Das Mittelalter als quicklebendige Gegenwart
Da streift ein Amerikaner aus dem fernen Hawaii durch deutsche Landschaften und beweist, dass das Mittelalter selbst dann noch lebendig ist, wenn Siegfried und Kriemhild in Xanten, Plattling oder Worms nicht auf der Bühne stehen. In Siegfried vermag Hansen nur einen Langweiler zu erkennen, der allenfalls in ein Fitness-Studio passt. Empfindsame Poeten waren die Minnesänger nicht, eher umherziehende Tagelöhner. Der Thron Karls des Großen im Aachener Dom gleicht einer Seifenkiste aus Marmor; aber gleichzeitig weist der Autor darauf hin, dass Napoleon empört reagierte, als seine bessere Hälfte sich auf ihn setzte.
Diese Mischung von Respektlosigkeit und Kenntnisreichtum macht die Lektüre zum Vergnügen. Immerhin hat Hansen in Deutschland Mediävistik studiert. Auf der Suche nach der Gegenwart des Vergangenen schreckt er nicht einmal vor dem Einsatz der Hypnose zurück. Er trifft Zeitgenossen, die nach dem Hort der Nibelungen fahnden oder im Walde mit Schwertern aufeinander einschlagen; andererseits spricht er mit Schriftstellern, Museumsleuten und Professoren, um das historisch Vertretbare zu sichern.
Was immer man von den Ottonen und Kaiserin Theophanu wusste, dass die Byzantinerin Griechisch und ihr Gatte Otto II. Sächsisch sprach, hätte zur Frage führen müssen, wie das wohl zusammenging. Hansen folgt der machtbewussten Theophanu bis zu ihrem Sarkophag in St. Pantaleon in Köln und stolpert dabei über die größte Kuckucksuhr nördlich des Schwarzwaldes.
Das grandiose Lied der Nibelungen, das ein Unbekannter vor 800 Jahren im Auftrag des Fürstbischofs von Passau verfasste, steht im Mittelpunkt des vergnüglichen Bandes. Einzelheiten zu erwähnen, hieße den Spaß der Lektüre gefährden.
Am Rande knöpft sich Hansen auch unseren Vorzeigerebellen Klaus Störtebeker vor. In Verden werden in seinem Namen Brot und Heringe an die Armen verteilt; in Hamburg kippten Unbekannte das Standbild des Simon von Utrecht vom Sockel, der den Freibeuter dem Henker auslieferte; eine Punk-Band rühmte Störtebekers Rebellengeist. Hansen führt uns nach Wismar, wo der Beweis schlummert, dass 1380 zwei Bürger der Stadt verwiesen wurden, weil sie "Nicolao Stortebeker" in einer Kneipe verprügelt hatten.
Welch ein Rebell, der sich in einer Spelunke vertrimmen lässt! Zudem unterstützte der Herzog von Mecklenburg nachhaltig das Kapern der vorzugsweise mit Lebensmitteln beladenen Koggen. Als die Transportgefährdung überhand nahm, machten die "Pfeffersäcke" kurzen Prozess. Am Ende beweist die Sorgfalt des Henkers, mit der er zwei Schädel auf Bretter nagelte, dass Fakten immer schon weniger wichtig waren als die Geschichten, die darüber in die Welt gesetzt wurden.
Der berühmte Sängerkrieg auf der Wartburg, die Oscar-Verleihung des Mittelalters, fand nie statt; einen Heinrich von Ofterdingen hat es nicht gegeben. Im Sängersaal der Burg findet Hansen ein buntes Disney-Land der Romantik, ohne Heizung und ohne Fensterscheiben. Der viel besungene Herrmann von Thüringen hat auf der Wartburg keine einzige Urkunde ausgefertigt.
Hansens motorisierte "Nibelungenreise" ist ein großer Spaß. Dass Siegfried, der stolze Recke, so schlecht dabei wegkommt, hat nicht er, sondern der Verfasser des Nibelungenliedes zu verantworten. Weil er die Sagenkreise von Siegfrieds Tod und dem Untergang der Burgunder verknüpfen wollte, konnte nur Kriemhild die Heldin sein. Indes wäre Siegfrieds Ehrenrettung eine Hansens würdige Aufgabe. Gibt es doch die Wegbeschreibung eines isländischen Mönches, der 1150 nach Rom pilgerte, in der es irgendwo auf der Strecke zwischen Minden, Paderborn und Mainz plötzlich heißt: "Dort ist die Gnitaheide, auf der Siegfried den Fafnir erschlug."
Ob sich im Kampf gegen den Drachen Fafnir die Varusschlacht spiegelt, ist schon häufiger gefragt worden. Wo der Teutoburgerwald in römischen Zeiten lag, ist umstritten; mit Sicherheit hieß der Cherusker Arminius nicht Hermann. Da enge Verwandte Segimerus, Segestes und Segimundus hießen, fiele ein Siegfried-Arminius nicht aus dem Rahmen. Außerdem wurde er, wie Tacitus berichtet, von Verwandten umgebracht. Es läge nahe, Mr. Hansen zu bitten, seinen 20-jährigen Deutschlandaufenthalt ein wenig zu verlängern.
Eric T. Hansen
Die Nibelungenreise.
Mit dem VW-Bus durchs Mittelalter.
Aus dem Englischen von Astrid Ule und Cornelia Stoll.
Malik Verlag, München 2004; 364 S.19,90 Euro