Sicherheitspolitische Divergenzen im transatlantischen Bündnis
Unverkennbare Symbolik jüngst beim 60. Jahrestag des Kriegsendes: Der amerikanische Präsident untermalt die abgekühlte strategische Partnerschaft mit dem russischen, indem er Putin offen kritisiert, da eine Entschuldigung für die sowjetische Besatzung des Baltikums auf sich warten lässt; bei einem Abstecher nach Riga pflegt er die malträtierte baltische Seele, bevor er nach Moskau fährt. Der Bundeskanzler hingegen macht sich stracks dorthin auf, ohne zuvor das "geteilte Gedächtnis" Europas ans Kriegsende aufzufrischen, das hüben Befreiung, drüben aber den braunen mit dem roten Totalitarismus vertauschte. Schröder bat das russische Volk zudem um Vergebung für das Leid, das ihm "in deutschem Namen zugefügt wurde". Für manchen Beobachter wie Claus Leggewie hatte es den Anschein, als wolle der Kanzler, der die imperiale Politik Russlands ignoriere, "partout an der Seite Putins und anderer Staatsoberhäupter Rang und Akzeptanz der deutschen Mittelmacht unterstreichen, wie schon ein Jahr zuvor bei der Feier des D-Day in der Normandie".
Mit derselben Nonchalance wirbt Schröder zusammen mit Chirac um die Gunst Pekings. Schon sechs Mal in sechs Amtsjahren bereiste er mit einer Wirtschaftsdelegation China, dessen Spannungen zu Taiwan und Japan sich verschärfen. Zum Ärger Washingtons wollen beide das Waffenembargo der Europäischen Union gegen den von den USA gefürchteten und aufsteigenden chinesischen Drachen aufheben. Damit und mit dem Streben nach einer strategischen Partnerschaft mit Russland konterkarieren sie die US-Strategie der Einhegung der beiden undemokratischen Großreiche. In Deutschland selber, wo die US-Army die Drehscheibe Ramstein für 200 Millionen Euro ausbaut, den größten Flugplatz der Air Force außerhalb der USA, erheben sich wieder Stimmen für den Abzug der amerikanischen Atomwaffen.
Umgekehrt leistet Washington offen Widerstand gegen den von Berlin angestrengten permanenten Sitz im Sicherheitsrat der UNO, worin Fischer-Kritiker ebenfalls das neue Mittelmacht-Streben wähnen. In dieser Frage tritt ebenso das Dilemma Europas zu Tage. Während die Deutschen an einer Interessenkoalition mit Mächten wie Brasilien, Indien und Südafrika basteln, hält Berlusconis Amerika treu ergebenes Italien eifersüchtig dagegen; doch auch der permanent zum Schulterschluss angerufene französische Freund zeigt - wie die andere europäische Atommacht, Großbritannien - wenig Sympathien.
Die Gespaltenheit Europas, die nach der Vereinigung von Ost und West erheblich wuchs, macht es den USA leicht, mit Hilfe einer jeweiligen Koalition von Willigen den außen- und sicherheitspolitischen Willen der EU zu dirigieren - und Washington unwillkürlich verdächtig, dies zu betreiben. Wie im Falle des NATO-Beitritts der Mittelosteuropäischen Länder. Diese klammern sich aus historischen Ängsten sicherheitspolitisch weniger an die EU als an "America, land of the free". Auch bei der Durchsetzung zweier Konservativer, im Falle des neuen NATO-"Generals" De Hoop Scheffer (Niederlande) sowie des einstigen Maoisten und EU-Kommissionspräsidenten Barroso (Portugal) anstelle des favorisierten liberalen Juncker (Luxemburg), soll die amerikanische Hand im Spiel gewesen sein. Schließlich trägt die Ignoranz, die nach Jahrzehnten vorbildlicher Integration der europäischen Verfassung selbst in Deutschland und Frankreich entgegenschlägt - die doch erst "den Rahmen für eine handlungsfähige Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik schafft" (EVP-MdEP Elmar Brok) - nicht zu einer gestärkten Identität bei.
