Interview mit Willfried Penner, Wehrbeauftrager des Deutschen Bundestages in den Jahren 2000 bis 2005
Das Parlament: Im Jahresbericht 2004 heißt es, dass die Fragen der Soldaten nach dem Sinn und Ziel ihres Auftrages zunehmen. Ist das ein Zeichen für Löcher im Konzept der "Inneren Führung"?
Willfried Penner: Es ist wahr, dass sich die Frage nach dem Sinn des Einsatzes stellt, je weniger sich der Sinn des Einsatzes für den einzelnen Soldaten offenbart. Ein Beispiel ist Afghanistan. Da bin ich der Überzeugung, dass man der Sinnfrage erhöhte Aufmerksamkeit widmen muss, weil dort der Bundeswehr-Einsatz durch Gefährdungen im Zusammenhang mit Drogenkriminalität in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Und zweitens denke ich, dass die Stärkung der regionalen, zumeist auch mit dem Drogenunwesen verwobenen Autoritäten Unsicherheiten schaffen kann, was die moralische Unterfütterung des Einsatzes der Bundeswehr angeht. Wenn Sie so wollen, ist das natürlich ein Kernelement der "Inneren Führung", dafür Sorge zu tragen, dass der Soldat bei der Erledigung dienstlicher Aufträge auch als Mitmacher begriffen wird und nicht nur als bezahlter Dienstleister, der Angelegenheiten des Staates, welcher Art auch immer, zu erledigen hat.
Das Parlament: In diesem Konzept spielt der Bereich der politischen Bildung eine besondere Rolle, und Sie sind wie das Bundesverteidigungsministerium der Auffassung, dass dieser Bereich aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss. Wie könnte ein solch reformiertes Konzept aussehen?
Willfried Penner: Die politische Bildung braucht nach meiner Überzeugung nicht so sehr strukturell überarbeitet werden. Es geht vielmehr darum, dass politische Bildung auch einen angemessenen Platz in der Ausbildung der Soldaten findet und sich nicht nur auf sparsame Vermittlung von Institutionenkunde beschränkt. Politische Bildung ist ein Vehikel zum Selbstverständnis des Staatsbürgers in Uniform und muss demzufolge bei der Bundeswehr zeitlich ausreichend Platz haben.
Das Parlament: Welche Rolle kann Ihrer Meinung nach der Wehrbeauftragte in diesem Zusammenhang spielen?
Willfried Penner: Das Gesetz formuliert es so, dass der Wehrbeauftragte tätig wird, wenn ihm Umstände bekannt werden, die auf Verletzungen der Grundsätze der "Inneren Führung" hindeuten. Die Konsequenz daraus ist, dass der Wehrbeauftragte gegenüber seinem Auftraggeber, insbesondere gegenüber dem Deutschen Bundestag, seine Stimme zu erheben hat und ihn auf bestimmte Mängel aufmerksam macht. Ganz abgesehen davon, dass er auch das Bundesverteidigungsministerium samt nachgeordneten Stellen auf Mängel aufmerksam machen kann.
Das Parlament: Das Konzept des "Staatsbürgers in Uniform" als zentraler Bestandteil der "Inneren Führung" wird in den Diskussionen um eine Reform der Bundeswehr und die neuen internationalen Herausforderungen zum Teil als nicht mehr ausreichend für die Praxis der Auslandseinsätze bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung?
Willfried Penner: Nein, diese Einschätzung teile ich nicht. Sie wird auch von einer großen Mehrheit der Soldaten nicht geteilt. Im Gegenteil: Soldaten, egal welcher Dienstgrade, die im Ausland gewesen sind, haben mich immer wieder wissen lassen, dass das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform und das Prinzip der Inneren Führung gerade dort ganz wichtig gewesen sei, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden.
Das Parlament: Und dennoch hat das Bild des "Staatsbürgers in Uniform" durch die Vorfälle in Coesfeld erhebliche Kratzer bekommen. Die Würde und Persönlichkeitsrechte der Soldaten wurden offensichtlich missachtet.
