Der vergessene UN-Einsatz im Kaukasus
Während des Zerfallsprozesses der Sowjetunion brachen sich lange verdrängte Nationalitätenkonflikte Bahn. Als die frühere Sowjetrepublik Georgien ihre Unabhängigkeit erklärte, proklamierte auch die zu dem Land gehörende Autonome Republik Abchasien 1991 ihre Souveränität. Im Kampf gegen die separatistischen Bestrebungen der abchasischen Minderheit setzten die georgischen Politiker allein auf militärische Mittel, um die "Abtrünnigen" zurück zu zwingen. Der Krieg in der georgischen Provinz Abchasien verlief jedoch nicht nach Plan: Im Sommer 1993, als sich der georgisch-abchasische Krieg einer Entscheidung zu nähern schien, schaltete sich unerwartet Moskau ein. Die russische Armee nutzte das Machtvakuum und besetzte kurzerhand das Grenzgebiet entlang des Flusses Inguri, das die beiden verfeindeten Parteien voneinander trennte. Danach versuchte der Kreml, die russische Militärpräsenz in der Region durch ein UN-Mandat abzusichern. Nachdem dies nicht gelungen war, erklärte Moskau seine Truppen zu "Friedensstiftenden Kräften" (FSK) der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Allerdings weigerten sich die übrigen GUS-Partner, die "Friedensstiftenden Kräfte" mit eigenen Truppen zu unterstützen.
Da die georgische Führung dem Kreml unterstellte, Russland stehe auf Seiten der Abchasen, forderten sie von der UNO neutrale Beobachter an. Der UN-Sicherheitsrat fand schließlich einen Kompromiss: Eine Beobachtermission (United Nations Observer Mission in Georgia - UNOMIG) sollte von nun an die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens kontrollieren, das zuvor von den Kriegsparteien in Moskau unterzeichnet worden war. Darüber hinaus erhielten die UN-Beobachter den Auftrag, die Tätigkeit der FSK vor Ort zu überwachen.
Offiziell installiert wurde die UNOMIG durch die Sicherheitsrats-Resolution 858 vom 24. August 1993. Laut dem in Moskau geschlossenen Abkommen dürfen die georgische und die abchasische Kriegspartei in der Sicherheitszone 1 - also je zwölf Kilometer hinter der Grenze - nur mit Schusswaffen (Pistole, Kalaschnikow) ausgestattete Polizeikräfte unterhalten. In die Zone 2, die ebenfalls je zwölf Kilometer breit ist, dürfen weder schwere Militärtechnik und noch Waffen mit einem Kaliber von mehr als 89 Millimeter verbracht werden. Russland übernahm die militärische Überwachung des Abkommens und richtete Kontrollpunkte in den Sicherheitszonen ein.
Die Militärbeobachter der Vereinten Nationen halten sich insgesamt in drei Sektoren auf: in Suchumi, Gali und Sugdidi. Seit 1994 beteiligt sich auch die Bundeswehr an dem UNOMIG-Einsatz: Bislang haben 220 Bundeswehrsoldaten an der Mission teilgenommen. Zurzeit stellt die Bundeswehr drei Militärbeobachter, drei Militärärzte und fünf Sanitäter, die die UNOMIG-Soldaten medizinisch betreuen. Den Steuerzahler hierzulande kostet dieses Engagement jährlich über 1,1 Millionen Euro.
Auch wenn der UNOMIG-Einsatz zu den kleineren Missionen zählt, gehört er doch zu den gefährlicheren. Neben der "normalen" Beschaffungskriminalität wird das Leben der Militärbeobachter durch die Kriegsparteien bedroht. Während der Patrouillenfahrten sterben immer wieder Soldaten durch schwere Panzerminen, die georgische Partisanen auf der Route vergraben haben, die die Streifen passieren müssen. Schwere Verletzungen sind an der Tagesordnung. Hinzukommen Entführungen, auch von Bundeswehrangehörigen, zuletzt Anfang Juni 2003. Trauriger Höhepunkt aus deutscher Sicht: Am 8. Oktober 2001 wurde ein deutscher Oberstabsarzt beim Abschuss eines UN-Hubschraubers getötet.
"Wir helfen hier einen Krieg zu verhindern", sagte 1998 Oberbootsmaat Sven Christiansen dem Autor. Bei seinen Patrouillenfahrten hatte Christiansen nur ein Sprechfunkgerät bei sich, Waffen sind auch zur Selbstverteidigung nicht erlaubt. "Wir wollen einen kleinen, aber wichtigen Beitrag zum Frieden leisten", stimmte ihm sein Kamerad Heiko Dittkrist aus Bad Zwischenahn zu.
