Wie sich Deutsche, Tschechen und Slowaken an ihre Geschichte erinnern
Die Debatte um ein angemessenes Erinnern an die Vertreibungen und riesigen Bevölkerungsströme in Mitteleuropa, die der Zweite Weltkrieg in Gang gesetzt hat, zeigt: Eine gemeinsame "Erinnerungskultur" zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken ist ein hochsensibles Terrain und auch 60 Jahre danach von damaligen Befindlichkeiten durchsetzt. Doch die Erinnerung an jene Epoche des 20. Jahrhunderts lassen sich nicht auf diesen einen Aspekt reduzieren, wie es jüngste Diskussionen in der Bundsrepublik manchmal erscheinen lassen. Das Buch "Diktatur-Krieg-Vertreibung" vermittelt wertvolle Einblicke in eine über nationale Grenzen hinausgehende Bewältigung der Vergangenheit.
Der Begriff "Erinnerungskultur" taucht im heutigen öffentlichen Diskurs häufig auf. Publizisten und Forscher stellen immer wieder die Frage, wie und warum sich ihre Vorgänger an die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg erinnert haben.
So entsteht zweifelsohne ein buntes Bild, wenn die 60-jährige Evolution der Gedächtniskulturen gleich mehrerer Länder nachgezeichnet wird, wie dies im Essayband "Diktatur-Krieg-Vertreibung" geschieht. Als Christoph Cornelißen, Roman Holec und Jiri Pe¨ek nach einer Tagung in Brünn im März 2001 die Erinnerungskulturen des Raumes zwischen der ehemaligen UdSSR und der Bundesrepublik zu ihrem Forschungsgegenstand wählten, wussten sie noch nicht, wie stark die Dynamik des historischen Denkens, vor allem in den Ländern des einstigen Ostblocks, in diese Richtung hinweisen würde.
Nach der Wende schien in allen betreffenden Staaten die nahe kommunistische Vergangenheit den Diskurs zu beherrschen. Erst einige Jahre später zeigte sich, dass die Ablehnung der kommunistischen Diktatur als alleinige Legitimationsgrundlage für die neuen, demokratischen Nationalstaaten nicht ausreichte.
In eindrucksvoller Weise zeigt der Aufsatz von Jürgen Danyel die entsprechende Entwicklung des historischen Bewusstseins in der DDR, während K. Erik Franzen die Politik der bundesdeutschen Vertriebenenverbände und Andreas Langenohl die Veränderung des Bildes des Großen Vaterländischen Krieges im Russland der 90er-Jahre untersucht. Ein Essay von Milan Drápala beschäftigt sich mit den Bestrebungen der – damals noch existierenden – bürgerlichen Opposition in der Tschechoslowakei zwischen 1945 und 1948, den Hass auf alles Deutsche für die Etablierung einer kommunistischen Diktatur zu instrumentalisieren. Eher kulturpolitisch bedeutsam war demgegenüber das Phänomen der "Entheroisierung" des antifaschistischen Widerstandes in der tschechischen und slowakischen Filmkunst zur Blütezeit der ?neuen Welle“.
Die slowakische Variante der Erinnerungskultur bietet ein noch widersprüchlicheres Bild. Einerseits galt der slowakische Nationalaufstand gegen die deutschen Besatzer nach wie vor als eine in Hunderten von Denkmälern verewigte historische Tat. Andererseits mehrten sich vor allem in der zweiten Hälfte der 90er- Jahre die Versuche, den Quislingstaat von Tiso samt seiner Protagonisten zu rehabilitieren.
Auf der anderen Seite zeigten sich in Deutschland nach der Wiedervereinigung Tendenzen, die kommunistische Vergangenheit des Ostteils des Landes in einer Art Rivalitätsverhältnis zum Holocaust zu thematisieren. Obwohl dieses Vorhaben schließlich scheiterte, zeigt die neueste Debatte um die Vertreibungen Deutscher nach 1945, dass auch diese Frage nicht genügend reflektiert wurde und daher Stoff für neue Irritationen bietet. Während einerseits im Westen eine Gedenkstätte für die Opfer der Vertreibungen gefordert wird, kam es im Osten zu einem regelrechten "Denkmalkrieg" – Erinnerungen an zwei Weltkriege, diametral gegensätzliche Systeme und Nationalstaaten schienen in einem weltanschaulichen Wirrwarr aufzugehen. Dieser Trend war um so grotesker, da die meisten der betroffenen Oststaaten in der Ökonomie und Politik eindeutig den Weg in die Europäische Union suchten und mehrheitlich auch gefunden haben.
In der Artikelsammlung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission – selbst die Existenz von derartigen Gremien zeugt von einem gewachsenen Verantwortungsgefühl für die Zukunft – finden sich Beiträge von 23 Wissenschaftlern. Bei allen Versuchen, sie thematisch zu ordnen und in einen kausalen Zusammenhang zu stellen, haftet der Arbeit etwas Fragmentarisches an. Dies geben auch einige Autoren zu. So wünscht Peter Haslinger "eine europäische Ausweitung der laufenden Debatten (...), weil man nur so den besonderen Konstellationen Mittel- und Ostmitteleuropas in Vergangenheit und Gegenwart gerecht werden könne". In der Tat: Dieselben Prozesse, die zum Zerfall der ersten Tschechoslowakischen Republik führten, verdienen einen Vergleich mit denjenigen in Jugoslawien. Und die Entscheidungen, aufgrund derer die mit der NS-Diktatur kollaborierenden Staaten Slowakei und Kroatien entstanden waren, leiteten territoriale Veränderungen zwischen Ungarn und dessen Nachbarstaaten ein. Die von den Alliierten initiierte Vertreibungspolitik und der Bevölkerungsaustausch nach 1945 gehören bis heute zum Diskurs innerhalb und zwischen den Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas.
Im Grunde schwebt uns als Utopie eine gesamteuropäische oder zumindest regionale Historikerkommission vor, welche diese Fragen nun in einer breiteren Perspektive und zukunftsorientiert erörtern soll. Wir wissen wohl, dass die Geschichte nicht von Historikern gemacht wird, aber sie können ihre Kompetenz für den Abbau neuer Feindbilder und falscher Mythen, für ein besseres Verständnis der eigenen Vergangenheit einsetzen.
Es ist lobenswert, mit welchem akribischen Fleiß die Autoren ihre Themen bearbeitet haben und nicht nur über ihre Forschungsergebnisse berichten, sondern aus den Auswertungen ihrer früheren oder eben zeitgenössischen Kollegen schöpfen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann man dieses Buch daher durchaus als gelungen charakterisieren. Außerdem haben die Leser die Möglichkeit, auf weiterführende Quellen zuzugreifen.
Den Herausgebern des Bandes, Christoph Cornelißen, Roman Holec und Jiri Pe¨ek ist es gelungen, ihr Vorhaben und ihr definiertes Ziel zu erfüllen. Die Betrachtungen einzelner Autoren geben tatsächlich zahlreiche "Anstöße für die weitere Vertiefung entsprechender Fragestellungen".
Die meisten Texte setzen fundierte Vorkenntnisse oder zumindest großes Interesse an Details voraus. Leser mit geringeren Ansprüchen können einfach die Reihenfolge ändern und das Studieren in den klein gedruckten Hinweisen beginnen. Außer ihnen werden die Geschichtswissenschaft und andere Disziplinen nützliche und vor allem weiterführende Impulse finden.
Christoph Cornelißen, Roman Holec und Jiri Pe¨ek
(Hrsg.)
Diktatur-Krieg-Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945.
Klartext Verlag, Essen 2005; 500 S., 29,90 Euro