Erinnerungen
Von Anfang an gehöre ich zu den Besten - zumindest soll ich das wohl glauben: Ich gehöre der besten Waffengattung - amphibische Pioniere - an, meine Gruppe - die sechste - ist die beste meines Zuges, mein Zug - der zweite - ist der beste der Kompanie, meine Kompanie - die dritte - ist die beste des Battaillons, das Battaillon - das 330. - das beste des Korps, das Korps - das dritte - ist das beste der Bundeswehr, die Bundeswehr ist die beste Armee der NATO. Ende der Durchsage. Doch irgendwie hege ich Zweifel. Wenn ich zu den Besten gehöre, warum vermittelt man mir und meinen Kameraden, so der militärische Ausdruck für Leidensgenosse, dass wir eigentlich zu nichts taugen. Wir sind "Füchse" oder "Mädels", die noch nicht einmal allein zum Frühstück gehen dürfen. Rekruten eben. Aber ich denke wahrscheinlich zu viel - typisch Abiturient würde mein "Stuffz", mein Stabsunteroffizier, jetzt wieder sagen.
Die nächsten 15 Monate scheinen ihren erwarteten Lauf zu nehmen. Als Vertreter der "Generation Golf", so werde ich es viele Jahre später in einem gleichnamigen Buch lesen können, glaube ich fest daran, dass die 80er-Jahre so enden, wie sie begonnen haben: Helmut Kohl wird noch immer im Kanzleramt sitzen, und "der Russe" noch immer an der Elbe stehen. Und so gestaltet sich zunächst auch der tägliche Dienstplan in der Grundausbildung: Aufstehen, waschen, anziehen, frühstücken, Sport, schießen, marschieren, Mittagessen, Tarnen und Täuschen im Gelände, Dienstschluss, ein Bier, zwei Bier, drei Bier, hundemüde ins Bett fallen, selbst das Schnarchen der fünf Stuben-Kameraden überhörend einschlafen. Dazwischen immer wieder Stuben- und Revierreinigen mit anschließendem Stubendurchgang und brüllenden "Uffzen", sprich Unteroffizieren: "Wer hat auf dem Tisch gestanden? Niemand? Dann kann auch niemand auf der Deckenlampe Staub gewischt haben! Nachreinigen!" Innen-Dienst nennt sich das. Ganz gleich, wie gut oder wie schlecht die Bundeswehr im Vergleich zu anderen Armee wirklich abschneidet, eines steht fest: Wir sind nicht nur "eine starke Truppe", wie auf diesen kleinen Aufklebern überall im Kasernenblock zu lesen steht, wir sind die mit Abstand sauberste Armee der Welt. Das ist ein ganz mieser Trick - damit erschleicht sich der Bund die Sympathien aller Soldatenmütter Deutschlands.
Aber eigentlich geht es mir ganz gut: Für einen gelernten Gymnasiasten ist der Wehrsold ein nettes Sümmchen (für die Kollegen, die vorher bereits "richtig gearbeitet" haben dafür eine Katastrophe) und mein Standort, die Kurpfalzkaserne in Speyer, liegt 20 Autominuten von meinem Elternhaus entfernt - dass deutsche Soldaten in ein paar Jahren tausende von Kilometern entfernt am Hindukusch Wache schieben müssen, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand.
Dann hat die Grundausbildung ein Ende, die Rekrutenprüfung ist bestanden, es folgt das Gelöbnis: "Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen." Ich gestehe, mir ist damals ein Schauer über den Rücken gelaufen, und ein wenig stolz war ich wohl auch. Wie auch immer, wir dürfen uns nun Soldaten nennen. Die "Uffze" und Stuffze" brüllen deswegen aber nicht leiser und die Truppenverpflegung schmeckt nicht besser.
Es folgt die spezielle Ausbildung: Wir sollen Brücken bauen - nicht menschliche, sondern militärische. Mit unseren "Alligatoren", so nennen sich die schon reichlich in die Jahre gekommenen Amphibienfahrzeuge, überbrücken wir den Rhein so schnell, dass es für Caesar eine wahre Freude gewesen wäre - für unsere Ausbilder dauert es immer zu lange. Mir dauern dafür diese Übungen und Manöver zu lange: 24-Stunden-Kampftag, 36-Stundenkampftag, 48-Stunden-Kampftag - zu viel Kaffee, zu viele Zigaretten und zu wenig Schlaf.
Eines morgens zeigt der Kalender den 9. November 1989, und 24 Stunden später frage ich mich, was ich hier noch soll. Die Mauer ist weg! Da steh ich in meinem olivgrünen Kampfanzug mit meinem G-3-Sturmgewehr in der Hand auf dem Kasernenhof und denke: "Eigentlich können die uns doch jetzt nach Hause schicken." Die Bundeswehr reagiert prompt: Bei Manövern "überschreitet Rot-Pakt nicht mehr die innerdeutsche Grenze", die Plakate mit dem Bild des sowjetischen "T-80" und der Aufschrift "Achtung, wenn Sie diesen Panzer sehen" verschwinden aus dem Kasernenblock.
Den 15. Monat meiner Wehrdienstzeit - es ist August 1990 - verbringe ich in Griechenland; vier Wochen aufgesparter Urlaub. In Athen verfolge ich am Fernseher, wie Saddam Husseins Soldaten das kleine aber reiche Öl-Scheichtum Kuwait innerhalbvon drei Tagen einkassieren. Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch.
Wenige Monate später sitze ich in der Cafeteria der Uni Heidelberg zusammen mit einem "alten Kameraden" - jetzt nennt man uns Komilitonen. Deutschland ist wiedervereinigt, der Russe zieht von der Elbe ab, aber Helmut Kohl sitzt noch immer im Kanzleramt. Nach endlosen Bombardements schicken sich die Amerikaner mit ihren Verbündeten gerade an, die Iraker in einem "Desert Storm" aus Kuwait zu werfen. Mein alter Kamerad verkündet mir, genüsslich in sein Brötchen beißend, dass er den Wehrdienst nachträglich verweigern wird. Ich bin perplex. "Wieso?", frage ich. "Wart's nur ab, irgendwann müssen wir bei sowas mitmarschieren, da hab ich keinen Bock drauf", bekomme ich zur Antwort. Die 80er-Jahre sind vorbei.
Alexander Weinlein ist Redakteur der Wochenzeitung "Das
Parlament"