Verfolgung und Deportation einer Familie
Ligita Dreifelde hat seinen Bruder Viktor 47 Jahre lang nicht gesehen. In diesem Zeitraum hat sich der Aufenthaltsort der Geschwister mehrmals geändert. Beide haben Tausende von Kilometern zurück-gelegt, allerdings unter extrem verschiedenen Umständen. Zweimal legte Ligita die Route Lettland-Sibirien zurück, während Viktor aus Lettland nach Kanada übersiedelte. Ihre Lebenswege wurden in der Nacht vom 14. Juni 1941 gewaltsam getrennt, als die Familie Dreifelde in ihrem lettischen Heim vom NKWD abgeholt wurde. Nur Bruder Viktor gelang es wie durch ein Wunder, der Deportation zu entgehen.
Zu diesem Zeitpunkt war Lettland seit fast einem Jahr Sowjetrepublik, und der letzte lettische Präsident, Karlis Ulmanis, war schon lange tot. Die Dreifeldes und ihre 15.000 Schicksalsgenossen überquerten die Grenze in Viehwaggons, auf ihren Lippen das Lied "Adieu nun, liebes Livland, ich werde nicht mehr sein in diesem Land". Im März 1949, bei einer erneuten Deportationswelle, musste auch die Familie Kalniete ihre Heimat verlassen. In der sibirischen Verbannung, am Ufer des Flusses Ob, verliebten sich Aivar Kalnietes und Ligita Dreifelde ineinander.
Ihre Tochter Sandra, die Autorin des vorliegenden Buches, kam im Jahre 1952 in der sibirischen Siedlung Togur zur Welt. Später wurde sie Mitglied der lettischen Dissidentenbewegung und nach der Wende Außenministerin des Landes. Mit viel Elan begibt sie sich in den Dschungel ihrer Familiengeschichte, setzt anhand von persönlichen Erinnerungen, Aufzeichnungen, Briefen und nicht zuletzt Archivmaterialien jene Episoden zusammen, deren Protagonisten ihre Eltern und Großeltern waren.
Die Einzelheiten sind grausam und bedingt durch die Politik der Großmächte, die das Leben mehrerer Generationen in den baltischen Staaten beeinflusste. Sandra Kalnietes Großvater mütterlicherseits galt als Klassenfeind, der seinen Reichtum angeblich der "Ausbeutung der Bauern- und Arbeiterklasse" verdankte. Er starb während seiner zweiten Deportation im Winter 1941 im Lager Wjatlag. Einige Tage zuvor hatte der Sonderrat des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten der UdSSR die Anklageschrift erhalten. Der Angeklagte konnte nicht einmal seine Verbannung in "entlegene Gebiete" antreten.
Die Familie väterlicherseits erlebte die letzten Junitage von 1941 in Riga, als die deutsche Wehrmacht in Lettland einmarschierte. Im Radio wurde die lettische Nationalhymne gespielt und die Fahne des Deutschen Reiches wurde gemeinsam mit der lettischen hochgezogen. Die Ankunft der Roten Armee im Februar 1944 erlebten die Großeltern und der Vater der Autorin in ihrer Heimat. Der Großvater arbeitete als Kfz-Mechaniker an der Seite der Deutschen, wofür die Sowjetmacht ihn als "Kollaborateur" verfolgte. In der Nacht vom 13. auf den 14. November 1945 klopfte der NKWD an seine Tür. Die Verhöre waren noch grausamer als vier Jahre zuvor. Das lettische Staatsarchiv bewahrt unter anderem neun Bände über den Prozess der so genannten Ragnija-Jansone-Bande auf, deren Mitglied angeblich auch Aleksandr Kalniete gewesen sein soll.
Die Absurdität dieses Verfahrens zeigt der Umstand, dass 20 Männer der "Vereinigung der lettischen Partisanenbewegung" sich im Gerichtsaal zum ersten Mal in ihrem Leben begegneten. Großvater Kalniete wurde an den Polarkreis verbannt. Für sein "Verbrechen" mussten aber auch seine Ehefrau und sein Sohn büßen, die vier Jahre danach mit dem erwähnten Lied auf den Lippen ihr Heimatland verlassen mussten. Dass sein Sohn später heiratete und eine Tochter bekam, erfuhr der schwer kranke Mann nie.
Der Mittelpunkt der neu gegründeten Familie im Gulag war die Großmutter Milda. Da Sohn und Schwiegertochter in Schichten körperliche Schwerstarbeit leisten mussten, kümmerte sie sich um das Kind. Sie war eine starke Frau, so die Autorin: "Meine Großmama war beileibe keine Hellseherin, vielmehr war das Kartenlegen, das sie sich in Sibirien aneignete, ein notwendiges Ritual - eine Art psychotherapeutische Sitzung, die ihr die Kraft gab, der Unbill des Alltags zu trotzen."
Die Autorin Sandra Kalniete bietet den Lesern ein Lehrbuch über die Ereignisse des lettischen 20. Jahrhunderts. Persönliche Gefühle und Erfahrungen werden mit historischer Sensibilität wiedergeben: Eine fundiert recherchierte Familiengeschichte aus der Kriegszeit, über die lange nicht gesprochen werden konnte und durfte.
Sandra Kalniete
Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie.
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll.
Herbig Verlag, München 2005; 352 S., 22,90 Euro