Willfried Penner: Ein noch so ideales Leitbild ist nicht vor Gefährdungen gefeit. Es ist unbestreitbar, dass es Verstöße gegen die Rechtsordnung auch in der Bundeswehr gibt. Aber das, was über Coesfeld anfänglich berichtet worden ist, konnte einer näheren Prüfung nicht standhalten. Von den 18 Soldaten, die vorläufig des Dienstes enthoben worden sind, sind 13 inzwischen wieder in den Dienst zurückgekehrt. Das bedeutet nicht, dass im Zusammenhang mit der allgemeinen Grundausbildung keine Fehler passieren. Ganz im Gegenteil. Es sind Regelverstöße passiert, denn Gefangennahme, Geiselnahme, Verhöre sind ausdrücklich als praktische Ausbildungselemente in der allgemeinen Grundausbildung verboten.
Das Parlament: Das Auffällige an den Misshandlungsfällen in Coesfeld war, dass sich keiner der Betroffenen weder bei Ihnen noch bei den zuständigen Vertrauensleuten gemeldet hat.
Willfried Penner: Wir haben einen Teil der Grundwehrdienstleistenden selbst angehört. Und dabei hat sich herausgestellt, dass sie zum einen über ihre Rechte nicht informiert waren. Zum anderen haben sie teilweise das Ganze für nicht so gravierend gehalten. Natürlich hat es den einen oder anderen gegeben, den das in besonderer Weise getroffen hat. Wiederum andere haben das als selbstverständlich im Zusammenhang mit militärischer Ausbildung empfunden. Also, das Bild ist uneinheitlich. Aber keiner der Betroffenen hat das Ereignis für so gravierend gehalten, entweder den Wehrbeauftragten direkt oder die Vertrauenspersonen einzuschalten.
Das Parlament: Sie haben zu Beginn Ihrer Amtszeit einmal gesagt, dass der Schwerpunkt der Eingaben sich nicht auf grundsätzliche Fragen konzentriert. Hat sich das gewandelt?
Willfried Penner: Nein. Es geht immer um ganz konkrete Sorgen, Nöte, Schwierigkeiten und zwar zumeist im individuellen Bereich. Es geht ganz selten um allgemeine Fragen. Dies spielt am Rande eine Rolle, wenn zum Beispiel Unteroffiziere älterer Prägung vortragen, ihre Laufbahn sei bei den Reformen in der jüngeren Vergangenheit schlecht weggekommen. Aber zumeist geht es um Darstellung von Interessen, von Sorgen im höchst eigenen Bereich. Diese sind natürlich unterschiedlich, weshalb die Berichte bei aller Bemühung um Struktur so etwas wie einen Flickenteppich darstellen. Das schließt nicht aus, dass es jedes Jahr Schwerpunkte gibt. Im vergangenen Jahr hatten wir zum Beispiel sehr viele Eingaben zum Aspekt des Auslandsverwendungszuschlags.
Das Parlament: Sie sind fünf Jahre Wehrbeauftragter des Bundestages gewesen. Inwiefern spiegelten sich die neuen Belastungen der Soldaten im Ausland in Briefen an Sie wider?
Willfried Penner: Nach meinem Eindruck der Zahl nach überraschend zurückhaltend. Natürlich erreichen uns auch Eingaben aus dem Einsatz und solche, die den Einsatz betreffen. Auch da spiegelt sich der gesamte militärische Alltag wider. Das fängt an bei unzureichender Bekleidung oder unzureichender Ausstattung mit Gerät und hört auf mit Klagen über unzureichende Kommunikationsmöglichkeiten in die Heimat. Und nicht zu vergessen, Sorgen, was die künftige Verwendung in der Heimat angeht, wenn die Soldaten hören, dass wieder eine Veränderung der Bundeswehr ins Haus steht. Also auch da wird sehr viel Konkretes vorgetragen.
Das Parlament: Solche Einsätze stellen ja nicht nur vor Ort eine Belastung dar, sondern wirken sich auch auf das familiäre Umfeld der Soldaten aus. Welche Erkenntnisse liegen Ihnen hierüber vor?