Auch Korvettenkapitän Uwe Seiffert aus dem Marineamt Rostock wollte nicht zu den Schreibtischhelden gehören. Er war schon dreimal in Georgien im Einsatz: "Wir können den georgisch-abchasischen Konflikt nicht lösen, aber wir tragen doch dazu bei, ein erneutes Ausbrechen der Kampfhandlungen zu verhindern". Drei Jahre später, im Oktober 2001, war die Motivation der deutschen UNOMIG-Soldaten ungebrochen. Die Bundeswehr habe nach der Wende völlig neue Aufgaben übernommen, und "ich wollte dabei sein", sagte Sanitäterin Tanja Mauersberger aus dem Marinestützpunkt Olpenitz dem Autor im Sektor Gali (Abchasien). Und Hauptmann Klaus Peter Prommern aus Neubrandenburg hatte immer schon eine Aufgabe im Ausland gesucht: "Ich bin stolz darauf, einer von drei deutschen Militärbeobachtern hier bei der UNO zu sein".
Abchasien - ein subtropisches Gebiet am Rande Europas mit 40 Grad im Schatten und einer Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent. In den ersten Jahren mussten die UNOMIG-Angehörigen noch einen Stahlhelm und eine kugelsichere Weste tragen, selbst während der Patrouillenfahrt in einem rundum geschlossenen und gepanzerten Fahrzeug. Lange konnte die deutsche Standardausrüstung mit der Motivation und dem Engagement der Bundeswehrsoldaten nicht mithalten. Die Stiefel waren für den Einsatz im subtropischen Klima ungeeignet. Deshalb kauften sich die deutschen Soldaten auf eigene Kosten bei den US-Streitkräften leichtere Sommerstiefel - auch gebraucht, wie bei armen Verwandten üblich. Der deutsche Fleckentarnanzug trieb den Frauen und Männern den Schweiß nur so aus den Poren. Bis in den Herbst 2001 - also sieben Jahre nach Beginn des Einsatzes - besaßen die deutschen Soldaten keine tropentaugliche Ausrüstung.
Obwohl der Deutsche Bundestag seine Streitkräfte mit Friedensmissionen bereits nach Somalia, Kambodscha und den Irak geschickt hatte, mussten sie sich Tropenkleidung ausleihen: von Frankreich, wie im Fall der deutschen Hubschrauber-Piloten im Irak oder eben von den USA. Die Bundesrepublik Deutschland als eine der reichsten Nationen der Welt schien sich nicht um die konkrete Ausstattung ihrer Soldaten zu kümmern, die auch bei Friedenseinsätzen ihr Leben riskieren. Dabei bettelten Generäle schon seit Mitte der 1990er Jahre um Tropenuniformen. Immerhin erlebte der Autor bei seinem zweiten UNOMIG-Besuch im Herbst 2001 eine angenehme Überraschung: Glück-lich zeigten die Soldaten ihre neuen Tropenuniformen her. Auch der Kontakt mit den Daheimgebliebenen war jetzt einfacher möglich: "Wir können unsere Familien jetzt über eine Sondernummer via New York oder per Internet erreichen."
Obwohl die deutschen Blauhelme von allen Kameraden ausnahmslos respektiert wurden, von Russen und Indern ebenso wie von Polen und Franzosen, blieben sie seltsam zurückhaltend. Der tschechische Oberstleutnant Jaroslaw Luisek zählte die Deutschen 1998 in einem Gespräch mit dem Autor "zu den besten hier". Sie seien "professionell, diszipliniert, verlässlich". Sein ungarischer Kollege schätzte besonders ihre Unteroffiziere: "Gute Freunde, immer ansprechbar." In die multinationale Anerkennung mischte sich Rätselraten darüber, warum manche Bundeswehroffiziere "seltsam gehemmt" wirkten. Zuwenig Erfahrung mit UN-Einsätzen? Warum nahm ein deutscher Offizier den willkürlichen Befehl eines rangniederen UN-Kollegen hin, obwohl alle Nationen gleichberechtigt sind? Und weshalb hing vor jedem nationalen Gruppenquartier neben der UN-Fahne die des Heimatlandes - nur nicht bei den Deutschen? "Sie müssen sich doch nicht dafür entschuldigen, dass sie dabei sind", wunderte sich ein Osteuropäer über einen Stil, den der damalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) als "Kultur der Zurückhaltung" einüben ließ.
Drei Jahre später waren die deutschen Soldaten nicht mehr so "zurückhaltend". Sie waren endlich angekommen in der Normalität der Auslandseinsätze im Kreis befreundeter Nationen. Die Soldaten wurden wegen ihrer Leistung, aber auch als Deutsche respektiert. Oberstabsarzt Dieter Eißing meinte dazu: "Von der Geschichte merkt man überhaupt nichts mehr." Und Hauptmann Prommern bestätigte: "Als Deutscher habe ich absolut keine Probleme, wir werden in der Mannschaft und von der einheimischen Bevölkerung geschätzt."
