Befürworter: den Artikel 23,2 der UN-Charta dahingehend zu ändern, dass die Zahl der nichtständigen Mitglieder erhöht, die bisherige Sitzverteilung nach geographisch-politischen Gesichtspunkten modifiziert wird und nach der jeweils zweijährigen Ratszugehörigkeit eine unmittelbare Wiederwahl möglich ist.
Welche Position die Vereinigten Staaten als weltpolitische Führungsmacht hinsichtlich einer Ratsreform einnehmen, ob sie eine der beiden Varianten unterstützen oder einen eigenen Reformvorschlag einbringen werden, welche Kandidaten sie unterstützen, ist derzeit völlig unklar. Sollte die Hürde im Sinne Berlins in der Generalversammlung schließlich doch erfolgreich überwunden werden, steht ein langwieriger Ratifikationsprozess bevor; das Inkrafttreten der gewichtigen Charta-Änderung ist nicht zuletzt von der Zustimmung der Parlamente der bisherigen fünf ständigen Ratsmitglieder abhängig; so muss auch der ausgesprochen UN-kritische US-Kongress - der Senat gar mit Zweidrittelmehrheit - bereit sein, die Lösung zu akzeptieren.
Die durch den Skandal um das milliardenschwere Hilfsprogramm für den Irak angeschlagene Autorität Kofi Annans dürfte den amerikanischen UN-Skeptikern weiteren Auftrieb für eine ihre Blockadehaltung geben. Zu glauben, der US-Kongress ließe sich davon beeindrucken, dass möglicherweise die überwiegende Staatenwelt ratifiziert, könnte sich als Wunschvorstellung erweisen.
Da sich die derzeitige Diskussion zu sehr auf den Sicherheitsrat verengt hat, treten die in den beiden Reformberichten und auch in der Rede von Bundesaußenminister Fischer vor der 59. Generalversammlung im September 2004 angeführten Vorschläge für eine umfassendere Reform der Vereinten Nationen in den Hintergrund. Zu befürchten ist, dass bei einem Scheitern der Ratserweiterung der Elan der Staatenwelt zur Inangriffnahme dringend notwendiger anderweitiger, substantieller Reformen erlahmt, was den Vereinten Nationen wieder einmal zu Unrecht eine Reformunfähigkeit bescheinigen würde.