Willfried Penner: Es sind insbesondere Soldaten und Soldatinnen in jüngeren Verbindungen mit Kindern, die sich in der Vergangenheit über die Dauer des Einsatzes beschwert haben. Diese Klagen haben aber nachgelassen, weil die Bundeswehr, was die Dauer angeht, nachgesteuert hat. Trotzdem bleiben die jüngeren Soldaten mit kleineren Kindern nach wie vor eine Gruppe, die bei Auslandseinsätzen besonders, auch psychisch, gefordert wird und deshalb entsprechend betreut werden muss. Wir haben im vergangenen Jahr jedoch nur vereinzelte Eingaben zu diesem Thema bekommen.
Das Parlament: Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt in den Jahresberichten eine wichtige Rolle. Ist der Soldatenberuf mittlerweile ein Beruf wie jeder andere?
Willfried Penner: Vor allem die weiblichen Soldaten melden sich mit ihren Interessen. Und diese Interessen sind ganz klar definiert: der Wunsch, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Und wie geschieht das? Sie melden nachdrücklich Teilzeitbeschäftigung an. Zweitens: Sie möchten gerne mit dem Partner, manchmal ist es ja auch ein Soldat, familiär zusammenleben. Drittens spielt das Thema Kinderbetreuung eine zentrale Rolle. Wenn Sie so wollen, ist die Bundeswehr insoweit nicht anders als die Gesellschaft. Sie hat auf diesem Sektor ähnliche Antworten zu geben.
Das Parlament: Im Jahresbericht heißt es weiter, dass die gewaltigen Umstrukturierungen, denen die Bundeswehr seit einigen Jahren ausgesetzt ist und in der Zukunft sein wird, von vielen Soldaten als Bedrohung empfunden werden. Können Sie das erläutern?
Willfried Penner: Die Bundeswehr erlebt seit 15 Jahren ständig neue Schritte tiefgreifender Reformen. Irgendwann einmal ist die Kraft zum Mitmachen erschöpft. Deshalb habe ich einen Appell an die Verantwortlichen gerichtet, zu bedenken, dass man diese Fähigkeit seitens der Bundeswehr und der Soldaten nicht überschätzen darf. Zu einem guten Gelingen von Veränderungen gehört auch die Möglichkeit, den Betroffenen Luft zum Atemholen zu lassen. Nur so können sie wieder Kraft schöpfen, um neue Herausforderungen zu meistern.
Das Parlament: Kann sich die Bundeswehr eine solche Atempause leisten?
Willfried Penner: Ich bin der Überzeugung, dass versäumt worden ist, die notwendigen Veränderungen in der Bundeswehr schon zu Beginn der 90er-Jahre tief genug anzulegen. Das hat dazu geführt, dass die Reformen schrittweise stattgefunden haben, mit dem Ergebnis, dass jeder Schritt für sich eine weitgehende Veränderung der Bundeswehr und Soldaten mit sich gebracht hat. Das ist es, was die eigentliche Belastung ausgelöst hat. Um eine Zahl zu nennen: 1999 war die Bundeswehr über 600.000 Mann stark; sie ist in Schritten immer kleiner gemacht worden. Und im Jahre 2010 soll sie 250.000 Mann umfassen. Und dieser unaufhörliche Veränderungsprozess, der sich allein in der Reduktion der Truppenstärke zeigt, hat die Bundeswehr über die Maßen beansprucht. Nicht zu reden davon, dass sie in dieser Zeit Einsatzarmee geworden ist; nicht zu reden davon, dass sie sich in dieser Zeit für Frauen in jeder Verwendung geöffnet hat. Ich denke nicht, dass die Reformen zu spät angefasst worden sind. Ich bin aber der Meinung, dass die Reformen von Anfang an nicht konsequent genug waren, um zu verhindern, dass nicht noch weitere Reformschritte unverzichtbar sein werden. Wenn man von vornherein, nach der Wende 1989/90, gesagt hätte, wir reduzieren die Bundeswehr auf 260.000 Mann, dann wäre das ein Ziel gewesen, das man in einem Schritt, aber nicht in einem Jahr hätte zustande bringen können. So aber ist die Bundeswehr schrittweise kleiner gemacht worden: 370.000, 310.000; 280.000, 250.000. Und jeder dieser einzelnen Schritte hat bedeutet, dass die gesamte Organisation verändert worden ist. Wenn man sich ständig in diesem Veränderungsprozess befindet, ohne eine Ende absehen zu können, dann ergibt sich so etwas wie eine Ermüdung. Mich haben Soldaten angesprochen, die schon länger dabei sind: Also, jetzt beginne ja wieder eine Reform, und sie müssten mir sagen, dass verschiedene Veränderungen aus den 90er-Jahren immer noch nicht abgeschlossen sind.