Auf dieses Wohlwollen sind vor allem die UNOMIG-Soldaten angewiesen, schließlich tragen sie keine Waffen. Der britische Oberstleutnant Andrew Marriott, Sektor-Kommandeur in Sugdidi und ein erfahrener Ausbilder, will eigentlich nicht über die Qualität seiner internationalen Truppe sprechen. "Aber über die deutschen Soldaten kann ich eines sagen: Während der anderthalb Jahre, die ich als Kommandeur hier bin, haben sich alle Deutschen, die hier waren, als gute Soldaten erwiesen. Bei der UNOMIG gehören die Deutschen zu denen, die gute Ausbildungsstandards mitbringen und eine gute Professionalität." Tatsache ist, dass die Bundeswehr ihre Soldaten nicht unvorbereitet zur UNOMIG schickt. Neben der Sprachausbildung kommen Berufs- und auftragsgebundene Praktika hinzu.
Als der UN-Hubschrauber mit Oberstabsarzt Dieter Eißing an Bord im Oktober 2001 zu einem Patrouillenflug über der abtrünnigen georgischen Provinz Abchasien abhob, konnte niemand ahnen, dass es kein Wiedersehen geben würde. Obwohl der Hubschrauber mit zwei Raketen abgeschossen wurde und es keine Überlebenden gab, nahm die deutsche Öffentlichkeit kaum Notiz von der Tragödie im Kaukasus. Der erste deutsche Soldat, der seit dem Zweiten Weltkrieg während eines Einsatzes ums Leben am, gehörte zur Beobachtermission der Vereinten Nationen in Georgien (UNOMIG). Die politische Führung des Bundesministeriums für Verteidigung empfahl den zuständigen Stellen, kein "Fahnenbegräbnis" zu organisieren. Erst Verteidigungsminister Peter Struck brach mit dieser "Politik des Schweigens": Die im Rahmen von Auslandseinsätzen im Dienst für ihr Vaterland und den internationalen Frieden gefallenen deutschen Soldaten werden seitdem mit mehr Respekt verabschiedet.
Jeden Tag aufs Neue müssen die UNOMIG-Soldaten das Grenzgebiet zwischen Georgien und Abchasien durchkämmen, um festzustellen, ob die Konfliktparteien widerrechtlich Waffen in ihr Gebiet geschmuggelt haben. Die Gefahr ist allgegenwärtig: Seit 1994 sind mehr als ein dutzend Mal Soldaten als Geiseln genommen worden. Eine Bodenpatrouille wurde getötet, als sie eine von georgischen Partisanen vergrabene Mine überfuhr. Und in Suchumi wurde ein Bus, besetzt mit Beobachtern, darunter auch Deutsche, von Abchasen mit einem Granatwerfer beschossen. Trotzdem befand im Herbst 2001 eine Bundeswehrkommission, dass es sich bei der UNOMIG um "einen einfachen Einsatz handelt, der nicht mehr gefährlich" sei. Der Kommentar eines Militärarztes vor Ort lautete damals: "Das stimmt nicht. Wir leben in ständiger Angst vor Entführungen. Wir sind unbewaffnet und völlig auf den russischen Militärschutz angewiesen." Keine große Hilfe, denn die russischen Einheiten wurden an wenigen Stellen zusammengezogen und kontrollieren nicht die gesamte Konfliktregion.
Belastend seien zudem die Lebensbedingungen der Einheimischen: "Sie haben keinen Strom, kein Wasser, sind schlecht ernährt", erzählte Sanitätsoffizier Eißing kurz vor seinem Tod. Die Bürokraten in der Heimat rührt das alles nicht. Schon vor dem Abschuss des UN-Hubschraubers hatten die Soldaten erfahren müssen, wie die Beamten im fernen Verteidigungsministerium die Gefahren ihres Einsatzes beurteilen: Kurzerhand reduzierten sie den Auslandszuschlag für Georgien pro Einsatztag von 180 auf 150 Mark - "wegen geringerer Gefährdung". Die Deutschen seien jedoch nicht des Geldes wegen hier, versicherte Jörg Rotermund, Hauptfeldwebel aus Augustdorf. "Nein, die finanzielle Seite hat mich nicht motiviert, sondern ich wollte Erfahrungen bei einem UN-Einsatz sammeln. Das ist mein Beitrag für die Menschheit." Trotzdem, die "Unterstufung" wegen angeblich mangelnder Bedrohung hat die Soldaten tief getroffen, schließlich wissen sie nur zu gut um die Gefahren. Einen politisch vielleicht nicht ganz korrekten Vergleich konnte man immer wieder in Abchasien hören: "Für den Flug des Verteidigungsministers Scharping nach Mallorca musste der Steuerzahler 100.000 Mark hinblättern, unser Geld kürzt er dagegen ohne mit der Wimper zu zucken."
Dr. Aschot Manutscharjan arbeitet als freier Journalist in
Berlin.