Seit längerem beklagen manche, so Altkanzler Schmidt, dass seit Anfang der 90er-Jahre "auf dem Felde der europäischen Einigung ein zielloses Durchwursteln" herrsche, insbesondere Mängel in der Berliner und Pariser Europa-Politik, von der GASP zu schweigen, als "Kern der europäischen Selbstbehauptung". Auf dem Höhepunkt des US-Aufmarschs am Golf rief der Mann, der die NATO-Nachrüstung umsetzte, Anfang 2003 die EU auf zu einer "bewussten Anstrengung, uns nicht in eine Konfrontation mit dem Islam hineinmanövrieren zu lassen", denn: "Wir haben ein gemeinsames Interesse, uns nicht einer Hegemonie durch unseren mächtigen Verbündeten USA auszuliefern." Sonst werde Europa in die unbedeutende Rolle Athens zu Zeiten des Imperium Romanum abgleiten.
Das will das geschwächte Tandem Paris-Berlin nicht. Doch die NATO als Verteidigungs- und Wertegemeinschaft, die in vier Jahrzehnten tödlicher Systemkonkurrenz der Bedrohung standhielt - bis 1989 indes auch niemals getestet wurde und erst nach dem 11. September erstmals den Ernstfall ausrief - ist spätestens mit dem Irak-Krieg ins Wanken geraten. Während Europa nach 1990 zunächst von der "Friedensdividende" säuselte und abrüsten wollte, modernisierten die USA ihre Streitkräfte. Ergebnis ist die unvergleichlich hoch technisierte Militärmacht der einzigen Supermacht.
Der bei Clinton ansatzweise erkennbare, bei Bush Junior provozierende Paradigmenwechsel in politisch-strategischer Hinsicht führte schließlich zu dem Bruch, der 2002/2003 im Irak mit Washingtons unilateralem Vorgehen gegenüber UNO, NATO und EU offenbar wurde. Seitdem sehen nicht wenige Amerikaner in Europa den schlappen Decadent - viele hier in Amerika ein kreuzzüglerisch aufgeladenes neues Rom mit Bush als dem texanischen Vespasian.
Seitdem driften die Welten beidseits des Atlantik offen auseinander, ist von einem neuen Kalten Krieg im Ringen zwischen den USA, Russland und China um Einflusszonen die Rede. Zentraler Zankapfel: der nach Zentralasien (Eurasien) , den "moslemischen Unterleib der früheren UdSSR", erweiterte Greater Middle East mit unermesslichen Rohstoffen an Öl, Gas bis Gold.
Unverkennbar sind die strategischen Veränderungen in Washington seit den traumatisierenden Anschlägen von 2001, die den Mythos von Amerikas Unverwundbarkeit zerstörten. Der internationale Terror, "Regime Change in Failed States", die Massenvernichtungswaffen oder zumindest Instabilität verbreiten wie Irak und Afghanistan, werden mit militärischen Mitteln angegangen. Nicht nur aus der arabischen Ecke unterstrich mancher dabei die funktionale Rolle, die der Terrorismus für eine auf Hegemonie ausgerichtete Weltpolitik spiele. Mit dem Effekt, dass bei Fragen von Demokratie und Menschenrechten gelegentlich beide Augen verschlossen bleiben wie früher im Falle lateinamerikanischer Diktatoren, so sie nur "tough" im Kampf gegen den Kommunismus waren - nun ist Härte im Kampf gegen Terror gefragt.
Dabei suchten die USA nach 1945 beim Siegeszug der Roten Armee gen Westen - bis heute, wie US-NATO-Botschafter Burns bei seinem Ausscheiden im März noch betonte - erst West- und dann auch Ost-Europa im wohlverstandenen Eigeninteresse ökonomisch und militärisch zu stärken. Klug lavierte Bonn von Adenauer bis Kohl zwischen Amerikatreue und Aussöhnung mit Frankreich - trotz de Gaulles Eigenarten wie seinem Widerwillen sowohl gegenüber den USA als auch dem Jahrhunderte alten "Erbfeind" England sowie sein Beharren auf einem "Europa der Vaterländer". Diese sollten auch im 1947/48 einsetzenden Integrationsprozess keineswegs untergehen, dem Deutschland-West sich ganz verschrieb.