Das Parlament: Eine solche Bezugnahme auf die Bundeswehr-Reform ist nur ein Beispiel. Mischt sich der Wehrbeauftragte von heute mehr in politische Entscheidungsfragen ein als noch vor 20 Jahren?
Willfried Penner: Der Wehrbeauftragte sollte sich hüten, zu sehr in die Rolle des politischen Präzeptors zu schlüpfen. Es ist seine Aufgabe, Hinweise zu geben, wo es um Probleme der Inneren Führung oder um Rechtsverletzungen geht. Aber politisch zu kommentieren, das ist nicht seine Aufgabe. Das würde den Wehrbeauftragten zu einer Institution in politischen Alltagsauseinandersetzungen machen, der er nicht gewachsen ist. Er hat ein abgeleitetes Recht nach dem Parlament und er tut gut daran, das immer zu bedenken. Sonst findet er sich nachher als Partei einmal auf der und einmal auf der anderen Seite wieder. Es ist ja sowieso nicht ganz einfach, diesem sehr abstrakten Auftrag gerecht zu werden. Es ist ja klar, dass der Wehrbeauftragte, der notwendigerweise, weil es seinem Auftrag entspricht, Kritisches vorzubringen hat, der Mehrheit damit keinen Gefallen tut. Umgekehrt muss er sich hüten, sich von der Minderheit instrumentalisieren zu lassen. Das ganze muss ein Wehrbeauftragter in seinen Widersprüchen aushalten können. Aber er darf eines nicht tun: Er darf sich nicht als selbständige Institution in der politischen Auseinandersetzung zwischen Bundestagsgruppen einerseits und der Bundesregierung andererseits verstehen.
Das Parlament: Sehen Sie im Zuge der Bundeswehrrreform auch Handlungsbedarf für das Amt des Wehrbeauftragten?
Willfried Penner: Nein, da sehe ich keinen Handlungsbedarf. Egal ob die Bundeswehr eine Freiwilligenarmee wird oder eine Wehrpflichtarmee bleibt: Die Institution des Wehrbeauftragten bleibt davon unberührt.
Das Parlament: Als Sie Ihr Amt antraten, haben Sie gesagt, Sie möchten nicht nur der Kummerkasten der Soldaten sein. Inwiefern hat sich das realisiert?
Willfried Penner: Ja, es ist wahr: Ich habe mich weder als Vater der Soldaten verstanden noch als Mutter der Kompanie. Das wäre auch etwas gewagt gewesen. Ich bin der Beauftragte des Deutschen Bundestages und habe daran auch nie einen Zweifel gelassen. Ich kann mich über das Maß an gewachsenem Vertrauen bei der Bundeswehr und den Soldaten nicht beklagen, ganz im Gegenteil. Nach fünf Jahren kann ich feststellen: Meine Interpretation des Amtes haben Bundeswehr und Soldaten verstanden. Und es hat das Vertrauen in die Institution und vielleicht in den Amtsträger sogar gestärkt.
Das Parlament: Die Zahlen der Eingaben sind in den vergangenen Jahren, im Verhältnis zur tatsächlichen Stärke der Bundeswehr überproportional gestiegen. Sehen sie darin einen Zusammenhang zu den neuen Herausforderungen, denen die Soldaten während ihrer Auslandseinsätze ausgesetzt sind?
Willfried Penner: Nein. Sicherlich machen die Eingaben, die die Auslandseinsätze betreffen, einen Teil aus. Aber sie sind nicht Schwerpunkt der Eingaben. Eindeutiger Schwerpunkt der Eingaben ist seit einigen Jahren der Themenblock Personalangelegenheiten; das sind ungefähr 30 bis 35 Prozent. Und dies hat mit den Einsätzen kaum zu tun.
Das Interview führte Claudia Heine