Die Vorstufe zur Integration bildete die nach Verkündung des Marshallplans 1947 zur Verteilung der ERP-Gelder aus USA eingeführte OEEC (heute OECD), die den Westen stabilisieren half. Trotz Europabewegung und Gründung des Europarats 1948/49 nach Churchills Züricher Rede von den "Vereinigten Staaten von Europa" (1946) scheiterte die geplante Europa-Union 1951. Dafür entstand der vor allem sicherheitspolitisch motivierte künftige Wirtschaftskern, die Montanunion der sechs späteren EWG-Gründerstaaten. Weitere Folge des Koreakrieges und des amerikanischen Drängens nach Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik war der 1952 geschlossene Pariser Vertrag zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) unter deutscher Beteiligung und in Anbindung an die NATO, der 1954 an der Nationalversammlung scheiterte. Weitere, vor allem französische Initiativen der 50er- und 60er-Jahre, die die transatlantische Bindung Bonns schwächen sollten, vermochten an der Westorientierung der Bundesrepublik in Folge der Pariser Verträge von 1954 mit der Gründung der Westeuropäischen Union (WEU) und dem Beitritt zur NATO (1955) nichts zu ändern. Die WEU blieb eine anonyme, bürokratische Durchgangsstation auch später, als seit den 70er- und 80er-Jahren der "europäische Pfeiler innerhalb der NATO" zunehmend diskutiert, jedoch nicht materialisiert wurde.
Nach der allmählichen Aufstellung eigener, nicht der NATO unterstehender Verbände in den 90ern, beginnend mit der 1989 aus der Taufe gehobenen Deutsch-Französischen Brigade, beschloss der Europäische Rat 1999 eine eigene Eingreiftruppe; die nicht einmal ansatzweise vorhandene GASP sollte durch
eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ausgebaut werden. Das geht bis heute nicht ohne die Briten. Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien sprachen sich zudem für einen Europäischen Generalstab aus. Vor allem Großbritannien jedoch sträubt sich gegen solche Parallelstrukturen neben der NATO.
Als Kern der neuen Krisenreaktionskräfte dient das - aus der Brigade hervorgegangene, mittlerweile um Niederländer, Belgier und Spanier erweiterte Eurocorps, das seine Bewährungsprobe auf dem Balkan bestand. Während dort 1998 der Hauptangriff auf Serbien noch unter NATO-Oberbefehl erfolgte, waren EU-Truppen danach in Mazedonien ebenso erfolgreich, einen Bürgerkrieg unter verfeindeten Ethnien zu verhindern wie 2005 der designierte EU-Außenminister Solana in der Ukraine. Ferner schützten Europäer im Kongo tausende Menschen vor Übergriffen brutaler Milizen. Noch immer sichern in einem dritten Einsatz 7.000 Europäer (EUFOR) den brüchigen Frieden und Wiederaufbau in Bosnien-Herzegowina.
Die mit "Iraqi Freedom" erst Recht vordringliche Suche nach den Regeln einer "neuen Weltordnung" (Bush Senior), die Ernst-Otto Czempiel eine "neue Weltunordnung" nannte, begann mit dem Zusammenbruch der UdSSR. Der Begriff kam auf, nachdem in der Kuwait-Krise 1990/91 erstmals seit Jahrzehnten der Blockierung ein konstruktives Zusammenspiel im UN-Sicherheitsrat möglich geworden war. Seitdem kam es wiederholt zu Interventionen meistens unter amerikanischer Führung mit oder ohne Unterstützung durch die UNO, etwa in Somalia. Das NATO-Eingreifen in Bosnien und im Kosovo wurde unter maßgeblichem Einsatz Fischers mit dem Begriff der "humanitären Intervention" legitimiert, wie auch in Osttimor. Die Frage indes, ob Militärinterventionen westlicher Demokratien zwangsläufig eine langjährige Wiederaufbauleistung wie auf dem Balkan, in Afghanistan und jetzt im Irak nach sich ziehen, die den USA abhold scheinen, dürfte mit dem wachsenden irakischen Widerstand und weit mehr an Toten als während der Befreiung von Saddam beantwortet sein. Deshalb möchte Struck in der NATO jetzt auch für Afghanistan klare Ziele diskutiert wissen.
Zudem regelt neben der geplanten Verfassung die neue Sicherheitsstrategie der EU, ob man der Bush-Doktrin von 2002 nicht zu weit entgegengekommen sei. Danach darf - anders als in der US-Doktrin mit dem Recht zum "preemptive strike" - die EU ihre zivilen oder militärischen Operationen - die Kofi Annan sich zur Verhinderung eines weiteren Ruanda jüngst ausdrücklich gewünscht hat - nur "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen" ausführen. In einem weltweit einmaligen Akt unterwirft sie sich dem UN-Gebot und dem Völkerrecht. Einen Angriffskrieg unter deutscher Beteiligung - wie von Antifas und Attac behauptet - darf es nicht geben. Im Übrigen werden Gefahren wie der Terrorismus auch als Folge von sozialer Verelendung gesehen, auf die man zunächst mit zivilen Mitteln reagieren müsse. Außerdem wird eine EU-"Verteidigungsagentur" in Angriff genommen, die die teuren Rüstungsprojekte koordinieren soll.
Auf der Prioritätenskala der USA ganz oben stehen "the war on terror", die Verhinderung der Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen und Interventionen zur Umwandlung von Schurkenstaaten, die Einhegung Russlands und Chinas durch geo-politische Kontrolle über Eurasien. Das alte Europa ist sekundär. Im innenpolitisch motivierten Streit um die Atom-Aufbereitung in Iran wird sich zeigen, ob sich der Ansatz der Härte der nach dem Irak-Debakel etwas zurückrudernden USA durchsetzt - wie im Februar bei der "Charme-Offensive" der neuen Außenministerin Rice erkenntlich - oder Europas "soft power". Denn für die EU, die weiterhin wesentlich mit sich selbst beschäftigt sein wird, stehen jüngste und kommende Erweiterungen sowie die Aufwertung des Multilateralismus in Form der UNO obenan, dann erst die wechselseitige Abhängigkeit vom mittlerweile "gefesselten Riesen" USA (Stephan Haseler) und die Stabilisierung der Nachbarregion Nahost. Wie der konservative niederländische Außenminister Bot in einem Beitrag in der "Süddeutschen Zeitung" (12. Mai) formulierte: "Eine europäische Werte- und Interessengemeinschaft macht wehrhafter gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts: Massenvernichtungswaffen, Terrorismus, Umweltzerstörung und Klimawandel, organisierte Kriminalität und Menschenhandel." In Washington ist nur von den ersten beiden Bedrohungen zu hören.
Wie Schröder beim Auftakt der letzten Münchner Sicherheitskonferenz hat sein Verteidigungsminister Mitte Mai erneut mehr Effizienz der NATO gefordert. Dort müsse der politisch-strategische Dialog forciert werden, könne "nicht länger das Abnicken vorgefertigter Kommuniqués" stattfinden. Struck fühlte sich bemüßigt zu ergänzen, Bush habe deutlich gemacht, "dass die USA die Europäische Union weder gering schätzen noch spalten wollten". Am selben Tag sprach der NATO-Generalsekretär in Berlin von der Notwendigkeit einer "echten strategischen Partnerschaft" zwischen NATO und EU. Es gab Zeiten, in denen die NATO dastand als das militärische Standbein der alten Zwölfer-EU, mit den USA (und Kanada) obenauf. Insgesamt können und wollen die meisten Europäer sich gar nicht abkoppeln vom unverzichtbaren amerikanischen Alliierten, so sehr manche auch die militarisierte Außenpolitik angreifen.
Das Tandem indes steht vor der Wahl, dem neuen Machtspiel um Eurasien zuzuschauen beziehungsweise Russland und China zu hofieren oder aber das von den USA abhängige Großbritannien und auch - nach Berlusconi - Italien (wie bereits Spanien nach dem Bush-Freund Aznar) stärker einzubinden, um Kerneuropa innerhalb der EU-Strukturen als Korrektiv zur sich überdehnenden Macht der USA anzutreiben.
Multilateralismus, Toleranz und Ausgleich statt Arroganz der Macht und neo-imperiale Selbstherrlichkeit. Diese magnetische Kraft wird - wie einst der Westen - auf die Europäer aus dem neuen Osten und andere Länder ausstrahlen. Ausgerechnet der konservative britische Publizist Haseler meinte jüngst: "Rechnet man die Trends hoch, wird China die Vereinigten Staaten überholen - gegen Mitte dieses Jahrhunderts. Deshalb gibt es nur eine einzige neue Macht auf der Welt, die kurzfristig in der Lage sein könnte, Amerika das Wasser zu reichen. Das ist Europa."
Dr. Konrad Watrin arbeitet als freier Journalist, Autor und Lehrer in Aumühle.